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Nachrichten aus und über Kuba

Nachrichten, Berichte, Reportagen zu aktuellen Entwicklungen, Hintergründen und Ereignissen in Kuba, internationale Beziehungen und der Solidarität mit Kuba.


Der 12. Oktober, ein Feiertag in ganz Lateinamerika

Kaum ein anderes Datum hat so unterschiedliche Inhaltsveränderungen erlebt wie der 12. Oktober 1492. Bleibend ist dabei die anhaltende eurozentristische Sichtweise und damit unterschwellig das Überlegenheitsgefühl der Europäer bzw. der "weißen Rasse". Jahrhundertelang wurde der 12. Oktober als Tag der Entdeckung Amerikas gefeiert. Kolumbus setzte damals seinen Fuß auf eine von den Eingeborenen Guanahani genannte Insel, die er in San Salvador umbenannte. 1507 erschien eine Weltkarte des Freiburger Kartographen Martin Waldseemüller mit der Bezeichnung Amerika für den neuen Kontinent, weil sein Kollege, der Dichter Matthias Ringmann, Amerigo Vespuccis Reiseberichte gelesen hatte und diesen fälschlicherweise für den Entdecker der neuen Welt hielt. Mit dieser Benennung wurde die arrogante Tradition fortgesetzt, die von den Eingeborenen benutzten Bezeichnungen durch europäische Namen zu ersetzen. Die Bewohner des nördlichen Südamerikas nannten ihren Kontinent Abya Yala, aber das interessierte die europäischen Eroberer ebensowenig wie andere Kulturgüter, die im Zuge der als Christianisierung verbrämten Eroberung gnadenlos als Teufelszeug vernichtet wurden. In letzter Zeit wird die Bezeichnung Abya Yala (aus Kuna-Sprache übersetzt: "Land in voller Reife" bzw. "Land des lebensnotwendigen Blutes") von den Lateinamerikanern benutzt, die sich bewußt von der Bevormundung durch die Europäer absetzen wollen.

Anfang des 20. Jahrhunderts kam der ehemalige spanische Minister Faustino Rodríguez auf die Idee, den 12. Oktober als "Día de la Raza" (Tag der Rasse) im gesamten iberoamerikanischen Bereich zu begehen. Damit waren aber mitnichten die eingeborenen Völker gemeint, sondern die neu entstandene "Rasse" der Mestizen, also der Nachkommen aus Verbindungen zwischen Indios und Spaniern. Da die aus den ehemaligen spanischen Kolonien hervorgegangenen lateinamerikanischen Nationalstaaten überwiegend von eben diesen Mestizen regiert wurden, versäumten sie es nicht, in ihren Ländern diesen Tag als Feiertag einzuführen.

In Spanien beging man den "Tag der Rasse" von 1914 bis 1957 als nationalen Feiertag. 1958 – während der Franco-Diktatur – wurde er in "Día de la Hispanidad" (Tag der Hispanität) umbenannt. Das blieb so bis 1987. Heutzutage wird der 12. Oktober wiederum als spanischer Nationalfeiertag begangen. Er ersetzt in dieser Funktion den "Tag der Nationalen Erhebung", der von Franco in Erinnerung an seinen Putsch am 18. Juli 1936 zum Nationalfeiertag erklärt worden war und als solcher bis zum Ende der Franco-Diktatur begangen wurde.

Der sich im Zuge der verstärkten Besinnung auf die eigene Geschichte Anfang des neuen Jahrtausends herausbildende Bewußtseins stand in Lateinamerika spiegelt sich in den einzelnen Ländern in einer neuen Bezeichnung des Tages sehr unterschiedlich wider:

