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Romantischer Weltenbummler

Vorabdruck. Der Weg Ernesto Guevaras zum Revolutionär war keineswegs vorgezeichnet – die frühen Jahre des Che.

Ernesto Guevara im Jahr 1947 Foto: jW-Archiv
Da träumte er noch davon, ein berühmter Mediziner zu werden – der junge Ernesto Guevara im Jahr 1947 auf dem Balkon der Wohnung seiner Elten in Buenos Aires, Argentinien


In diesen Tagen erscheint im Kölner Papy­rossa-Verlag die kleine Che-Guevara-Biographie von André Scheer. Wir dokumentieren daraus im folgenden die leicht gekürzten Kapitel über die Jugend des argentinischen Revolutionärs. Die Redaktion dankt Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)

Am 7. Juli 1953 verabschiedete sich auf dem Bahnhof Retiro Belgrano in Buenos Aires ein junger Mann von seinen Eltern und Geschwistern. Drei Monate zuvor hatte er sein Medizinstudium abgeschlossen, und seine Eltern hatten gehofft, dass er nun ruhiger werden und eine angebotene Stelle bei einem anerkannten Arzt annehmen würde. Doch der 25jährige enttäuschte solche Erwartungen.

Der junge Mann, der sich da winkend aus dem Fenster lehnte, war Ernesto Guevara de la Serna, der später als »Che« weltberühmt wurde. »In den Adern meines Sohnes floss das Blut irischer Rebellen, spanischer Konquistadoren und argentinischer Patrioten«, erklärte sein Vater 1969, zwei Jahre nach dem Tod seines Sohnes bei einem Gespräch mit dem sowjetischen Che-Biographen Josef Lawretzki. »Offensichtlich hatte Che manche Charakterzüge unserer unruhigen Vorfahren ererbt. Er hatte in seinem Wesen etwas, was ihn in die Ferne zog, was ihn gefährliche Abenteuer und neue Ideen suchen ließ.«

Ernesto Guevara de la Serna wurde am 14. Juni 1928 im argentinischen Rosario als erstes Kind von Ernesto Guevara Lynch und Celia de la Serna geboren – so jedenfalls steht es in seiner Geburtsurkunde. Es gibt allerdings zumindest einen Bericht, wonach der Junge schon einen Monat zuvor auf die Welt gekommen sein soll. Die 2011 verstorbene Julia Costenla, die eine Biographie über Celia verfasst hat und sich als eine enge Freundin bezeichnete, schrieb in ihrem Buch, dass ihr Celia unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt habe, dass sie Ernesto Senior geheiratet habe, als sie schon schwanger war. Das junge Ehepaar habe Gerede verhindern wollen und sei deshalb nach der Hochzeit am 9. November 1927 schnell in die Flitterwochen nach Misiones im Norden Argentiniens verschwunden, damit niemand die »zu früh« sichtbar werdende Schwangerschaft bemerkte. »Am 14. Mai 1928 wurde unser erster Sohn geboren und wir gaben ihm den Namen seines Vaters«, soll Mutter Celia 1963 der Journalistin erzählt haben. »Wir haben ihn einen Monat später registrieren lassen und haben immer von einer Frühgeburt gesprochen, um den Anschein zu wahren.« Andere Belege für dieses Datum gibt es nicht. Das Krankenhaus in Rosario, in dem die Geburt stattgefunden haben soll, brannte Jahre später ab – es gibt keine Unterlagen mehr. Ernestos Vater überspringt in seiner Biographie »Mein Sohn Che« den Geburtstag seines ältesten Sohnes kommentarlos. Und Ernestos jüngerem Bruder Roberto soll Mutter Celia gesagt haben, dass der Geburtstag tatsächlich der 14. Juni 1928 gewesen sei, allerdings sei auf der Geburtsurkunde die Adresse angegeben, wo das Paar in den ersten Tagen gewohnt hatte, und nicht der wirkliche Ort seiner Geburt.

Bürgerliche Familie

Ches Mutter, die 1906 geborene Celia, stammte aus einer erzkonservativen und religiösen Familie, lehnte sich jedoch schon als junge Frau gegen die Konventionen ihrer Klasse auf, schnitt ihre Haare kurz, rauchte und engagierte sich für das Frauenwahlrecht. Doch Politik sei für seine Mutter lange ein »abstrakter Begriff« geblieben, erinnert sich Ernestos jüngerer Bruder Juan Martín in seiner Biographie »Mein Bruder Che«. Erst die ungerechte Behandlung der »Mensú«, der Landarbeiter im Norden Argentiniens, habe in ihr politisches Bewusstsein geweckt.

