Castros schwerster Kampf: Die cubanische Perestroika

Statt Sozialismus oder Tod: Von China lernen heißt siegen lernen?

Kuba Schuhmacherinnen 1993
Die Prognose sei gewagt: Weder die ExilcubanerInnen noch die interne Opposition, sondern die Kommunistische Partei Cubas (PCC) wird die bestimmende politische Kraft der nächsten Jahre bleiben und die Karibikinsel in den kapitalistischen Weltmarkt integrieren. Zwar läßt sich nicht vorhersagen, welche Auswirkungen die zahlreichen Reformen der letzten Monate haben werden; die PCC erweckt aber den Eindruck, daß sie trotz der immensen Schwierigkeiten handlungsfähig und nach wie vor der beste Garant für einen sozial abgefederten Übergang zu einer gemischten Wirtschaft ist, in der viele Menschen aus dem geregelten Produktionsprozeß herausfallen werden.

Die schrittweise Einführung marktwirtschaftlicher Elemente ohne repräsentativ-demokratische Legitimation erinnert manche BeobachterInnen an das chinesische Modell. Doch dieser Vergleich soll hier nicht vertieft werden. Vielmehr wird der beginnende cubanische Transformationsprozeß nachgezeichnet und auf mögliche Auswirkungen hin untersucht.


Die Jahre 1989 bis 1992 waren vor allem durch Versuche geprägt, den Außenhandel neu zu organisieren, die Exportproduktion zu erhöhen und ausländisches Kapital in Land zu ziehen (Tourismus, Erdöl, Nickel usw.). Ökonomische Reformen in den Bereichen der Konsumgüterindustrie, der landwirtschaftlichen Produktion, der Geldstabilität und der privaten Dienstleistungen waren, offiziell zumindest, kein Thema. Das katastrophale Ergebnis der diesjährigen Zuckerernte (zunächst bekanntgegebenes Defizit von 450 Mio. Dollar) hat alle Hoffnungen zunichte gemacht, durch Exporterlöse Impulse für den Binnenmarkt auszulösen. Weitere Rückschläge bestanden in Preiseinbrüchen bei Nickel, Langusten und Garnelen sowie in "Jahrhundertunwettern" im März und Juni. Die Verantwortlichen reagierten darauf mit einer Reihe von Maßnahmen, die eine Abkehr von bisher gültigen Grundsätzen darstellen. Grundlegender wirtschaftlicher Wandel bei größtmöglichem Erhalt sozialer Errungenschaften – das ist der kleinste Nenner, mit dem sich die Entwicklung der vergangenen Monate beschreiben läßt.

4,2 Mio. Tonnen – das war die schlechteste Zuckerernte seit 1963. Wie konnte es dazu kommen? Statt der benötigten 800.000 Tonnen Dünger standen nur 120.000 zur Verfügung. Auch andere wichtige Hilfsstoffe konnten nur zu einem Drittel der benötigten Menge eingesetzt werde: Diesel und Benzin, Herbizide, Reifen, Ersatzteile für die Fabriken und landwirtschaftliche Maschinen, Batterien. Der Winterhurrikan vom 13. März verursachte weitere schwere Schäden auf den Feldern. Die geernteten 4,2 Mio. Tonnen wurden vorrangig dazu eingesetzt, um die "Öl gegen Zucker"-Vereinbarungen mit Rußland zu erfüllen. Lieferverträge mit dem Iran, Südkorea, Marokko, Kasachstan, China (700.000 Tonnen), Kanada und Japan konnten hingegen z.T. Nicht erfüllt werden. Ende Juli gab José Luis Rodríguez, stellvertretender Direktor des Centro de Estudios sobre América (CEA), bekannt, daß die schlechte Ernte durch gestiegene Weltmarktzuckerpreise praktisch ausgeglichen worden sei. (Latin American Weekly Reprt, 29.7.93). Dennoch wird das Importvolumen für 1993 mit 1,7 Mrd. Dollar einen neuen Tiefststand erreichen (1992: 2,2 Mrd.; 1989: 8 Mrd., ND 31.8.93). Das sind 450 Mio. Dollar weniger als für dieses Jahr vorgesehen.

Perestroika Cubana:
Ausweg aus der Krise?


Auf den Schock der katastrophalen Zuckerernte reagierte die cubanische Regierung Ende April zunächst mit Restriktionen. Wegen des anhaltenden Energiemangels wurde die Kapazität des öffentlichen Nahverkehrs der Hauptstadt um zwei Drittel verringert. Mit Hilfe eines Arbeitsplatzverschiebungsplan sollte der Transportbedarf vermindert werden. Nur wer zu Fuß oder mit dem Rad zu seiner Arbeitsstelle gelangt, dürfe dort weiter beschäftigt werden. Die anderen seien auf Arbeitsplätze in der Nähe der Wohnung umzusetzen oder mit 60-70 Prozent des Lohnes nach Hause zu schicken. Die Altersgrenze für den freiwilligen vorzeitigen Ruhestand wurde für Frauen auf 50 Jahre (bisher 55) und für Männer auf 55 Jahre (60) gesenkt. Hierbei werden 60 Prozent der bisherigen Bezüge ausgezahlt (El Pais, 1.5.93)

Für ein neues ökonomisches Lenkungssystem
Aus der Analyse des CEA


Ende 1992 legte das cubanische Centro de Estudios sobre América (CEA), das als Berater der Kommunistischen Partei fungiert, eine Untersuchung (158 Seiten) über die gegenwärtige wirtschaftliche Lage vor. Darin heißt es u.a. "Wenn Cuba eine effiziente Wirtschaft aufbauen möchte, dann muß die Castro-Regierung auf dem schnellsten Weg ein neues ökonomisches Lenkungssystem einführen." Folgende Schwachstellen der Ökonomie müssen durch eine neue Strategie überwunden werden: Ineffizienz in der Produktion, Unterbeschäftigung, der Schwarzmarkt sowie die schwerwiegenden Ungleichgewichte im staatlichen Haushalt und im Außenhandel. Als Ursache für die schweren Einbrüche in Produktion und die makroökonomischen Ungleichgewichte werden drei Faktoren genannt.