- in Argentinien seit 2010 "Tag des Respekts der kulturellen Diversität",
- in Bolivien seit 2011 "Tag der Entkolonialisierung",
- in Chile seit 2000 "Tag des Treffens zweier Welten",
- in Costa Rica 1994 "Tag der Kulturen",
- in der Dominikanischen Republik zwei Bezeichnungen: "Tag der Identität und kulturellen Diversität" und "Tag des Treffens zweier Welten",
- in Ecuador seit 2011 "Tag der Interkultualität und der Plurinationalität",
- in Nikaragua seit 2008 "Tag des indigenen Widerstandes",
- in Peru seit 2009 "Tag der originären Völker und des interkulturellen Dialogs",
- in Uruguay "Tag der (beiden) Amerikas",
- in Venezuela seit 2002 "Tag des indigenen Widerstandes".
- Honduras, Kolumbien und Mexiko begehen den 12. Oktober weiterhin als "Tag der Rasse".
- Auf Kuba wird der 12. Oktober durch das Gedenken an zwei andere Oktobertage überlagert, durch den 10. Oktober, Beginn des Befreiungskrieges gegen die spanische Kolonialmacht 1868, und durch den 20. Oktober, der seit 1980 als "Tag der kubanischen Kultur" in Erinnerung an das erstmalige Ertönen der Nationalhymne 1868 gefeiert wird.

Gegenwärtig ist es noch immer in vielen lateinamerikanischen Ländern so, daß ein Abiturient mehr über die griechische Mythologie und das Altertum weiß als über die präkolumbische Geschichte und die originären Traditionen. Das ist der Übernahme europäischer Schulsysteme und Lehrinhalte geschuldet, was auch Ausdruck der Anerkennung und Hinnahme einer Überlegenheit der europäischen Geisteswelt war. Die Besinnung auf eigene Werte setzte vor allem mit der Regierungsübernahme von Mitte-Links-Regierungen in Venezuela, Argentinien, Bolivien, Ecuador und Nikaragua ein, die der politischen Unabhängigkeit eine wirtschaftliche Selbständigkeit hinzufügen und damit eine wahrhaftige Unabhängigkeit ihrer Länder erreichen wollten. Mit den neuen Verfassungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, n denen die Rechte der originären Völker verankert wurden, erfuhren die Indigenen in den anderen Ländern eine starke öffentliche moralische und politische Unterstützung bei ihrem Kampf um ihre Rechte und gegen die Zerstörung der Umwelt, welche die Zerschlagung ihrer Kultur und Identität zur Folge hat. Da geht es um Widerstand gegen umweltzerstörende Großprojekte, die ohne Rücksicht auf die Lebensgewohnheiten der Indigenen mit Bestechung, Terror und Mord durchgeboxt werden, trotz der von vielen lateinamerikanischen Ländern ratifizierten Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO), der zufolge die betroffenen Eingeborenen befragt werden müssen. (Die BRD hat diese Konvention nicht ratifiziert, weil die Regierung befürchtet, die Sorben könnten als nationale Minderheit eingestuft werden und sich dann auf diese Konvention bei ihrem Kampf gegen Tagebauerweiterungen in der Lausitz berufen.) Diese Großprojekte – in ihrer Mehrzahl Staudämme und Megatagebaue – kommen nicht den betroffenen Anwohnern zugute, sondern dienen den Interessen internationaler Konzerne und der mit ihnen verbandelten herrschenden Oligarchien.

Schon Karl Marx führte im 23. und 24. Kapitel des "Kapitals" die Eroberung und Ausplünderung Amerikas als krasses Beispiel für die ursprüngliche Akkumulation an. "Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation." "Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz floß ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital." (MEW, 23/779 bzw. 781) Ohne diese ursprüngliche Akkumulation durch Ausplünderung anderer Nationen wäre die kapitalistische Entwicklung zum heutigen industrialisierten Europa nicht möglich gewesen.

Aus heutiger Sicht kann der 12. Oktober 1492 durchaus als Beginn der Globalisierung angesehen werden. Sie ist eine Fortsetzung des Kolonialismus mit den Mitteln des technischen Fortschritts und neuer Handelsformen wie den sogenannten Freihandelsverträgen, die das Ziel haben, die Länder der Dritten Welt in ökonomischer Abhängigkeit als Rohstofflieferanten zu halten. Papst Franziskus urteilte im Juli 2015 bei seinem Bolivienbesuch über die "neuen Formen, den Kolonialismus auszuüben", mit den Worten, daß der Neokolonialismus "unterschiedliche Fassaden anwendet; manchmal ist es die anonyme Macht des Idols Geld: Kapitalgesellschaften, Pfandleiher, einige sogenannte Freihandelsverträge und die Auferlegung von Austeritätsmaßnahmen, in deren Folge immer die Werktätigen und die Armen den Gürtel enger schnallen müssen".

