Venezuela und die Operation Livia Gouverneur

Antwort auf konterrevolutionäre Gewalt

Vor einem halben Jahrhundert erhoben sich auch in Venezuela Menschen gegen das unterdrückerische Regime des damaligen Staatschefs Rómulo Betancourt. Inspiriert von der Kubanischen Revolution, die noch keine drei Jahre alt war, beschlossen fünf Oberschüler aus Caracas im November 1961, ein Flugzeug zu entführen.

Die jungen Männer, die später unter dem Namen »Los Aguiluchos « (die Jungadler) bekannt wurden, brachten eine DC-6 der Fluglinie Avensa in ihre Gewalt. Am Himmel von Caracas drehten sie ihre Runden und ließen einen dichten Regen von Flugblättern über der Hauptstadt niedergehen. Die Operation »Livia Gouverneur« hatte begonnen, benannt nach einer 20jährigen Studentin und Kommunistin, die nur wenige Tage zuvor während einer Protestaktion gegen kubanische Batista-Anhänger in Caracas ermordet worden war.

Es wurde eine der erfolgreichsten Propagandaaktionen der revolutionären Bewegung Venezuelas. Den »Aguiluchos« war bewusst, dass ihre Aktion sie das Leben kosten konnte. Nicht nur war jede Demonstration gegen das Regime verboten, die Regierung betrieb zudem eine Politik des Verschwindenlassens und der Folterungen, die oft mit der Ermordung des Verdächtigen endeten.

Revolutionäre Pflicht

Mehr als fünf Jahrzehnte später weist der Comandante der damaligen Aktion, José Rafael Bosque Figueroa, den sie Alejandro nannten, jede besondere Ehrung für seine Rolle bei der Operation zurück. Es habe sich einfach um eine Aufgabe gehandelt, die man habe erfüllen müssen: »Ich sehe die Operation Livia Gouverneur, die Besetzung der DC-6 von Avensa mit den 41 Passagieren auf dem Weg nach Maracaibo, auch heute noch als einen militärischen Auftrag an, der uns übertragen wurde und den wir diszipliniert erfüllt haben. Für mich war das eine politische Aktivität, eine direkte revolutionäre Aktion gegen das Regime von Rómulo Betancourt.« Es sei die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) gewesen, die diese Operation geplant habe, »deshalb gebührt die Ehre und Anerkennung dafür dieser revolutionären Organisation«.

Unterstützung für die Bolivarische Revolution heute

Beim Interview mit der venezolanischen Tageszeitung »Correo del Orinoco« wird Bosque von Girman Bracamonte begleitet, einem weiteren der »Aguiluchos«. Beide fordern, dass man auch Efraín León erwähnen müsse, der heute ebenfalls die Haltung bewahrt habe, die ihn damals zur Teilnahme an der Aktion gebracht habe. Der andere Aguilucho, der seinen politischen Standpunkt beibehalten habe, sei Rubén Palma gewesen, der im Mai 2011 verstarb. »Wir stehen zu unseren politischen und ideologischen Überzeugungen und unterstützen entschlossen die von Präsident Hugo Chávez geführte Bolivarische Revolution.« Antonio Palva, das damalige fünfte Mitglied der Gruppe gehört heute der Opposition an.

Fanal für politische Radikalisierung

Girman Bracamonte betont, dass die Operation Livia Gouverneur vollkommen sauber abgelaufen sei. Es habe weder Tote noch Verletzte gegeben, was das große Echo in der Bevölkerung der venezolanischen Hauptstadt noch verstärkt habe. Für Bosque war die Aktion ein positives Beispiel, das zur politischen Radikalisierung der Menschen beigetragen habe. In der Zeit danach hätten sich viele junge Frauen und Männer dem bewaffneten Kampf der venezolanischen Guerilla angeschlossen. »Vom ersten Augenblick der Operation an gab es Demonstrationen der Bewunderung, der Anerkennung und der Solidarität. Ich habe später viele Guerrilleros und Guerrilleras kennengelernt, die in die Berge gegangen sind und mir gesagt haben, dass sie durch die Aktion der Aguiluchos beeinflusst und zu ihrer Entscheidung motiviert wurden.«