1. Der Zusammenbruch der Wirtschaftsbeziehungen zu den westlichen Staaten. Dies zeigt sich zum einen im Rückgang de Exporteinnahmen von 8.139 Mrd. Dollar im Jahr 1989 auf 2,2 Mrd. Im Jahr 1992. Zum anderen blockiert die Außenschuld (6,5 Mrd. Dollar) die seit 1986 von Cuba nicht mehr bedient wird, den Zugang zu neuen Krediten. 2. Das Ende der vorteilhaften ökonomischen Beziehungen zum sozialistischen Block. 3. Der Effizienzverlust der internen Ökonomie: War in der ersten Hälfte der 80er Jahre aus jedem investierten Peso noch eine Produktionsleistung von 53 Centavos herausgekommen (1 Peso = 100 Centavos), so sank dieses Verhältnis in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf 2 Centavos je investiertem Peso. Dies läßt sich u.a. darauf zurückführen, daß der größte Teil der staatlichen Investitionen in nichtproduktive Sektoren (Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungswesen) geflossen ist. Als weitere Schwachstelle erweist sich die extreme Importabhängigkeit der nationalen Industrie. Da Rohstoffe, Ersatzteile und Zwischenprodukte gegen Devisen eingeführt werden müssen, hängt die Produktionsleistung unmittelbar von den Exporteinnahmen des Staates ab.

Der mercado negro, so das CEA weiter, solle differenziert betrachtet werden Gegen Veruntreuung, Unterschlagung, Diebstahl und Spekulation müsse hart vorgegangen werden. Andererseits gäbe es Schwarzmarktsektoren, die geeignet seien, die schwierige Versorgungslage der Bevölkerung zu erleichtern. Diese gelte es aus der Illegalität herauszuholen, indem das "Arbeiten auf eigene Rechnung" gestattet wird. Die "Privatinitiative auf kleiner Flamme" solle zugelassen, in feste Formen gefaßt und steuerlich abgeschöpft werden.

Weiter schlägt das CEA vor, die Importe drastisch zu verringern, um das Handelsbilanzdefizit in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus soll mit den kapitalistischen Staaten über eine Wiederaufnahme des Schuldendienstes verhandelt werden, um Zugang zu neuen Krediten zu bekommen. Der Peso müsse konvertibel gemacht werden, damit Staatsausgaben, Zuschüsse zu den joint ventures und überhaupt alle internen Ausgaben richtig erkannt und bemessen werden können. Schließlich müsse ein gut fundiertes und kontrolliert durchgeführtes Investitionsprogramm aufgelegt werden, das auf Betriebsebene von einem neuen Leitungssystem begleitet wird, mit dem ein effizienteres arbeiten garantiert wird. "Es darf nicht so sein, daß allein die joint ventures effizient und dynamisch auftreten, während die staatlichen Betriebe als zurückgeblieben und mit allen Mängeln des alten Systems behaftet erscheinen." Wie das mehrfach geforderte neue ökonomische Leitungssystem konkret aussehen soll, erfahren wir nicht. Die Regulationen, denen die verschiedenen ökonomischen Sektoren unterworfen sind, müssen "auf organische Weise" völlig neu bestimmt werden: Eigentumsverhältnisse, das richtige Maß von Autonomie und Unterordnung der Betriebe, der Charakter der Planungswirtschaft und die Bereiche, in denen sie noch angewendet werden soll, das Bankenwesen, das Normensystem, die Preisbindungsmechanismen, das Lohn- und Gehaltsgefüge usw. Reformen in diesen Bereichen, so endet die Studie, müßten so schnell wie möglich eingeleitet werden.

Doch neben diesen eher hilflos anmutenden Maßnahmen wurden von der Regierung ohne begleitende öffentliche Diskussion Reformen vorbereitet, die die cubanische Gesellschaft nachhaltig verändern werden. Die Grundlage dazu wurde offensichtlich vom cubanischen Centro de Estudios sobre América (CEA) erarbeitet, das Ende 1992 eine Untersuchung vorlegte (siehe Kasten), in der die Schwächen der cubanischen Wirtschaft klar benannt und Reformvorschläge unterbreitet wurden.

Anfang Juli wurde mit der Umsetzung begonnen. Zunächst erfuhren die Parteikader, daß eine Entkriminalisierung des Devisenbesitzes bevorstehe. Castro wies darauf hin, daß dafür ein hoher politischer und sozialer Preis (soziale Differenzen der Gesellschaft, Privilegien für wenige) zu zahlen sei, daß aber keine Alternative dazu bestünde. Am 16.7. kündigte Vizepräsident Carlos Lage vor ausländischen Geschäftsleuten die unmittelbar bevorstehende Aufhebung des Verbots an. (L.A. Weekly Report, 29.7.93)

Die Legalisierung des Dollarbesitzes soll nach dem "Inter-Shop-Prinzip" eine zusätzliche Einnahmequelle für den Staat eröffnen. Neben der Abschöpfung der illegal im Lande zirkulierenden Dollarmenge sollen Exilcubaner ermutigt werden, verstärkt Devisen an ihre Verwandten auf der Insel zu schicken. Die USA gestatten zwar bisher lediglich die Überweisung von 900 Dollar pro Jahr und Person (nach anderen Angaben 1.200 Dollar), aber schon dadurch gelangen jährlich etwa 300 Mio. Dollar auf die Insel. Optimisten gehen davon aus, daß sich diese Zahl auf 1 Mrd. Dollar jährlich erhöhen könnte. Ein Teil davon wird zukünftig als Staatseinnahmen zu verbuchen sein, da diese Gelder jetzt in den Dollarshops umgesetzt werden können (FR, 11.9.93) In dieselbe Richtung zielt auch die Erhöhung der Zahl der Einreisevisa für ExilcubanerInnen von 90 auf 500 je Woche. Erste Meldungen (ND, 3.8.93) sprachen von einem regelrechten Ansturm auf die Flugtickets.

