»Ich bin mit außergewöhnlichen Menschen aufgewachsen«

Gespräch mit Aleida Guevara March. Über die Aufgaben der europäischen Linken, die Auswirkungen der US-Blockade auf das Gesundheitswesen in Kuba und die Revolutionärinnen, die sie geprägt haben.

Wir müssen 2017 in den Medien des Westens mit einer Welle antikommunistischer Geschichtsfälschungen rechnen: Die russische Oktoberrevolution jährt sich zum 100. Mal, der Tod Ihres Vaters, Ernesto »Che« Guevara, zum 50. Mal. Schon zum 90. Geburtstag Fidel Castros hat Der Spiegel in einer Sondernummer die alte Fabel wieder aufgewärmt, dass sich Fidel und Che »entzweit« hätten. Das wird vor allem an der Kritik festgemacht, die Ihr Vater gegenüber der Sowjetunion geäußert hat. Sie sind solche Entstellungen gewohnt, beschäftigt Sie das trotzdem?

Als sich Fidel und mein Vater in Mexiko kennenlernten, schloss mein Vater sich der Expedition nach Kuba unter der Bedingung an, dass ihm, wenn die Revolution siegen und er den Krieg überleben würde, die Möglichkeit gelassen werde, seinen eigenen Weg zu gehen. Nach dem Guerillakrieg wurde mein Vater eine der wichtigsten Personen für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in Kuba. Dann legte Fidel ihm eine Bitte um Hilfe vor, die von einer kongolesischen Befreiungsbewegung an Kuba gerichtet worden war. Bekanntlich ist daraus die Entsendung einer von meinem Vater geleiteten Truppe kubanischer Freiwilliger in den Kongo geworden. Als er aus der Öffentlichkeit verschwand, fingen westliche Politiker und Medien sofort an, Spekulationen über einen angeblichen Streit zu verbreiten. Wie die von uns inzwischen veröffentlichten Dokumente belegen, hat mein Vater in diesen für ihn schwierigen Monaten permanent Rücksprache mit Fidel gehalten, der die Truppe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützt hat.

Haben Sie jemals mit Fidel Castro über die angebliche Distanzierung gesprochen?

Mein Vater wollte nicht nach Kuba zurückkehren, weil er sich offiziell vom kubanischen Volk verabschiedet hatte (In seinem Abschiedsbrief hatte Che die kubanische Staatsangehörigkeit abgelegt und Havanna von jeder Verantwortung für seine Aktivitäten freigesprochen; jW). Er ist dann doch im Geheimen zurückgekommen, weil Fidel ihn davon überzeugen konnte. Wie sein Tagebuch außerdem zeigt, ist mein Vater in Bolivien bis zuletzt mit »Manila«, das war ja das Codewort für Kuba, in Kontakt geblieben.

In einer bekannten Rede in Algier am 24. Februar 1965 hatte mein Vater tatsächlich eine Kritik den sozialistischen Ländern gegenüber formuliert, weil diese den Befreiungsbewegungen nicht genügend Unterstützung zukommen ließen. Was er dort gesagt hat, entsprach der Überzeugung aller in der kubanischen Parteiführung damals, wie Fidel mir später bestätigt hat.

Ihre Mutter Aleida March leitet das »Centro de Estudios Che Guevara«, das die Akten mit Materialien zum Leben Ihres Vaters pflegt. Sie wird jetzt 80 Jahre alt. Sind weitere Veröffentlichungen geplant?

Meine Mutter ist noch immer sehr aktiv. Bis jetzt sind in Zusammenarbeit mit den Verlagen Ocean Sur und Ocean Press etwa 16 Titel veröffentlicht worden. Daneben auch Berichte von Konferenzen, in denen der Gegenwartsbezug verschiedener Aspekte aus dem Leben meines Vaters diskutiert wurden. Es sind mehrere Veröffentlichungen in Vorbereitung, darunter ein Buch über Ches Reisen nach Afrika.

Es sind auch andere Persönlichkeiten der kubanischen Revolution zu nennen, mit denen Sie schon als Kind engen Kontakt hatten. Ich denke zum Beispiel an Celia Sánchez, Vilma Espín, Haydée Santamaria und Melba Hernández, die sich am revolutionären Kampf beteiligt hatten. Wie haben diese Frauen Sie geprägt?