Jungkommunisten gründen Gruppe

Mit Blick auf diese Zeit, in der sie sich entschlossen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, erzählen Bosque und Bracamonte: »Wir alle waren Mitglieder der Kommunistischen Jugend, einfache Oberschüler, die eine eigens für diese Operation gegründete Gruppe bildeten.«

Die neuen Aguiluchos kannten sich vorher nicht, aber schon bei ihrem ersten Treffen vor Beginn der Operation wussten sie, was sie tun sollten. Keiner von ihnen hatte je zuvor ein Flugzeug bestiegen. »Wir wussten, dass wir eine Aktion von großem propagandistischen Wert durchführen sollten, etwas außergewöhnliches, wirklich überraschendes und beeindruckendes. Mit dem Namen Livia Gouverneur wollten wir diese Studentin und Jungkommunistin ehren «, erinnert sich Bracamonte. »Sie war am 1. November ermordet worden, als sie sich an einer Aktion zur Vertreibung einer Gruppe kubanischer Batista-Anhänger beteiligte. Diese Gruppe war von der Regierung Betancourt unterstützt worden, um Kuba von venezolanischem Staatsgebiet aus anzugreifen, zu provozieren und zu beleidigen.«

Aktion gegen die Unterdrückung

»Mit unserer Aktion wollten wir erreichen, dass die Bevölkerung erfuhr, was mit Livia geschehen war«, fährt Bosque fort, »und zugleich wollten wir die sehr schwierige politische Lage anprangern, denn die Zahl der Ermordeten und Gefolterten wuchs, weil Betancourt eine Politik betrieb, die Interessen einiger weniger zu verteidigen, indem er die Mehrheit unterdrückte und ermordete.« Er sei der »Demokrat« gewesen, der gefordert habe: »Zuerst schießen und dann ermitteln.«

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Venezuela - Reportage aus der Revolution

Revolutionäre Gewalt als Antwort auf konterrevolutionären Terror

Comandante Alejandro ist auch heute noch überzeugt davon, dass das Kapern des Verkehrsflugzeugs berechtigt war: »Wir haben gegen die konterrevolutionäre Gewalt das Recht der Völker zur revolutionären Gewalt gesetzt.« Der bewaffnete Kampf der 60er Jahre sei eine Antwort auf die Angriffe auf die Volksklassen und die Morde an den revolutionären Aktivisten gewesen.

Fünfergruppen als Kampfeinheiten gebildet

Solche Kommandoaktionen, wie sie die Aguiluchos ausführten, hatte es zuvor nicht gegeben, erinnert sich Bosque. »Wir waren eine fünfköpfige Gruppe. Im Laufe der Zeit wurden diese Fünfergruppen UTC getauft, Taktische Kampfeinheiten. Durch diese Bezeichnung wollten wir das militärische Schema verstärken, das wir in den bewaffneten Strukturen, die wir gerade am schaffen waren, durchsetzen wollten.« Seit 1960 hatte es eine gemeinsame militärische Führung der PCV und der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) gegeben. »Als sie 1961 Livia ermordeten, waren viele von uns schon in den Bergen trainiert worden, um die Guerillafronten vorzubereiten, die später eröffnet wurden«, berichtet Bosque. Er sei von der Militärorganisation der PCV als Comandante der Gruppe ausgewählt worden, Antonio Paiva aus den Strukturen an der Zentraluniversität UCV gekommen und die anderen drei wurden von den Verantwortlichen der Stadtteilstrukturen der Kommunistischen Partei benannt.