War zunächst von Tausenden von CubanerInnen berichtet worden, die sich vor den Devisenläden der Hauptstadt stauten, (ND, 31.7./1.8.93), so wurde die Freude über die neuen Konsummöglichkeiten allerdings sogleich getrübt, als "Cubalse", der Betreiber der Dollarshops, sämtliche Preise um 50 Prozent erhöhte. Wie sich das künftige Nebeneinander von mindestens drei Märkten (Dollarshops, Schwarzmarkt und Bezugsscheinsystem) weiter entwickeln wird, ist ungewiß. Wahrscheinlich werden viele Waren aus den Dollarshops auf dem Schwarzmarkt landen, wo sie mit Gewinn an diejenigen weitergereicht werden, die über keine eigenen Dollareinkünfte verfügen. Welche Auswirkungen die Dollarfreigabe auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse haben wird, ist ebenfalls schwer vorhersehbar. Durchschnittliche Monatseinkünfte von 300 Pesos (inoffiziell 6 Dollar) können viele CubanerInnen dazu bewegen, ihre regulären Jobs aufzugeben und in die Grauzone der Dollarjäger einzutauchen. Castro-feindliche BeobachterInnen wie der Korrespondent der Neuen Züricher Zeitung (28.7.93) oder Rita Neubauer (FR, 29.7. und 11.9.93) hoffen, daß mit dem Wegfall des staatlichen Arbeitsmonopols auch die angeblich damit verbundene politische Kontrolle über die Bevölkerung ins Wanken gerate und der Umsturz damit beschleunigt werde. Schwerwiegender erscheinen mir die möglichen Auswirkungen und diejenigen, die bisher loyal zum Staat standen und sich nicht an der Jagd nach Devisen beteiligt haben. Ihnen muß es wohl jetzt so erscheinen, daß sich Schwarztausch, illegaler Verkauf von Zigarren, Rum etc. und Prostitution letztlich doch ausgezahlt haben. Sie selber hingegen sind, was die Konsumseite angeht, die Gelackmeierten. Besonders gefährlich kann sich dieses Problem in der Staats- und Parteibürokratie auswirken. Weil die dort Beschäftigten keine legalen Zugriff auf Dollars haben, wird die Korruption möglicherweise stark zunehmen. Die wiederum würde dem ansehen der PCC in der Bevölkerung schweren Schaden zufügen.

Binnenmarktstimulation, Landwirtschaftsreform und joint ventures

Die Dollarfreigabe war jedoch nur der Auftakt zu weitergehenden Reformen. Per Gesetz erlaubt ist seit dem 9. September die Gründung privater "Ein-Mann-Unternehmen" in den Bereichen Handel, Dienstleistungen und Handwerk. Kriterium für die Zulassung ist die "Nützlichkeit für die Bevölkerung". Gedacht ist an Schuhproduktion, Brillen- oder Uhrenreparatur oder an den Betrieb von Pferdekutschen. (ND, 12.10.93) Insgesamt sind über 100 Berufsgruppen definiert worden. Staatsangestellte und Akademiker dürfen sich nicht selbständig machen. Medizinische Dienstleistungen und das Bildungswesen bleiben ebenfalls staatliches Monopol. (FR, 11.9.93) Den Selbständigen wird es nicht erlaubt sein, Personal einzustellen. Zu den zugelassenen Tätigkeiten zählt auch das Ernten und der Verkauf landwirtschaftlicher Produkte. Dies kommt einer Legalisierung des Schwarzmarktes für Lebensmittel gleich. Erwartet werden eine Verbesserung des Warenangebots und ein niedrigeres Preisniveau der nun nicht mehr illegal angebotenen Waren (LAWR, 29.7.93)

Das vor fünf Jahren eingeführte programma alimentario (pa), das die landwirtschaftliche Produktion stimulieren sollte, hat sich offensichtlich als Fehlschlag erwiesen. Leo .Burghardt (ND, 28.7.93) charakterisiert die Schwachstelle so: "Die Bauern müssen weiter auch anbauen, was in diesem Klima schnell verdirbt (Kopfsalat z.B.) oder von den Cubanern nicht angenommen wird (Mohrrüben etwa). Für ein ordentliches Angebot fehlt es an Fahrzeugen, an Treibstoff, an Kühlanlagen und bei den mit mageren Festgehältern entlohnten angestellten der Staats- und Genossenschaftsbetriebe meist auch am Antrieb, etwas über die ohnehin eigenmächtig stark verkürzte Arbeitszeit hinaus zu tun." Das Scheitern des pa zeigt, daß Programme, die auf kapitalistische Stimulation verzichten, nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie durch einen massiven staatlicherseits bereitgestellten Ressourceneinsatz (Maschinerie, Düngemittel, Transport- und Lagerkapazitäten, Treibstoffe usw.) abgestützt werden. Kann dieser, wie im Fall Cubas nicht erbracht werden, fällt alles in sich zusammen.

