»Wir Revolutionäre haben keine Wahl, nur die Pflicht«

Über das Scheitern der gran zafra 1970 - der großen Zuckerrohrernte, des großen Traums von Fidel Castro. Dokumentation eines Artikels des kubanischen Journalisten Julio García Luis.

Er analysierte die entstandenen Probleme bei der Zuckerrohrernte und an einem Punkt seiner Rede sprach er die fürchterliche Wahrheit aus: »Wir schaffen die zehn Millionen Tonnen nicht.«

Wenige Male gab es solchen Schmerz und solche Verbitterung in Fidels Stimme. Selten so viel Emotion in seinen Gesten und im Sprechen. Viele stimmten danach überein, ihn nur bei einer früheren Gelegenheit so erlebt zu haben: als er den Tod von Che verkündet hatte und dann bei der Trauerfeier auf dem Platz der Revolution. (…)

Unter diesen Umständen hatte ich das Privileg, Fidel zweimal zu erleben - bei seinen beiden nächtlichen Besuchen in der Granma. (…)

Er kam erregt an, gegen elf Uhr abends oder vielleicht etwas später, die Kundgebung war seit geraumer Zeit zu Ende - in zerknitterter Uniform, eine ausgegangene Zigarre in der Hand. Und setzte sich vor den Kreis der compañeros, die um einen Tisch herum standen und auf seine Worte warteten. Niedergeschlagen schien er nicht, eher müde und voller Sorgen. Die rechte Hand strich, in der charakteristischen Geste, über den etwas schütteren Bart, der in den Spitzen bereits weiß wurde. Ohne Einleitung begann er: »Es war nicht beabsichtigt von der zafra zu reden. Aber es wäre dem Volk gegenüber nicht loyal gewesen. Es war nicht gerade das politisch Klügste, aber es war das Ehrlichste. Eigentlich wollten wir abwarten, bis acht Millionen geschafft sind und dann die Erklärung geben. Das wäre wohl staatsmännisch das Beste gewesen. Aber heute die pure Freude für das Volk über diesen großen Sieg und dann, 20 Tage später, die große Niederlage verkünden, das wäre nicht gut gewesen.« Er schwieg einen Moment, sah all die Anwesenden an. Dann sagte er leise: »Wir Revolutionäre haben keine Wahl, nur die Pflicht.«

Sehr aufmerksam hörte er die Meinung einzelner compañeros an. Es waren Sätze voller Zuneigung und Zuspruch. (...) Ich sagte: »Comandante, es gab keinen besseren Augenblick für das Volk, eine solche Nachricht zu hören. Es war aufgewühlt.«

Nachdenklich sagte er: »Jetzt muss ich ins Fernsehen, morgen oder übermorgen, und alles, was mit der zafra zu tun hat, erklären. Danach möchte ich mich am liebsten auf dem Pico Turquino verkriechen, oder sonstwo, im entlegensten Zuckerrohrfeld, wo die Bedingungen am schlimmsten sind.« (…)

»Wir haben andere Niederlagen erlebt, sehr harte. Damals beim Angriff auf die Moncada, in Pío Alegre, beim Aprilstreik. Aber diese jetzt schmerzt mehr. Damals waren wir eine Gruppe, mehr oder weniger bei der einen oder anderen Sache. Jetzt trifft es das ganze Volk. Diese Niederlage schmerzt besonders, weil so viele Leute betroffen sind, die alle für das Ziel gekämpft haben.«

Es kamen mehr compañeros. (...) Die Gesichter waren ernst. Fidel fuhr fort: »Wir sind im Patt, mit der Konterrevolution. Wir haben einen Sieg errungen und eine Niederlage erlitten. Jetzt geht es darum, den Einsatz für die zafra maximal aufrechtzuerhalten. Wenn die Leute aufgeben, taugen wir nichts. Packen wir es an, ob es blitzt oder regnet, wir müssen um das restliche Zuckerrohr kämpfen. Und übrigens, es bleibt die zafra der zehn Millionen. Auf der ersten Seite behalten wir mit stoischem Mut den Info-Kasten bei, mit den Angaben zum Ernteertrag, der Losung der zehn Millionen und allem anderen. Die Sache mit den Fischern ist zu Ende, jetzt geht es weiter um die zafra.« Und an Piñeiro gewandt: »Zu Beginn der Kundgebung war ich erschöpft, ich war müde.« Dann, nachdenklich und mehr zu sich selbst: »Nixon, du kommst gut weg, wir sind quitt.« Und er fährt fort: »Die ganze Strategie, die sie geplant hatten, basierte auf der Demütigung durch ein Scheitern bei den zehn Millionen. Die Aktionen, die wir erlebten, sollten das Klima anheizen. Sie dachten, dass dieser Umstand ihnen den geeigneten Zeitpunkt für ihre Pläne liefern würde.