Meine Mutter, die wichtigste Person in meiner Kindheit, hat sofort nach dem Sieg der Revolution im kubanischen Frauenverband mitgearbeitet, wie auch Celia, Vilma, Haydée und Melba. Also schon als ich noch ganz klein war, lebte ich mit all diesen Frauen zusammen. Für mich gehörten sie zu meiner Familie. Celia (1920–1980) hatte einen starken Charakter und war sehr gerecht. Sie stand mir am nächsten, weil sie selbst keine Kinder hatte und sich dauernd um uns Kinder gekümmert hat, vor allem um meine Halbschwester, deren Mutter oft als Journalistin unterwegs war. Sie hat nachgesehen, wie es mit ihr in der Schule ging, und hat dafür gesorgt, dass wir einander näher kamen. Wir wohnten mit Celia in einem Haus, als die Nachricht vom Tod meines Vaters kam. Celia sagte mir, dass meine Mutter mich in ihrem Zimmer erwartete, und gab mir einen Teller Maissuppe für sie mit, die Lieblingsspeise meiner Mutter. Der Augenblick hat sich eingebrannt, weil ich von dem Moment an wusste, dass ich keinen Vater mehr hatte. Und Celia ist eng mit diesem Moment verbunden.

Vilma (1930–2007, verheiratet mit Raúl Castro) hat mich wie ein weiteres Kind ihrer Familie behandelt. Für den jüngsten Sohn von Vilma und Raúl ­Castro, Alejandro, war ich die große Schwester. Ich habe die ganze Zeit mit ihm gespielt, wir sind später oft zusammen ausgegangen. Tante Vilma habe ich immer sehr geliebt. Genauso wie Haydée (1923–1980), die ich für ihre Verbindlichkeit, ihre Entschlossenheit und ihre Spontaneität zu schätzen gelernt habe. Haydée kam aus einer armen Familie und hatte nur eine beschränkte Schulausbildung, aber sie besaß ein hohes Maß an Wissen und Kultur. Sie war vielleicht die furchtloseste Frau aus dieser Zeit. Und fähig, mit der Errichtung des Kulturinstituts »Casa de las Americas« die Intellektuellen ganz Lateinamerikas zusammenzubringen. Aber sie ist ihr Leben lang vom Tod ihres Bruders Abel gezeichnet geblieben, nachdem ihr in der Gefangenschaft – nach dem Angriff auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 – Körperteile ihres gefolterten Bruders gezeigt wurden. Über die Jahre ist sie außergewöhnlich widerstandsfähig geblieben, bis sie von diesen Dingen eingeholt wurde und sich das Leben genommen hat.

Mit Melba (1921–2014) war ich auch eine Weile zusammen, als sie 1966 die Trikontinentale Konferenz in Havanna mitorganisierte, bis sie als Botschafterin nach Vietnam aufbrach. Sie war eine zärtliche, intelligente und aktive Frau, ganz dem revolutionären Prozess ergeben.

Ich bin mit außergewöhnlichen Menschen aufgewachsen, wirklich ganz besonderen Frauen, die ein Symbol sind für die Kraft des kubanischen Volkes, seine Zärtlichkeit, seine Freundlichkeit, sein solidarisches Verhalten. Es ist ein Privileg, solche Personen gekannt zu haben, die, das ist klar, ihre Spuren in uns hinterlassen haben. Sie bringen dich dazu, ein besserer Mensch sein zu wollen. Und sie lehren dich, wie wichtig es ist, das Volk zu respektieren und ihm gerecht zu werden. Diese Frauen sind, glaube ich, die vollkommensten, die ich gekannt habe. Diese Frage ist mir noch nie gestellt worden. Ich bin Ihnen dafür sehr dankbar, denn es ist interessant, diese Frauen kennenzulernen. Sie sind die Pfeiler unserer Revolution, Wegweiser für alle kubanischen Frauen.

Werfen wir nun einen Blick in die heutige Zeit, bitte. Es heißt, der Austausch von Botschaftern in den vergangenen Monaten sei der erste Schritt zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA. An der Blockade gegen Kuba hat sich bis jetzt kaum etwas geändert. Was sind die Perspektiven?