Ein Kurswechsel zeichnet sich daher jetzt auch in der Landwirtschaft ab. Ein Politbürobeschluß vom 15.9. signalisiert behutsame Reformen, bleibt aber deutlich hinter der immer wieder ins Gespräch gebrachten Forderung nach Zulassung freier Bauernmärkte zurück. Vorgesehen ist die Gründung von Genossenschaften (BPC), denen landwirtschaftliche Flächen, die von Staatsgütern abgezweigt wurde, unbefristet und quasi als Eigentum übergeben werden. Die Kooperativen sind Besitzer ihrer Ernteerträge, werden sämtliche Ressourcen selbst verwalten, über ihre eigene Bankkonten verfügen und steuerpflichtig sein. Andererseits müssen sie nach wie vor bestimmten staatlichen Direktiven gehorchen und ihre gesamte Produktion an den Staat verkaufen. UBPCs, die sich nicht an diese Regeln halten, müssen mit ihrer Auflösung rechnen. Pensionäre und Personen, die sich aus persönlichen Gründen nicht an den regulierten Formen der Landwirtschaft beteiligen können, dürfen jetzt kleine Parzellen (weniger als ein halber Hektar) bisher ungenutzten Landes pachten, um dort Nahrungsmittel für die Selbstversorgung anzubauen. Die Regierung beabsichtigt mit diesen Reformen, das Verhältnis der ProduzentInnen zu "ihrem Land" zu vertiefen und die Zahl selbständig arbeitender Produktionseinheiten zu vergößern. Bereits im vergangenen Jahr war ein Teil der großen staatlichen Zuckerplantagen in kleiner Einheiten aufgeteilt und unter permanente Verantwortung einer festen Gruppe von Arbeitenden gestellt worden. (LAWR, 30.9.93)

Innerhalb weniger Wochen sind 1.546 Genossenschaften gegründet worden (ND, 1.11.93). Da die bisherigen Informationen noch nicht klar erkennen lassen, welche Verdienstmöglichkeiten real gegeben sind, muß abgewartet werden, ob mit diesen Entscheidungen schon der Durchbruch in der landwirtschaftlichen Produktion erreicht werden kann. Der Knackpunkt der Reform liegt erstens in der Differenz zwischen den staatlichen Preisen und denen des Parallelmarktes und zweitens in der Kaufkraft des Pesos. Wenn auf den Parallelmärkten dauerhaft höhere Preise erzielt werden können oder den staatlichen Preisen keine Kaufkraft entspricht, dann werden die Kooperativen mit ihren Produkten auf den Parallelmarkt drängen oder die Produktion verweigern. Klappen kann das Konzept nur, wenn relativ schnell ein Abgebotsüberschuß erzielt wird (damit die Preise auf dem Parallelmarkt sinken), wenn die Stabilisierung des Pesos gelingt und wenn für die einheimische Währung vernünftige Waren erworben werden können. Keine Kooperative wird Peso-guthaben anhäufen, denen keine Warenwerte gegenüberstehen.

Ausländische Investoren werden nach wie vor als Partner für joint ventures umworben. Von September 1992 bis Juli 1993 entstanden 20 neue Gemeinschaftsunternehmen. Damit gibt es jetzt insgesamt 115 joint ventures, darunter 40 im Touristik-Sektor (ND, 28.7.93). Das Investitionsklima könnte sich in absehbarer Zeit noch verbessern. Bei entsprechenden Investitionen sind ausländische Aktienmehrheiten an joint ventures möglich. Ausländische Banken werden nicht mehr lange auf ihre Rückkehr warten müssen. Selbst die bisher als Tabu geltende einheimische Pharmaindustrie steht jetzt zur Disposition. Die erfolgreiche Vertriebsblockade der internationalen Pharmamultis hat zu der Entscheidung geführt, ausländischen Firmen Beteiligungen auch an diesem Sektor zu ermöglichen. Im August verkündete Castro die "fast ausnahmslose" Öffnung der cubanischen Wirtschaft für ausländische Investoren. Nur wenige, strategisch wichtige Sektoren müßten unter Staatskontrolle bleiben. Zugleich lehnte er eine Schocktherapie für die cubanischen Staatsbetriebe ab. Die Öffnung der Wirtschaft müsse sozial verträglich gestaltet werden (ND, 13.8.93).

Währungsreform und Steuergesetzgebung

Ausländische Beobachter erwarten noch in diesem Monat erste Schritte hin zu einer Währungsreform. Seit mehreren Wochen bereiten die Medien des Landes (z.B. die Wochenzeitung Trabajadores) die Bevölkerung auf eine Reihe harter Maßnahmen vor, die gegen die viel zu hohe (inflationstreibende) Geldmenge gerichtet sind. In dem Artikel wird die Frage gestellt, wie lange noch daran festgehalten werden könne, einen großen Teil der Konsumtion in egalitärer Weise zu verteilen, ohne zu berücksichtigen, wieviel der oder die einzelne bei ihrer Arbeit leiste. Das Prinzip, wonach diejenigen, die mehr arbeiten auch mehr konsumieren sollen, wird zur offiziellen Parole. Der "exzessive Egalitarismus", der cubanischen Wirtschaft wird hart kritisiert. Beobachter erwarten nun folgende Schritte: 1. Streichung der Subventionierung aller rationierten Güter. 2. Einführung eines progressiven Steuersystems und differenzierter, an der Produktivität orientierter Einkommen. 3. Abwertung der Währung, deren Schwarzmarktkurs bei 70 Pesos für 1 Dollar liegt (offiziell 1:1).

Gegenwärtig befinden sich über 9 Mrd. Pesos im Umlauf. Offizielle Stellen halten 3 Mrd. Pesos für verträglich. Für Subventionen und staatliche Dienstleistungen gibt die Regierung jährlich etwa 800 Mio. Pesos aus, davon etwa die Hälfte für Nahrungsmittel und andere Grundbedarfsgüter. Einer Streichung dieser Subventionen würden Lohnerhöhungen für Staatsbedienstete entgegenstehen, um die Preissteigerungen auszugleichen. Ebenfalls muß mit einem Anstieg der Ausgaben für diejenigen gerechnet werden, die auf soziale Hilfsleistungen des Staates angewiesen sind. Traditionelle Instrumente, um die Geldmengenzirkulation in den Griff zu bekommen (effektive Besteuerung, aktive Zinspolitik), sind bereits im Gespräch (LAWR, 11.11.93). Im Rahmen einer Kabinettsumbildung wurde José Luis García (bisher Vizedirektor des staatlichen Forschungszentrums für Weltwirtschaft CIEM) zum neuen Finanzminister ernannt. Manche ausländischen Beobachter halten ihn in Geldangelegenheiten für reformfreudig. Erste Schritte in diese Richtung deuten sich bereits in der Steuergesetzgebung an. Jene Berufsgruppen und Dienstleistungsgewerbler, die seit dem 9. September auf eigene Rechnung arbeiten dürfen, werden nun bereits vom Fiskus zur Kasse gebeten. Sie zahlen eine relativ niedrige monatliche Pauschale. Eine progressive Einnahmenbesteuerung ist für die Zukunft bereits angekündigt worden. Die UBPCs müssen auf ihre Einkünfte ebenfalls Steuern zahlen (ND, 1.11.93)