Zwar kommt es im Rahmen der Globalisierung auch zu einem gewissen kulturellen Austausch, jedoch überwiegt bei weitem die massive Verbreitung "westlicher" Werte. Hugo Chávez drückte das wie folgt aus: "Die Globalisierung hat nicht die angebliche gegenseitige Abhängigkeit gebracht, sondern eine Verschärfung der Abhängigkeit. Weit davon entfernt, den Reichtum zu globalisieren, hat sich die Armut weiter ausgebreitet. Die Entwicklung wurde weder verallgemeinert, noch wurde sie geteilt. Ganz im Gegenteil, die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden ist so gigantisch geworden, daß die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung und der Blindheit derjenigen offensichtlich ist, die danach trachten, sie zu rechtfertigen, um weiterhin in Überfluß und Verschwendung zu schwelgen."

Und genau gegen diese Globalisierung westlicher Art wehren sich die "entdeckten" Völker in Lateinamerika immer hör- und sichtbarer. In zunehmendem Maße besinnen sie sich auf ihre Traditionen, bekennen sich zu ihrer Geschichte, reklamieren ihre Rechte. In diesem Prozeß ist mit einem Male von Völkerschaften die Rede, die vor einigen Jahren in der veröffentlichten Meinung kaum eine Rolle spielten, z. B. die Mapuche im Süden des südamerikanischen Kontinents, die jetzt auf beiden Seiten der Grenze zwischen Argentinien und Chile um die Rückgabe ihres Landes und gegen industrielle Großprojekte kämpfen.

Um die Vormachtstellung der internationalen Konzerne abzusichern, scheut man nicht vor Terror, Einschüchterung, der Ermordung und dem Verschwindenlassen von Aktivisten zurück – immer im Namen des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts westlicher Prägung. Viele der eingeborenen Völker wollen diese westliche Zivilisation nicht; sie möchten vielmehr gemäß ihren Traditionen im Einklang mit der Natur und der Umwelt leben, diese nicht für den Wohlstand saturierter Bewohner der sogenannten Ersten Welt opfern. Von den indigenen Völkern werden das kapitalistische Ausbeutungssystem zunehmend infrage gestellt. In diesem Bewußtsein haben die Völker begonnen, auch ihren Kampf zu "globalisieren". Über bilaterale und lateinamerikanische Zusammenarbeit hinaus gab es bereits internationale Treffen wie das Welttreffen 2013 in Cochabamba/Bolivien, wo es nicht nur um Souveränität und ein würdiges Leben der Völker, um eine demokratischere und solidarische Gesellschaft im Einklang mit der Natur ging. Ganz gezielt wurden die Ursachen angegangen, die im kapitalistischen Ausbeutersystem verortet werden, und die Herrschaftsinstrumente wie NATO und Freihandelszonen angeprangert.

Die Notwendigkeit grenzübergreifender lateinamerikanischer Zusammenarbeit der indigenen Völker ergibt sich schon allein aus der Tatsache, daß viele originäre Ethnien durch willkürliche Grenzziehungen auseinandergerissen wurden (z. B. verteilen sich Quechua-Angehörige auf Ecuador, Bolivien, Peru, Chile; Guaraní leben in Bolivien, Paraguay und Argentinien.) 2014 gab es in Lima einen alternativen Klimagipfel, auf dem 3000 Vertreter von gesellschaftlichen Organisationen und indigenen Völkern in ihrem Abschlußdokument eine größere Verantwortung der Industrienationen gegenüber den Ländern des globalen Südens einforderten.