Von einer Normalisierung kann keine Rede sein, solange die Blockade und die Besetzung Guantanamos aufrechterhalten bleiben. Bis jetzt hat sich an der Politik der US-Regierung grundsätzlich nichts geändert. Sie hat zugegeben, dass die Blockade nicht den erhofften Erfolg, nämlich die Zerstörung des Sozialismus auf Kuba, erzielt hat. Jetzt sei es an der Zeit, »etwas anderes zu versuchen«, um, wie es heißt, »das kubanische Volk unabhängiger vom Regime zu machen«. Die Blockade hat nicht erreicht, was die US-Regierung damit vorhatte, aber sie hat der kubanischen Wirtschaft trotzdem großen Schaden zugefügt. Berechnungen zufolge kostet sie uns jährlich etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Als Ärztin bin ich täglich mit den Folgen konfrontiert.

Können Sie uns Beispiele nennen, wie sich das ganz konkret auswirkt?

Es gibt wichtige Medikamente und medizinische Geräte, die wir im Ausland beziehen müssen und die uns wegen der Blockade von den Herstellern verweigert werden. Dadurch müssen wir Medikamente, die an sich schon teuer genug sind, über bis zu fünf Vermittler kaufen – zu Mondpreisen. Manchmal bekommen wir sie dadurch auch nicht rechtzeitig. So sind wir dann auch gezwungen, mit minderwertigen Medizinprodukten zu arbeiten. In meinem Krankenhaus hatte ich ein elfjähriges Mädchen mit Hydrocephalus, umgangssprachlich Wasserkopf genannt. Vereinfacht gesagt sammelt sich bei der Krankheit Flüssigkeit im Gehirn. Das Kind musste zwölfmal operiert werden, weil die Katheter, die wir kaufen konnten, von so schlechter Qualität waren, dass sie ständig ausgewechselt werden mussten.

Natürlich versuchen wir auch, so viele Medikamente wie möglich selbst herzustellen, obwohl da ebenfalls das Problem besteht, dass Rohstoffe im Ausland gekauft werden müssen. Schwerpunkte der Medizinforschung in Kuba sind der Kampf gegen Krebs, Diabetes mellitus und AIDS, weil diese Krankheiten tödlich sein können.

Die Blockade hat uns gezwungen, Alternativen zu entwickeln, nicht nur im Bereich der Medizin, sondern auch in der Landwirtschaft, wo weder Kunstdünger noch Pestizide benutzt werden. Beim Reisanbau werden winzige Fische eingesetzt, die Schädlinge fressen. Oder: Trotz Blockade hat die in Kuba entwickelte Methode zur beschleunigten Alphabetisierung weltweit schon zehn Millionen Erwachsenen geholfen. »Operación Milagro«, das Programm zur Heilung verschiedener Augenkrankheiten, hat bis jetzt in verschiedenen Ländern sieben Millionen Menschen das Augenlicht zurückgegeben oder verbessert. Etwa 30.000 kubanische Mediziner arbeiten in Afrika, Asien und Lateinamerika, 84.000 Ärztinnen und Ärzte aus diesen Ländern sind in Kuba ausgebildet worden. Also stellen Sie sich vor, wie wir ohne Blockade leben würden.

Vor fünf Jahren wurde ein neues Wirtschaftsmodell eingeführt, seitdem sind etwa eine halbe Million Arbeitsstellen privatisiert worden. Können Sie etwas sagen über die Fortschritte bei der Umsetzung dieser Lineamientos, der »Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei und der Revolution«?

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die kubanische Wirtschaft anfälliger geworden für Rückschläge in anderen Teilen der Welt. Trotz Entwicklung der Tourismusindustrie und Anstrengungen zur Importsubstituierung gibt es ein enormes Devisendefizit. Schon seit etwa zwanzig Jahren wird deshalb der Versuch gemacht, die Löhne abhängig von Leistung und Resultat zu differenzieren und zu erhöhen.

Die Aktualisierung der Wirtschaft, die vor fünf Jahren beschlossen wurde, beinhaltet, dass unproduktive Arbeitsstellen abgebaut und neu organisiert werden, zum Teil durch Verlagerung in Kooperativen, zum Teil durch Privatisierung. Sie legalisiert auch bereits existierende Strukturen, die bis dahin nur geduldet wurden, wie privat organisierte Friseure, Schreiner und so weiter. Es handelt sich vor allem um Arbeitsstellen im Dienstleistungssektor, kaum in der Produktion.

Die Eigentumsverhältnisse in den wichtigsten Branchen bleiben von diesen Maßnahmen ausgeschlossen. In den Bereichen Bildung, Gesundheit und Verteidigung wird es nie die geringste Privatisierung geben, weil das gar nicht anders möglich ist. Gesundheit ist ein Menschenrecht, kein Geschäft. Und Bildung ist eine Notwendigkeit, weil nur ein ausgebildetes Volk ein freies Volk sein kann. Die Lineamientos sind also ein beschränktes Programm, und die Ergebnisse werden dauernd überprüft und, wo nötig, angepasst oder korrigiert.