Am 30.10. kündigte Carlos Lage weitere Reformen an: Demnach soll den Staatsbetrieben eine größere Eigenverantwortlichkeit zugestanden werden, die Einnahmenseite des Staates durch ein strafferes Steuerwesen verbessert und der Kapitalaustausch mit dem Ausland erleichtert werden. In den Landwirtschaftsgenossenschaften, so Lage weiter, würden viele Menschen ihre Arbeit verlieren. (ND, 1.11.93) Der Staatsapparat solle neu strukturiert und verkleinert, ein konvertibler Peso in Umlauf gebracht und ein Steuersystem mit einer Einkommenssteuer eingeführt werden. Lage fügte hinzu, daß ausländisches Privatkapital in Zukunft zwar eine wachsende Rolle spielen würde, das staatliche Eigentum aber seine dominierende Rolle behalten würde: "Unter den neuen Bedingungen werden die individuelle und die kooperative Produktion einen größeren Anteil haben, die Steuern, die Reduzierung der Staatsausgaben und die Preispolitik werden eine wichtige Rolle bei der Sanierung der internen Finanzen spielen; dennoch wird an der Planwirtschaft festgehalten." Als schwierigst aber auch drängendste Aufgabe bezeichnete Lage die Sanierung der Finanzen, die in einer Weise vorgenommen werden müsse, daß Arbeiter und Familien mit niedrigen Einkommen nicht darunter zu leiden hätten. Die aufgeblähte Geldmenge in Höhe von 10 Mrd. Pesos müsse unbedingt verringert werden, zugleich müsse jedem einzelnen Arbeiter der Konsum der Grundnahrungsmittel garantiert bleiben und die großen Errungenschaften der Revolution (Gesundheit und Erziehung) dürften nicht geschmälert werden. Sehr drängend wäre auch die Reorganisation des Staatsapparates. Einige Ministerien würden zusammengelegt, die Zahl der dort Beschäftigten reduziert werden. (El Pais, 30.10.93)

Das Wirtschafts-Embargo der USA: Eine unendliche Geschichte

Kuba Bäcker 1993
Im Frühsommer mehrten sich Anzeichen für ein verbessertes Klima zwischen den USA und Cuba. Es kursierten Gerüchte über angebliche Geheimgespräche wischen Jimmy Carter und einem Freund Castros. Das US-Militär informierte Havanna über US-Manöver auf dem US-Stützpunkt Guantanamo und angeblich wurden sogar cubanische Militärs als Beobachter eingeladen. (FR, 30.6.93) Anfang Juli wurden vier hochrangige Militärexperten aus den USA zu einem "privaten Besuch" in Havanna erwartet, bei dem über Wege beraten werden sollte, bilaterale Spannungen zu vermindern. (SZ, 1.7.93) Der anticubanische Fernsehsender "TV Martí" stellte seinen Betrieb ein, und die Behörden in Washington gaben bekannt, daß die Vorbereitung bewaffneter Aktionen gegen Cuba durch Exilkubaner in den USA illegal sei. (FR,30.6.93) Ob der Ankündigung tatsächlich Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Gruppen wie Comando L oder Alpha 66 folgen werden, darf allerdings bezweifelt werden.

Castro richtete wiederholt Gesprächsangebote an Bill Clinton und sorgte mit konkreten Verhandlungsangeboten an die USA für Schlagzeilen. So signalisiert der Vorsitzende des Staatskomitees für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Meléndez, im Juli, daß Entschädigungen für Amerikaner, die nach der Revolution enteignet worden waren, nicht mehr ausgeschlossen seien. Dieses Angebot zielt auf eine der wichtigsten Embargo-Argumente der USA. 6.000 US-Bürge verloren 1961 insgesamt etwa 1,8 Mrd. Dollar, eine Summe, die zins- und inflationsbereinigt heute mit 5,6 Mrd. Dollar angegeben wird. (FAZ, 31.7.93) Die FR (30.6.) spricht hingegen von 900 aktuellen Ansprüchen gegenüber Cuba. Das Angebot der Insulaner, die Entschädigungsfrage durch Verhandlungen aus der Welt zu schaffen, enthält allerdings eine listige Bedingung: im Gegenzug verlangt Cuba nämlich Ausgleich für die Schäden, die durch das jahrzehntelange Embargo verursacht worden sind – runde 40 Mrd. Dollar. Das ist schlau gedacht, wird bei der US-Regierung aber kaum auf Gegenliebe stoßen. Denn nach dieser Rechnung müßte sie – als der Verantwortliche für das Embargo – nicht nur die eigenen Leute entschädigen, sondern auch noch ein nettes Sümmchen nach Havanna überweisen. Das "Angebot" zeigte immerhin, daß Castro es bereits versteht, das amerikanische Establishment ein wenig in Bewegung zu versetzen. Die Aussicht auf längst verloren geglaubte Ansprüche dürfte den einen oder anderen "Enteigneten" zur Überzeugung bringen, zumindest den Versuch von Gesprächen mit Castro einmal zu unternehmen.