Aber ehrlicherweise muss ich zugeben - wenn es besser war, die Wahrheit jetzt zu sagen und nicht erst in 20 Tagen -, dass ich es so nicht vorhatte, es geschah zufällig. Es war Ehrlichkeit gegenüber den Leuten. Als einer der Fischer von den zehn Millionen sprach, hatte ich ein unerträgliches Gefühl, es war Scham, denn ich wusste, dass damit weiter Illusionen genährt werden. Bei der Kundgebung am Sonntag schon tat es weh zu sehen, dass alle Welt den Kampf für die Freiheit der Fischer mit der Schlacht um die zehn Millionen verband. Ich sprach dann mit verschiedenen compañeros und sie überzeugten mich, noch nicht auf die zafra einzugehen. Aber heute, mitten in der Rede, als ich von den Schwierigkeiten sprach, schämte ich mich. Es war ein Gefühl von Schande, dass irgendjemand den leisesten Zweifel oder den Verdacht haben könnte, wir würden die Realität verheimlichen, damit die Leute nicht entmutigt werden.« (…)

Auf dem Tisch der Redaktionsleitung lag ein Entwurf für die erste Seite. Fidel las ihn. Da hieß es: In diesen Momenten des Sieges und des Rückschlags: Vorwärts revolutionäres Volk. Mit mehr Courage und Mut als jemals verwandeln wir den Rückschlag in einen Sieg. Patria o muerte! Venceremos!

Nachdem er es gelesen hatte, nahm er einen Kugelschreiber und setzte dazu: »Fidel spricht heute Abend um 8 Uhr 30 über Rundfunk und Fernsehen.«

Inzwischen war auch Llanussa gekommen. »Wie sagen wir, wie nennen wir es: ›Mai-Sieg‹? ... Und Rückschlag? Rückschlag von was? Vielleicht sollte ich nicht ›Rückschlag‹ sagen, sondern ›Niederlage‹. Die Größe des Unternehmens, das wir uns vorgenommen hatten, lässt uns jetzt unsere Schwächen erkennen, hat uns drastisch mit ihnen konfrontiert. Alles hängt von der Messlatte ab, die wir anlegen. Ist diese niedrig, scheint uns die Revolution enorm und mächtig, ist die Messlatte aber hoch, sehen wir, dass wir nicht so groß sind und dass wir viel Defizite und Begrenzungen haben. (...) Das Volk hat nicht versagt. Das Volk hat keinerlei Schuld. (...) Ich habe nie im Leben für etwas so viel Energie aufgewendet wie für diese Zehn-Millionen-Zafra, ich wusste ja, was sie für die Revolution und das Land bedeutet. (...) Aber es fehlte der Verwaltungsapparat, es zu bewältigen. (...) Das muss uns eine große Lehre sein. Die Revolution ist etwas Wunderbares, aber sie erfordert mehr Ernsthaftigkeit, mehr Nachdenken. Ich glaube, ich habe es schlecht gemacht, von einem ›Rückschlag‹ zu sprechen, denn in Wirklichkeit ist es eine ›Niederlage‹. Morgen im Fernsehen werde ich es korrigieren.«

Llanusa, einer der compañeros, sagt, er sei nicht einverstanden, das sei übertrieben. Fidel besteht darauf: »Nein. Sagen wir, dass es eine Niederlage ist, das ist mutiger, als es Rückschlag zu nennen.« Llanusa akzeptiert: »Gut, du bist mutiger als ich.« (…)

Fidel steht auf, er ist ernst, wendet sich zur Tür mit einem: »Wir sehen uns morgen«, aber kurz danach, um 1 Uhr 30 im Morgengrauen, ist er wieder da. Atemlos, er hat die Treppen mit großen Schritten genommen. Es scheint, dass er mit dem Vorschlag für die erste Seite nicht einverstanden ist und neue Ideen hat. Er nimmt ein Stück Papier und schreibt auf die Rückseite mit großen Buchstaben: NIEDERLAGE. »Wie findet ihr diesen Titel?« (Die ›Granma‹ am Vortag war angesichts der Rückkehr der Fischer mit der Schlagzeile »SIEG« erschienen). (...) »Suchen wir Konzepte«, sagt er dann.

So wird die erste Seite vorbereitet, er schreibt Titelzeilen, fragt, analysiert. Dann konzentriert er sich auf die Themen, die er im Fernsehen ansprechen will. Er animiert sich. Man sieht ihn an und denkt: Hinter dieser Stirn gibt es einen Wirbel von Ideen, die ihn nicht schlafen lassen. Man hat fast Mitleid. Man weiß, dass sein schönster Traum an diesem Abend öffentlich gestorben ist. Und man weiß, wie hart die Ankündigung des Scheiterns für ihn gewesen sein muss.

Neues Deutschalnd

Übersetzung: Waltraud Hagen; Originaltext von cubadebate.cu unter: dasND.de/fidelgranzafra

Neues Deutschland, 13.08.2016