Der 12. Oktober ist immer wieder eine Gelegenheit, über die Auswirkungen der Entdeckung Amerikas durch die Europäer nachzudenken. Da die mit der Entdeckung verbundene Eroberung einen schalen Beigeschmack hat, begann man auch in Europa nach einer neuen Bezeichnung zu suchen. Zum 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas 1992 sprach man bevorzugt von der Begegnung bzw. vom Aufeinanderprallen zweier Kulturen, womit vornehm verschwiegen wurde, welche "Kultur" sich auf welche Art und Weise und zu welchem Preis durchsetzte. In der Erklärung des 3. kontinentalen Treffens der Kampagne "indianischer, schwarzer und Volkswiderstand" vom 12. Oktober 1992 in Managua heißt es: "Wir Männer und Frauen der Völker und Nationen des großen Kontinents Abya Yala sind die Erben der ursprünglichen Zivilisationen, die die höchsten Stufen des Wissens und der kommunalen Organisation erreicht und die Flüsse, Pflanzen und Tiere in enger Harmonie mit dem Kosmos und unserer Mutter Erde domestiziert haben. ... Nach 500 Jahren sind wir präsent! Wir lehnen die Feiern der Kolonisatoren und ihrer Komplizen ab. Wir fordern unser Recht, über unsere Zukunft selbst zu bestimmen. Hier sind wir, um die Träger unserer Utopie zu ehren, die während der Invasion, der Kolonialzeit und während der Unabhängigkeit fielen und die heute noch im offenen Kampf gegen die neue Eroberung, ihre Götter, ihre Könige, ihre Monumente und die Schwarzseher fallen. ... Nach 500 Jahren sind wir hier präsent! Frauen und Männer entdecken unsere Wurzeln wieder, ohne Unterscheidung nach Hautfarbe, Sprache, Kulturen, Gebiets- und Ländergrenzen. Wir gewinnen das wieder, was uns gehört. Wir entwerfen ein neues Projekt gegenüber dem, das uns bedroht und angreift. Ein Projekt, das Elend und Leid ausschließt; mit dem wir die alten Formen der Autonomie wieder aufgreifen, die uns in der Vergangenheit groß gemacht hatten; mit dem die Kinder und die jungen Generationen eine Zukunft haben."

Gemäß dem Prinzip "Teile und herrsche!" wird der auf 500 Jahre kolonialer Ausbeutung anderer Völker beruhende vergleichsweise relative Wohlstand der Arbeiter in den entwickelten Ländern dazu genutzt, sie gegen die Werktätigen der Dritten Welt auszuspielen. Den Bürgern hier wird suggeriert, auch Nutznießer der kolonialistischen Globalisierung zu sein, zusammen mit den Konzernen in einem Boot zu sitzen, das voll sei und auf dem kein Platz mehr sei für Ärmere. Diese ideologische Klammer aufzubrechen, ist ungeheuer schwierig. Man sieht es an den Wahlerfolgen der AfD und anderer rechter Parteien in Europa. In dieser egoistischen Gesellschaft fällt es vielen schwer, über die eigene Nasenspitze hinauszudenken, wobei die konzern(ge)hörigen Medien darauf hinarbeiten, den Menschen das eigenständige Denken abzugewöhnen und sie auf die Denkmuster der Herrschenden einzuschwören.

Fidel Castro sagte 1992 bei der Einweihung eines Denkmalparkes an der Stelle, wo Kolumbus 500 Jahre zuvor zum ersten Mal seinen Fuß auf kubanisches Territorium setzte: "Ich bin nicht dagegen, des 500. Jahrestages der Ankunft Christoph Kolumbus’ in Amerika zu gedenken, und viel weniger dagegen, die historische Transzendenz des Ereignisses anzuerkennen. Doch dieses Gedenken darf nicht zur simplen Verherrlichung der sogenannten Entdeckung und ihrer Folgen werden, es sollte eine kritische Erinnerung an das Ereignis sein ...".

Rotfuchs Gerhard Mertschenk, Berlin
Rotfuchs, 02.11.2018