Venezuela im Klassenkampf

Cuba Libre hatte die Gelegenheit, ein Interview mit Dr. Carolus Wimmer über die aktuelle Lage in Venezuela und Lateinamerika zu führen.

CL: Wie schätzt du die aktuelle Situation in Venezuela ein?

Carolus Wimmer: Wir in Venezuela befinden uns weiter in einem typischen Klassenkampf. in dem die USA und ihre europäischen Alliierten versuchen, die alte Idee von Lateinamerika als Hinterhof der USA wieder durchzusetzen. Das Volk und die Streitkräfte Venezuelas verteidigen seit 18 Jahren die politische bolivarische Revolution erfolgreich, leiden aber gleichzeitig unter der Blockade, der Sabotage und der Unterstützung der Rechtsradikalen und paramilitärischen Kräfte durch die USA und der Androhung des offenen Krieges, wie sie schon von Obama und nun persönlich von Trump ausgesprochen wurde.

CL: Wie schätzt du die Constituyente ein?

Carolus Wimmer: Die am 30. Juli gewählte verfassungsgebende Versammlung hat die entscheidende Aufgabe, zum ersten Mal die bestehende fortschrittliche Verfassung von 1999 den heutigen Ansprüchen der Revolution anzupassen, d. h. die Verteidigung des Erreichten, des Positiven in der Verfassung. Zweitens müssen gewisse Bereiche demokratisch und klassenbewußt vertieft werden. Zu nennen sind dabei insbesondere folgende Punkte: das Arbeitsrecht und die Verankerung der Kommunalen Selbstverwaltung, die Ausweitung der Rechte für Frauen und Jugend und der indigenen Völker sowie die Festschreibung der Volksmiliz in der Verfassung usw.

In der verfassungsgebenden Versammlung wurde speziell beachtet, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen, die ansonsten wenig Zugang haben zu politischen Entscheidungen (z. B. Studenten, Bauern, Behinderte, Indigene), in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

CL: Wer sind die treibenden Kräfte der sogenannten Opposition?

Carolus Wimmer: In Venezuela gibt es keine „demokratische“ Opposition, sondern seit 18 Jahren versuchen die Parteien des alten Systems, durch konterrevolutionäre Akte die Regierung zu stürzen. Sie werden insbesondere von den privilegierten Mittelschichten unterstützt oder von Menschen, die sie durch demagogische Versprechen gewannen, wie bei ihrem Wahlerfolg vor zwei Jahren.

CL: Die Aktivitäten gegen die venezolanische Regierung scheinen nicht nur gegen diese und das venezolanische Volk gerichtet zu sein. Ich denke dabei z. B. an die Ermordung eines kubanischen Arztes, der medizinische Hilfe in einem Gesundheitszentrum in Caracas leistete ...

Carolus Wimmer: Die USA, die eben auf demokratischem Wege das Volk nicht bezwingen konnten, setzten immer mehr paramilitärische, faschistische Gruppen ein. Das Ziel ist nicht nur ein Regierungssturz in Venezuela, sondern auch, die ganzen Solidaritäts- und Integrationsprozesse in Lateinamerika und der Karibik zu zerstören. Denn Fidel und Chavez initiierten erfolgreich den Integrationsprozess der ALBA-Länder.

CL: Trump hatte im Juli Sanktionen angedroht, was nicht nur eine unzulässige Wahlbeeinflussung war, sondern auch die Lage im Land verschärfen würde. Welche Auswirkungen hätten Sanktionen oder ein Rollback in Venezuela deiner Meinung nach aber für Kuba, das intensive politische, wirtschaftliche und Handelsbeziehungen zu Venezuela unterhält?

Carolus Wimmer: Seit 18 Jahren leidet das venezolanische Volk unter Sanktionen, die aber aufgrund des politischen Bewusstseins der Menschen und der Streitkräfte die Bevölkerung nicht brechen konnten, sondern deren antiimperialistische Haltung nur verstärkte. Wir sind sicher, dass die Regierungen von Venezuela und Kuba – wie es vom kubanischen Präsidenten Raul Castro Ruiz persönlich bestätigt wurde – die revolutionäre Solidarität und Kooperation trotz Schwierigkeiten weiter führen werden, weil auch die Klarheit besteht, dass der Imperialismus nur durch Einheit und Solidarität besiegt werden kann.

CL: Was hieße dies für die Integrationsprozesse in Lateinamerika, deren wesentlicher Motor Kuba und Venezuela waren?

Carolus Wimmer: Das Ziel der USA ist zweifellos, ihren Hinterhof wieder unter Kontrolle zu bringen, d. h., alle Unabhängigkeitsprozesse zu zerstören – was kurzfristig durch die Staatsstreiche in Honduras, Paraguay und Brasilien erreicht wurde.

CL: Welches sind die dringendsten Maßnahmen, die die venezolanische Regierung ergreifen müsste, um einen Sieg der konterrevolutionären Opposition zu verhindern?

Carolus Wimmer: Die Regierung muss fort fahren mit der Verwirklichung der partizipativen Demokratie. Das heißt, sie muss zur Lösung der Probleme die Arbeiterklasse, die Lohnabhängigen und andere Sektoren der Bevölkerung mit in die Diskussion und Entscheidung einbeziehen. Zweitens: Es müssen tiefgreifende revolutionäre Maßnahmen getroffen werden, die die Produktionsverhältnisse verändern – z. B. wie von der PCV gefordert durch die Gründung von Arbeiterräten in allen Fabriken.

Zum anderen ist es wichtig, dass speziell die Medienfrage aufgegriffen wird, damit – wie in der Verfassung verlangt – eine wahrheitsgemäße Information des Volkes passiert. Auch dazu müssen revolutionäre Maßnahmen getroffen werden. Die PCV fordert die Schließung der Medien, die faschistische oder konterrevolutionäre Inhalte aussenden.

CL: Was sind in dieser Situation die Aufgaben der fortschrittlichen Kräfte in der BRD? Wie kann unsere Solidarität konkret aussehen?

Carolus Wimmer: Alle Informationen in der bürgerlichen Presse äußerst kritisch hinterfragen! Die Wirklichkeit wird dort im Interesse der großen Konzerne und imperialistischen Regierung wiedergegeben.

Neben der politischen Solidarität wäre auch die materielle Solidarität für das venezolanische Volk nötig. Dazu wäre es hilfreich, wenn es da einen bundesweiten Verein gäbe, der das in die Hand nimmt.


CUBA LIBRE Das Interview führte Marion Leonhardt

CUBA LIBRE 4-2017