»Probleme zu leugnen ist nicht der beste Weg«

Nach rechten Wahlerfolgen in verschiedenen Ländern steht Lateinamerikas Linke am Scheideweg. Gespräch mit Luis Sepulveda.

Luis Sepulveda ist ein linker chilenischer Schriftsteller und Journalist


Das Jahr 2015 war eines der Wahlen in Lateinamerika, das vor allem durch die Rückkehr der Rechten in den beiden Schlüsselländern Argentinien und Venezuela gekennzeichnet war. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche politische Situationen. In Argentinien hat Mauricio Macri die Präsidentschaftswahlen mit einem destruktiven Kurs gewonnen. Es läuft darauf hinaus, alle Errungenschaften von Cristina Fernández de Kirchner und Nestor Kirchner abzuschaffen und eine neoliberale Regierung nach chilenischem Vorbild zu installieren. Verantwortlich für Macris Triumph ist die mangelnde Einheit der Linken.

In Venezuela hat die putschistische und nicht-putschistische Rechte bei den Parlamentswahlen gesiegt. Dort geht es jetzt um die Fähigkeit und die Glaubwürdigkeit von Nicolás Maduro. Selbstverständlich ist Maduro nicht Chávez. Er besitzt nicht dasselbe Charisma und war nicht in der Lage, den von Chávez eingeschlagenen Weg vor dem Hintergrund einer Krise wirkungsvoll weiterzugehen, die vor allem durch den drastischen Verfall des Ölpreises gekennzeichnet ist. Die Probleme im Namen der Revolution zu leugnen ist nicht der beste Weg. Macri hat in Argentinien die Mütter der Plaza de Mayo bedroht und den Unterdrückern der Militärdiktatur Straffreiheit versprochen. Fürchten Sie als Opfer des Pinochet-Regimes eine Kehrtwende beim Thema Menschenrechte?

Die Maßnahmen der Regierung Macri sind besorgniserregend. Sie stellen für die argentinische Gesellschaft einen enormen Rückschritt dar. Einige Verbrecher, die auf ihre Verurteilung warten, wurden bereits freigelassen. Die Abwertung der Landeswährung Peso hat zu einem starken Preisanstieg geführt, von der Senkung der Renten gar nicht zu reden. Jene 51 Prozent der Argentinier, die für Macri gestimmt haben, werden viel Anlass zum Nachdenken bekommen.

2015 war auch ein schwieriges Jahr für Brasiliens Staatschefin Dilma Rousseff – aufgrund der Schwäche der Arbeiterpartei (PT) oder wegen der Manöver der Rechten?

Beides. Ich habe den Eindruck, dass es an einer scharfen Selbstkritik der brasilianischen Linken fehlt. Die Probleme abzustreiten, kann nicht das einzige sein, was ihnen einfällt.

Von Brasilien bis Chile, von Argentinien bis Guatemala, in ganz Lateinamerika rückt das Thema Korruption in den Mittelpunkt; das zeigt aber auch den politischen Einsatz der Justiz auf innen- und außenpolitischer Ebene. Wie sehen Sie das?

Lassen wir uns nicht täuschen! Nur in zwei Ländern Südamerikas gibt es Regierungen, die von meinem Standpunkt aus als links betrachtet werden können: in Bolivien und Ecuador. Obwohl sie Teil der globalisierten Welt sind, das heißt einer Ökonomie, die von den Auflagen des Marktes und der Finanzlobbys bestimmt wird, verteidigen allein in Ecuador und Bolivien die Regierungen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung. In den übrigen Ländern hat die Fähigkeit zur Korrumpierung, die die großen multinationalen Konzerne besitzen, alle Exekutiven geprägt und pervertiert. Dennoch gibt es eine Linke, die Widerstand leistet, wie zum Beispiel in Chile, und die versucht, den Regierenden Moral und Ethik beizubringen.

Die USA bedrohen durch das transpazifische Handelsabkommen TPP die neuen solidarischen Bündnisse ALBA, Mercosur und Unasur. Wird Lateinamerika wieder zum Hinterhof der USA?

Die ganze Welt ist der Hinterhof der großen Aktiengesellschaften, die nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer Hinsicht die Macht innehaben. Abkommen wie TPP sind ein Beweis für die enorme Macht der großen multinationalen Konzerne. Bereits 1971 beklagte Salvador Allende vor der UN-Vollversammlung den wachsenden Einfluss der Konzerne, die in der Lage sind, die Macht der Staaten im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich zu übertrumpfen. Heute erleben wir, wie zu Lasten der Bürger unter großer Geheimhaltung verfasste Verträge durchgesetzt werden, wie es aktuell mit dem Handelsabkommen zwischen der EU und den USA, TTIP, geschieht. Das ist ein Vertrag, der die Schaffung einer parallelen juristischen Gewalt neben der staatlichen vorsieht und der die Staaten im Falle sozialer Veränderungen dazu zwingt, für die möglichen Verluste der Großkonzerne aufzukommen.Interview: Geraldina Colotti Übersetzung: Andreas Schuchardt.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

junge Welt


Dieser Artikel wurde ermöglicht
durch die Abonnnentinen und Abonennenten
der jungen Welt
Dein Abo fehlt

Interview: Geraldina Colotti, Übersetzung: Andreas Schuchardt
Junge Welt, 14.01.2016