Die von vielen BeobachterInnen von Anfang an gehegten Zweifel an einen Verständigungswillen des amerikanischen Präsidenten erfuhren spätestens im September eine nachdrückliche Bestätigung. Am 14.9. verlängert Bill Clinton das seit 30 Jahren andauernde Embargo über den Karibikstaat. (FR, 16.9.93) Gleichzeitig gestattete er amerikanischen Telefongesellschaften (AT&T, Sprint, MCI Communications) die Wiederaufnahme ihrer Geschäftsbeziehungen mit Cuba. Damit entfällt der telefonische Umweg über Kanada. Für Havanna dürften auf diesem Weg jährlich etwa 15. Mio, Dollar an Gebühreneinnahmen herausspringen. (FAZ, 31.7.93) Möglicherweise gelangt Cuba jetzt auch in den Besitz von 80 Mio. Dollar, die ihm von AT&T noch geschuldet werden.

Auswirkungen des Torricelli-Gesetzes

Das Gesetz, mit dem die Amerikaner Druck auf ausländische Firmen ausüben, den Handel mit Cuba einzustellen, ist nahezu in aller Welt als unzulässige Einmischung verurteilt worden. Es gibt allerdings nur sehr wenige Informationen über tatsächliche Auswirkungen auf Unternehmerhandeln. Am 9.2.93 berichtete El Financiero (Mexiko) über die Stimmung unter mexikanischen Investoren. So seien in Folge des Toricelli-Gesetzes 90 Prozent der Geschäfte mit Cuba eingefroren worden. Zwar nehme die mexikanische Regierung eine neutrale Haltung zu dem US-Embargo ein, doch die Bereitschaft ausländischer Investoren, langfristige Geschäftsbeziehungen mit der Karibikinsel auszunehmen, habe einen schweren Rückschlag erlitten. Firmen wie Lusacel, Mexinos, Cemente Mexicanos, El Grupo Escorpion, DHL und Petroleos Mexicanos hätten ihre Investitionsvorhaben ohne jegliche Begründung storniert. Vertreter der Banco Nacional der Comercio Exterior (Bancomext) wiesen darauf hin, daß sich der Enthusiasmus mexikanischer Geschäftsleute auch wegen der schwierigen internen Lage (Rohstoffmangel, Energieabschaltungen) auf Cuba merklich abgekühlt habe. Andere Unternehmer beschweren sich darüber, daß ihnen der Zugriff auf "strategische Güter" wie Zucker und Nickel verwehrt werde. Das Verhandlungsklima für ausländische Investoren verkompliziere sich immer mehr. Mexinox konnte zum Beispiel eine 70-Mio.-Dollar-Nickelinvestition nicht realisieren, da sich der wichtigste kanadische Geschäftspartner, Sherritt Gordon zurückgezogen habe.

Bancomext, die sich 1992 noch durch eine diskrete aber engagierte Vermittlung von mexikanisch-cubanischen Geschäften ausgezeichnet habe, erklärte jetzt das Ende jeglicher Konzessionen. Cuba werde wie ein ganz normaler Kunde behandelt. Unbeeindruckt von US-amerikanischem Druck zeigen sich lediglich mittelgroße mexikanische Unternehmen. Ende Juni sagte Castro in einer Ansprache vor der Nationalversammlung, daß viele ausländische Geschäftsleute aus Angst vor US-Repressionen vor Investitionen zurückschrecken. "Von jeweils 10 Personen, die gerne mit uns ins Geschäft kommen würden, lassen sich 9 durch die US-Drohungen von Schikanen entmutigen." (Caribean & Central America Report, 22.7.93)

Ein Teil der in der Gemeinschaft karibischer Staaten (CARICOM) zusammengeschlossenen Staaten betreibt die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu Cuba. Die waren 1983 nach der US-Intervention auf Grenada abgebrochen worden. Das Freihandelsabkommen Nafta verstärkt die Ängste vieler Karibikstaaten, an den Rand gedrängt zu werden. In dieser Situation wirkt der faktische Boykott Cubas kontraproduktiv. Auf der Juli-Sitzung der CARICOM wurde daher eine bilaterale Kommission ins Leben gerufen, die den Handel und gemeinsame Projekte wischen den Mitgliedsstaaten und Cuba fördern soll. Gedacht ist an Zusammenarbeit im Zuckersektor, in der Viehzucht, der Fischerei und in der Biotechnologie. Noch im selben Monat erreichte die Präsidenten der Karibikstaaten ein von vier Abgeordneten des amerikanischen Repräsentantenhauses – darunter der notorische Robert Toricelli – unterzeichnetes Schreiben. Der Brief enthielt die unverhüllte Drohung, daß jegliche Zusammenarbeit mit Cuba den Ausschluß aus einer zukünftigen, von den USA geförderten Freihandelszone bedeuten würde. Während sich die CARICOM-Staaten durch den Erpressungsversuch wenig beeindrucken ließen, war die Reaktion der mittelamerikanischen Staaten bezeichnend. Die in Washington akkreditierten Botschafter Costa Ricas, El Salvadors, Guatemalas, Honduras, Nicaraguas und Panamas sowie der Vertreter der Dominikanischen Republik distanzierten sich willfährig mit einem Schreiben an Toricelli von dem Beschluß der CARICOM. Sie betonen, daß ihre Regierungen keinerlei Vereinbarungen mit Cuba getroffen hätten und ihnen daher bitte schön auch keine Nachteile erwachsen sollten. (CCAR, 30.9.93)

Nicht beeindrucken von den US-Erpressungen läßt sich hingegen Rußland. Ende Mai unterzeichneten Vertreter Rußlands und Cubas in Havanna ein Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dazu zählen gemeinsame Arbeiten an der Supertankerbasis von Mantanzas, Kooperationen bei der Düngemittelherstellung für den lokalen Bedarf und für den Export, die Reaktivierung der Ölraffinerie in Ciénfuegos und die gemeinsame Produktion von Reifen. Verbessert werden soll auch die Versorgung der Zuckerindustrie mit Ersatzteilen. (Granma, 2.6.93) Zur Finanzierung dieser Projekte gewährt Rußland einen Kredit in Höhe von 350 Mio. Dollar. Weitere 30 Mio. Dollar werden für den Erhalt des Juraguá-Atomkraftwerks in Ciénfuegos zur Verfügung gestellt, über dessen weiteres Schicksal aber noch immer keine Entscheidung gefallen ist. Offensichtlich ist die Suche noch einem dritten finanzkräftigen Partner bisher erfolglos geblieben.