Raúl Castro hat vor sechs Monaten auf dem VII. Parteitag der KP Kubas gesagt, dass dieser »der letzte sein wird, der von der historischen Generation geleitet wird, die das Banner der Revolution und des Sozialismus übergeben wird«. Wo sind die Nachwuchskräfte in der Führung des Landes?

Das Mindestalter für die Aufnahme in die Partei ist etwa 30 Jahre, und die Mitgliedschaft hängt von dem ab, was die Person für die Gemeinschaft geleistet hat, von der sie auch gewählt werden muss. Unsere Partei ist keine Massenpartei. Sie muss die besten Leute zusammenbringen, weil sie die Funktion hat, zu kontrollieren, dass die Volksmacht nicht von den gesetzten Zielen abweicht. Es gibt Anstrengungen, mehr Frauen in die Partei aufzunehmen. Mich interessiert mehr, ob Leute der Sache wirklich dienen, und weniger, ob sie Mann oder Frau sind. Ich denke, da gibt es noch viel zu tun, vor allem mit den Jüngeren, aber es gibt sie, auch wenn wir mit ihrer Anzahl nicht zufrieden sind und wir uns in der Beziehung mehr Mühe geben müssen.

Auch wenn eines Tages die Blockade gegen Kuba aufgehoben wird, wird der Imperialismus nicht aufhören mit dem Versuch, jede antikapitalistische Initiative einzukreisen und zu zerstören. Sie haben uns vor einigen Jahren gesagt (jW vom 16. Oktober 2010), dass in diesem Zusammenhang nur die internationale Solidarität einer einheitlichen Linken etwas gegen den Imperialismus ausrichten könne. Was kann die Linke in Europa konkret tun, um zu helfen, die Errungenschaften der kubanischen Revolution zu erhalten?

Was sie bis jetzt gemacht hat: Solidarisch zu bleiben mit Kuba, zunächst aus Respekt, das ist fundamental. Nicht sofort zu richten über Sachen, die sie nicht selbst gelebt hat, Vertrauen zu haben im revolutionären Prozess, und, wenn es Fragen gibt, sie uns zu stellen. Wir antworten ja. Wir sind nicht unfehlbar, wir versuchen, uns ständig zu verbessern. Was jetzt ansteht, ist der Kampf gegen die Blockade. Sie muss gestoppt werden. Aber genauso wichtig ist es für uns, dass es der Linken in Europa gelingt, mit Rückhalt in der Bevölkerung ihre Gesellschaft zu verändern. Die beste Hilfe, die Kuba bekommen könnte, wäre ein Durchbruch der Linken in den kapitalistischen Zentren, damit wir die heutige Realität gemeinsam verändern können. Wir müssen uns zusammentun, Verbindungen suchen, Einheit herstellen. Wir müssen gegen jede Einmischung in anderen Ländern kämpfen. Wir müssen dafür eintreten, dass das Geld der kapitalistischen Mächte nicht dem internationalen Terrorismus dient. Zum Beispiel werden die Aggressionen gegen das syrische Volk mit europäischem Geld unterstützt. Ihr dürft so etwas nicht zulassen! Ihr dürft nicht zulassen, dass Kriege von europäischem Boden aus angezettelt und geführt werden. Ihr habt zwei Weltkriege erlebt, der dritte wird das Ende der Menschheit sein. Deswegen: Wenn die Linke in Europa genügend Kraft entwickeln kann, um diese Realität zu ändern, kommen wir vorwärts, dann machen wir »eine andere Welt« erst wirklich möglich.

Aleida Guevara March ist die Tochter von Ernesto »Che« Guevara und Aleida March. Sie ist Ärztin am William-Soler-Kinderkrankenhaus in Havanna, unterrichtet an der Escuela Latinoamericana de Medicina und an einer Grundschule. Sie hat als Kinderärztin in Angola, Ecuador und Nicaragua gearbeitet und beteiligt sich als Mitglied der KP Kubas oft an Veranstaltungen im Ausland.

Übersetzung aus dem Spanischen: Nina und Vladimir Augustin

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

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Interview: Ron Augustin
Junge Welt, 01.10.2016