In der Nacht zum 27. November, dem Tag der Aktion, wurde ihnen das Propagandamaterial und jedem eine Waffe ausgehändigt. Zum Treffpunkt fuhr jeder nach seinen Möglichkeiten mit dem Sammeltaxi oder im Autobus. Ihre Instruktionen erhielten sie dann direkt von Teodoro Petkoff, damals einer der führenden Revolutionäre Venezuelas, heute ein erbitterter Gegner von Präsident Chávez. »Er riet uns zum Beispiel, dass wir uns, wenn ein Militär unter den Passagieren gewesen wäre, uns direkt neben den zu setzen. Und wir sollten uns nicht anmerken lassen, dass wir junge Revolutionäre waren«, erinnert sich Bracamonte.

Unerfahren, aber entschlossen

In diesen angespannten Stunden vor Beginn der Aktion zeigte sich die Unerfahrenheit und mangelnde Vorbereitung der Kämpfer, die jedoch durch ihre Entschlossenheit wettgemacht wurde. »Wie auch in anderen Bereichen begannen wir in dieser Zeit erst mit der ideologischen Bildung, die bei den einen schon größer war als bei anderen. Die meisten hatten sich ihr Wissen selbst angeeignet, denn unter den jungen Kommunisten und Revolutionären gab es damals einen richtigen Hunger nach Lesestoff. Wenn unsere Bildung also noch nicht systematisch war, so war sie doch ziemlich fest«, erzählt Bosque. »Wir waren längst für die Idee gewonnen, eine gerechte, sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der es keine Ungleichheit mehr gäbe.«

Flugzeug gekapert

Bosque erzählt weiter: »Mit den Koffern voll Propagandamaterial in der Hände kamen wir zum Flughafen Maiquetia. Wir kauften die Flugscheine und gingen an Bord. Wir waren gerade gestartet, da teilten wir dem Piloten mit, wer wir waren und während wir ihm die Pistole an den Kopf hielten, befahlen wir ihm, das Flugzeug nach Caracas zu lenken, damit wir die Flugblätter aus der Luft abwerfen konnten. Die Maschine flog über Catia nach Caracas ein, drehte drei Runden von dort nach Petare. Über dem Zentrum sanken wir bis auf eine Höhe von 500 Metern ab. Wir konnten die Menschen sehen, die überrascht dem Flugzeug nachsahen.«

»Wir befahlen dem Piloten, langsamer zu werden, um einen Ausgleich zwischen dem äußeren und inneren Druck zu erreichen und die Fenster öffnen zu können«, erinnert sich Bracamonte. »Gut, dass man uns das vorher erklärt hatte, denn die Besatzung hätte das nicht getan. Als die Luft hereinströmte, wirbelte sie die Flugblätter auf und alles flatterte durch die Kabine Es war soviel Papier, dass schließlich sogar der Pilot, Juan Knoll Cárdenas, uns helfen musste, die Propaganda abzuwerfen. « Später erfuhren die Aguiluchos, dass unter den von ihnen entführten Passagieren auch ein bekannter kubanischer Batista-Anhänger war, der aus Miami gekommen war, sich aber nicht rührte.

Curacao statt Kuba

Nach dem Ende der Aktion und als das Flugzeug und die Passagiere wieder frei waren, erklärte der Pilot, dass die jungen Männer nach Kuba fliegen wollten, er habe sie aber abgelenkt, so dass sie schließlich in Curacao landeten. »Das war falsch«, empört sich Bosque heute noch. »Wir wollten nicht nach Kuba, davon war nie die Rede, und davon haben wir an Bord auch nicht gesprochen. Die Entscheidung war, nach Curacao zu fliegen.«

Die Verhaftung

Und so geschah es. In Curacao umstellte die niederländische Armee das Flugzeug. Die Soldaten der europäischen Kolonialmacht legten den jungen Revolutionären Handschellen an und verboten ihnen, mit irgendjemandem zu sprechen. Auch untereinander durften sie sich nicht unterhalten. »Wir sahen in der Nähe einige Journalisten«, erinnert sich Bosque. »Ich hatte eine schriftliche Erklärung, und als wir nahe an ihnen vorübergingen, versuchte ich, sie herauszuziehen, um sie ihnen zuzuwerfen. Aber mir wurde ein so schwerer Schlag versetzt, dass mir das Papier aus der Hand fiel. Die anderen vier Aguiluchos wurden in ein Festungsgefängnis gebracht und ich in eine Polizeiwache, wo ich isoliert wurde. Wir blieben fünf Tage in Curacao.«