Rätselhafte Augenkrankheit


Für internationale Schlagzeilen sorgte in diesem Sommer das Auftreten einer rätselhaften Krankheit, die schwere Schäden am Nervensystem und den allmählichen Verlust des Sehvermögens nach sich zog. Die Krankheit wies Ähnlichkeiten, aber auch gewisse Unterschiede zu Neuritis-Epidemien der Vergangenheit auf. Bekannt war, daß an beiden Augen Sehschärfeverluste, Farbunterscheidungsschwierigkeiten und Sehfeldverkleinerungen in Verbindung mit peripheren Nervenleiden auftreten. Anders als in anderen Fällen (z.B. in Japan, Australien oder Jamaica) breitete sich die Epidemie jedoch auf Cuba schlagartig aus und erfaßte eine ungewöhnlich große Anzahl von Menschen (28.000 bis Mitte Mai). Bis zu 100 Fälle kamen Tag für Tag hinzu. (El Pais 18.5.93) die ersten Fälle traten Anfang 1992 im Westen der Karibikinsel (Pinar del Rio) auf. Monatlich wurden zunächst nicht mehr als 15-30 Fälle gemeldet. Ende des Jahres stieg die Erkrankungsrate dann sprunghaft an und blieb nicht auf die Westprovinz beschränkt. In den Krankenhäusern wurden 14 verschiedene Behandlungsmethoden genauestens getestet, um die effektivste herauszufinden. Eine Vitamintherapie bildet jeweils den Behandlungsschwerpunkt. Daneben wurden Magnet- und Ozontherapien sowie Interferongaben angewendet. Kinder sind von der nichtansteckenden Krankheit bisher nicht betroffen, die Hauptrisikogruppe liegt bei den 25-64jährigen. (El Pais, 10.5.93)

Die Mehrzahl der Betroffenen erlangt innerhalb eines Monats das Sehvermögen zurück. Bei zwei Dritteln bleiben keinerlei Beeinträchtigungen zurück. Eine bleibende Erblindung ist in noch keinem Fall registriert worden. Zur vorbeugenden Behandlung werden an die gesamte Bevölkerung kostenlose Vitamin-B-Tabletten verteilt. 30 Millionen Tabletten werden täglich in den Pharmalabors der Insel hergestellt. Am 17. Juni (El Pais) wird aus Havanna gemeldet, daß die Rate der Neuerkrankungen zwar nicht mehr anwachse, aber auf einem hohen Niveau stagniere. So seien zwischen dem 1. Mai und dem 10. Juni 13.500 neue Fälle registriert worden. Die Gesamtzahl betrage jetzt 39.442. die zwanzig behandelnden Krankenhäuser der Stadt seien voll ausgelastet. Seit Mai haben sich die Symptome der Krankheit etwas verändert. Es kommen vorwiegend Frauen, die über Fieber, Gewichtsverlust und Muskelschmerzen in Gelenken und unteren Extremitäten klagen. Am 33.6. meldete El Pais bereits eine Zahl von 45.330 erkrankten Personen. Es sei immer noch kein Rückgang der Epidemie zu beobachten.

Im Mai und Juni trafen mehrere internationale Ärztekommissionen auf Einladung Cubas ein, die nach Erklärungen und Behandlungsmöglichkeiten für die Krankheit suchen sollten. Einigkeit herrschte bei den Experten darüber, daß es sich um ein bisher unbekanntes Krankheitsbild handelt. Toxikologische und biologische Untersuchungen brachten keine Ergebnisse.

Am 4.6. erklärten Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf, daß die Augen-Nervenentzündung eine Folge schlechter Ernährung, insbesondere des Mangels an Vitaminen sei. (ND, 7.6.93). Andere WHO-MitarbeiterInnen wiesen zusammen mit cubanischen WissenschaftlerInnen darauf hin, daß es sich bei der Krankheitsursache um eine Kombination aus toxischen Faktoren, Vitaminmangel und möglicherweise einer Viruserkrankung handeln könnte. (El Pais, 17.6.93). Am 31.7. zitiert El Pais zwei spanische Wissenschaftler, die die Augenkrankheit auf giftige Substanzen in der Umwelt zurückführen und damit Mangelernährung als Ursache ausschließen.

Was bleibt vom Sozialismus?

Der Reformprozeß auf Cuba wirft die Frage auf, inwieweit die gesellschaftliche Realität noch als Sozialismus bezeichnet werden kann. Die PCC will offensichtlich keinen Etikettenschwindel betreiben und relativiert unter großem Bedauern den Sozialismusbegriff. Castro: "Das ist kaum der Sozialismus, den wir wollen, doch die Umstände zwingen uns zu Zugeständnissen." Ricardo Alarcon, Präsident der Nationalversammlung, erklärte gegenüber einer mexikanischen Tageszeitung, daß seine Regierung beschlossen habe, "die revolutionären Errungenschaften zu retten und nicht den Sozialismus" ( FR, 11.9.93) Ein "chemisch reiner Sozialismus", so Außenminister Robaina gegenüber El Pais (10.11.), sei unter den gegebenen Umständen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Da von offizieller Seite immer wieder der Zwang der Verhältnisse betont wird, glauben manche KritikerInnen, daß der Reformprozess über kurz oder lang wieder zurückgenommen werde. Daraufhin erklärte Castro am 4.11.93, daß der Prozeß der ökonomischen Öffnung unumkehrbar sei: "Wir müssen uns der heutigen Situation anpassen und wir müssen eine Öffnung herbeiführen. Diese Öffnung wird so umfangreich wie möglich sein, und sie ist irreversibel." Dadurch eröffneten sich für die Entwicklung des Landes neue Möglichkeiten, wobei die sozialistischen Ziele, die traditionell von der Revolution verfolgt werden, erhalten bleiben. Unter den neuen Bedingungen müßten aber "einige Konzepte, einige Ideen und einige Wertmaßstäbe verändert werden und all dies führt zu einem Wandel." (El Pais, 5.11.93)

Die Errungenschaften, die unbedingt erhalten werden sollen, sind das kostenlose Gesundheits- und Bildungswesen. Festzustehen scheint, daß die Arbeitsplatzgarantie aufgegeben wird. Das gleiche gilt für den Grundsatz einer einigermaßen gleichmäßigen Aufteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Ob verhindert werden kann, daß größere Teile der Bevölkerung in einen Vereledungsprozeß geraten, ist fraglich. Die Sozialausgaben des Staates werden in Zukunft an den Einnahmen orientiert sein.