Bosque weiter: »Sie verhörten uns, wer der Chef der Gruppe sei, und ich meldete mich. Sie brachten mich in das Gefängnis, wo die anderen waren, setzten mich in ein Büro, und dann kam erst ein Genosse durch die Tür und später ein anderer, damit sie mich und ich sie identifizierte. Efraín León betrat den Raum, während er seine Hose festhalten musste, weil sie ihm den Gürtel abgenommen hatten. Auf die Frage, ob wir uns kennen würden, antwortete er mit Nein. Um das Offensichtliche zu leugnen behauptete er: Nein, den kenne ich nicht. Die Antwort: Was soll das heißen, du kennst ihn nicht. Seid ihr nicht mit dem Flugzeug gekommen ? Es gab ein richtiges Gelächter.«

»Das war der Tonfall, mit dem wir auf sie eingegangen sind«, erinnert sich Bracamonte. Sie ließen uns fünf keinen Augenblick alleine. Den uns verhörenden Offizier nannten wir Papa Ramos. Er fühlte sich dadurch beleidigt und wurde fuchsteufelswild. Er fragte uns, woher wir das Geld für die Flugscheine und das Propagandamaterial gehabt hätten, und wir sagten ihm, wir hätten die Leute auf der Straße darum gebeten und sie hätten es uns gegeben. Und die Waffen ? Die haben wir auch in den Armenvierteln bekommen, sagten wir ihm. Wir haben ihn so richtig auf den Arm genommen.« Und schmunzelnd erzählt Bracamonte weiter: »Wir benutzten Decknamen, aber wir hatten unsere Personalausweise in der Hand, und deshalb mussten wir lachen, ganz spontan. Es war nicht, weil wir nervös waren oder weil wir sie provozieren wollten.« Aber eigentlich war ihre Lage ernst. »Dort war ein Mann von der CIA, der sagte, er sei von Interpol. Er schnitt die Zeitungen aus und sagte, in Caracas sei ein weiterer Agent dabei, dasselbe zu tun.«

Der Chef der damaligen venezolanischen Geheimpolizei Digepol, Erasto Fernández, flog selber nach Curacao und brachte die fünf persönlich in Handschellen zu ihren Sitzen in dem Flugzeug, das sie zurück nach Venezuela brachte. »Wir erreichten Barcelona und dort steckten sie uns ins Loch, aber wir wussten nicht, wo wir waren«, erinnert sich Bosque. »In einer Sardinendose versteckt erhielten wir eine Solidaritätsbotschaft, die in einem Plastikheftchen versteckt war. Das freute uns sehr. Wie jeder Gefangene dachten wir, dass sie uns mitteilen würden, wann unsere Befreiung sein würde, aber diese Nachricht kam nie.« Doch von ihren Genossen wurden die fünf nicht im Stich gelassen: »Die Partei stellte uns 15 der besten Verteidiger: Juan Rafael Perdomo, Ada Ramos, Roberto Hernández, Raúl Domínguez, Gloria Mata und andere.«

Die Freilassung in die Phase der Repression

Freigelassen wurden sie schließlich 1966, nachdem sie ihre Strafen verbüßt hatten. Noch heute erinnern sie sich an das Gefühl, wieder frei zu sein. »Aber sie ließen uns mitten in einer großen Repressionsphase frei. Unsere Comandantes waren entweder tot oder inzwischen in anderen Organisationen. Wir konnten nicht auf unsere Positionen im bewaffneten Apparat zurückkehren«, stellt Bosque fest. »Heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, sind wir genauso zufrieden wie damals, als wir 20 Jahre alt waren, dass wir in jenem historischen Augenblick für eine gerechte Sache gehandelt haben«, verabschiedet sich Bosque zum Ende des Interviews.


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CUBA LIBRE 1-2013