In einem Interview mit den Blättern des iz3w (Nr. 192) verglich Carlos Tablada Pérez, Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Zentrums für Amerikaforschung (Havanna), die cubanischen mit den chinesischen Reformen: "Die Chinesen sind sehr viel weiter auf einem neoliberalen Weg fortgeschritten. Es gibt Privatisierungen sogar im Erziehungswesen und im Gesundheitssystem. So weitgehende Überlegungen gibt es in Cuba nicht. Der wesentliche Unterschied ist, daß wir keine Sonderwirtschaftszonen einrichten, in denen die sozialen Strukturen den kapitalistischen Interessen angepaßt werden. Bisher waren Hotelzonen wie Varadero zwar für weite Teile der Bevölkerung gesperrt. Mit der Freigabe des Dollars e die Gründe für eine solche Sperrung." Über die Auswirkungen ausländischer Kapitalinvestitionen auf das Bewußtsein der Bevölkerung sagte Tablada: "Ich glaube, daß die Entwicklung des Wertgesetzes und aller kapitalistischen Beziehungen der Menschen das Problem sind. Der Schaden ist … der Widerhall des Bildes vom Kapitalismus im Bewußtsein der Menschen … die joint ventures (arbeiten) in einem System regulierender Gesetze, die keine Ausbeutung zulassen und auch nicht die Ungleichheiten, die in den kapitalistischen Ländern zum Beispiel in der Dritten Welt vorkommen. All dies könnte bewirken, daß das cubanische Volk denken könnte, der Kapitalismus sei nicht so schlecht."

Wie die jüngsten Reformen in der Bevölkerung aufgenommen werden, ist noch nicht abzuschätzen. Immerhin gab Carlos Robaina zu, daß ein wichtiger Teil der Bevölkerung sehr unzufrieden darauf reagiert habe: "Aber selbst wenn wir die gegenwärtigen Probleme nicht für 10 Millionen sondern nur für 5 Millionen Menschen lösen können, so müssen wir dieses Opfer bringen und gewisse soziale Unterschiede in Kauf nehmen." (LAWR, 18.1.93)

Wie könnte sich die wirtschaftliche Situation der Insel mittelfristig entwickeln? Dazu ein paar Stimmen: Carlos Lage sagte am 16.7. vor ausländischen Geschäftsleuten, daß die Regierung gegenwärtig nicht in der Lage sei zu beurteilen, wann der Abwärtstrend der Wirtschaft umgekehrt werden könne. Der neue Finanzminister José Luis Rodríguez machte für den diesjährigen Produktionsrückgang vor allem die Neuritis-Epidemie (s. Kasten) und die Frühjahrsunwetter verantwortlich. Wenn es keine weiteren unvorhersehbaren Katastrophen geben, dann sei 1993, spätestens 1994 der Tiefpunkt erreicht. (LAWR, 29.7.93). Ralf Leonhardt (taz, 30.6.93) zitiert "optimistische Wirtschaftsexperten“ mit der Prognose, wonach „Ende dieses Jahres oder Anfang 1994 das Ende der Talsohle erreicht wird und dann ein bescheidener Aufschwung einsetzt." Eine verbesserte Zuckerernte und erste Renditen aus verschiedenen Investitionsvorhaben könnten die Grundlage dafür bieten.

Zu einer eigenen Einschätzung der zukünftigen Entwicklung sehe ich mich nicht in der Lage. Jedes sozialistische Land, das einen Transformationsprozeß durchmacht, hat andere Ausgangspositionen. Vielleicht genießt Cuba gegenüber den osteuropäischen Ländern den Vorteil, daß es keine nationalistischen Hasardeure oder weltbankhörige Monetaristen in der Regierung hat. Das Festhalten an der Einparteienherrschaft garantiert Stabilität, birgt aber bekanntermaßen die Gefahr von Starrheit und Korruption in sich.

Wir müssen uns damit abfinden, daß sozialistische Staatswesen gegenwärtig keine ökonomische Überlebenschance haben. Ob China, Vietnam oder Cuba – vom "Aufbau des Sozialismus in einem Land" will niemand mehr etwas wissen. Die Alternative zu der Integration in den Weltmarkt ist die Isolation. Über einen dritten, grundsätzlich anderen Weg wird auf Cuba nicht nachgedacht. Wer angesichts dieser Tatsache den Internationalismus nicht frustriert an den Nagel hängen will, wird neue Maßstäbe für Solidarität entwickeln müssen. Wird dem Verelendungsprozeß der Menschen entschlossen entgegengearbeitet? Wird der Einfluß des ausländischen Kapitals auf ein erträgliches Maß beschränkt? Wird eine halbwegs gerechte Entlohnung garantiert? Welches Menschenbild wird in den Schulen und in der Öffentlichkeit vermittelt? Gibt es neben dem Prinzip der hemmungslosen Bereicherung des einzelnen noch andere, sozialere Prinzipien? Anhand dieser und ähnlicher Fragen wird die Entwicklung Cubas zukünftig zu beurteilen sein.

ak analyse und kritik

KUK, Berlin

analyse und kritik, 15.12.1993