Im Alter von zwei Jahren erkrankte der kleine Ernesto, den seine Eltern »Tete« nannten, schwer an Asthma. Trotz unermüdlicher Versuche seiner Familie, die ihn zu unzähligen Ärzten brachte und jede neue Medizin ausprobierte, begleitete ihn die Krankheit bis zum Ende seines Lebens. Das Asthma zwang die Familie zu mehrfachen Wohnortwechseln, immer auf der Suche nach einer Umgebung, die für Ernestos Gesundheitszustand besser war. Seine Mutter war sogar gezwungen, ihn einige Zeit lang zu Hause zu unterrichten, weil er wegen der schweren Asthmaanfälle nicht die Schule besuchen konnte. Von ihr lernte er auch die französische Sprache. Erst im Alter von neun Jahren wurde er eingeschult. Celia konnte es jedoch nicht übers Herz bringen, den kleinen Ernesto einzusperren, sondern ließ ihn mit seinen gleichaltrigen Freunden herumtoben – selbst wenn diese den Jungen gelegentlich nach Hause tragen mussten, wenn er wegen eines Asthmaanfalls nicht selber laufen konnte. Alle nahmen das als gegeben hin, erinnerte sich später einer dieser Freunde, Carlos Ferrer: »Wir hatten weder Mitleid noch Angst. Wir standen ihm in diesen Momenten bei, wir besuchten ihn zu Hause. (…) Wir wussten, kurz darauf würde er wieder reiten, schwimmen, Fußball oder Golf spielen.«

Die Guevaras waren eine bürgerliche Familie der Mittelschicht, nicht reich, manchmal nahezu mittellos, aber auch nicht im Elend lebend. Vater Ernesto Lynch ist seinen Angehörigen als jemand in Erinnerung geblieben, der nie lange an einem Projekt arbeiten konnte, sondern immer neue Geschäftsideen ausprobierte. Meist waren diese wohl von wenig Erfolg gekrönt, so dass die Familie immer wieder lange Zeiten des Mangels durchlebte. Wenn doch einmal Geld vorhanden war, wurde es sofort mit beiden Händen ausgegeben. Andererseits verfügte Vater Guevara offenbar über gute Kontakte in »höhere« Kreise und konnte so immer wieder Aufträge als Architekt an Land ziehen, obwohl er nie ein Architektur-Studium abgeschlossen hatte.

Solidarität mit Spanien

Ernesto Lynch war sozialdemokratisch orientiert und stimmte nach eigenen Angaben jahrzehntelang für die Sozialistische Partei Argentiniens, ohne dieser als Mitglied anzugehören. Er sei in dieser Zeit »in politischen Dingen sehr unbeschlagen« gewesen, räumte Ches Vater später selbst ein. Allerdings war er aktiver Antifaschist und unterstützte während des Spanischen Bürgerkriegs die Republikaner, die in Argentinien Zuflucht fanden. Auch den jungen Ernesto bewegten ab 1936 die Berichte aus Spanien, und er verfolgte die Entwicklung des Bürgerkrieges mit großem Interesse. Die Guevaras hatten Kontakt zur Familie eines spanischen Arztes, Juan González Aguilar, der eine hohe Funktion im Gesundheitswesen der Spanischen Republik bekleidet und seine Angehörigen zu ihrem Schutz nach Argentinien geschickt hatte. Die Familie ließ sich in Alta Gracia nieder, wo auch die Guevaras wohnten, und Ernesto freundete sich mit den Kindern aus Spanien an. So lernte er im Haus der Familie González Aguilar Republikaner kennen, und dieser direkte Kontakt entfachte sein leidenschaftliches Interesse für das Schicksal Spaniens. »Ernesto schnitt sorgfältig alle Nachrichten aus den Zeitungen aus und in seinem Zimmer hing eine große Spanien-Karte, auf der er die Truppenbewegungen verfolgte und kleine Fähnchen an die Stelle der verschiedenen Fronten steckte«, berichtete sein Vater. »Ich glaube, dass er in dieser Zeit begann, seine ablehnende Einstellung gegenüber Diktaturen, die die Völker unterdrücken, zu entwickeln.«

1939 endete der Krieg mit der Niederlage der Republikaner, und viele weitere Flüchtlinge kamen nach Argentinien. Wenige Monate später begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg. Argentinien war zwar kein direkter Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen, jedoch befürchteten Antifaschisten eine wachsende Einflussnahme der Nazis, deren Anspruch die Weltherrschaft war. Tatsächlich waren die Faschisten auch in Argentinien präsent, wo seit Generationen viele aus Deutschland eingewanderte Menschen lebten. Bereits am 7. August 1931 war in Buenos Aires eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet worden. Nach der Machtübertragung an die Faschisten in Deutschland entstanden in Argentinien organisatorisch und personell starke Strukturen, die vom deutschen Botschafter geleitet wurden. Am 10. April 1938 versammelten sich im Stadion »Luna Park« zwischen 12.000 und 20.000 deutsche, österreichische und argentinische Anhänger der Nazis zu einer Kundgebung unter dem Motto »Tag der Einheit«, mit der Österreichs »Anschluss« an das Deutsche Reich gefeiert werden sollte. Während drinnen Hakenkreuzfahnen hingen und die Veranstaltung an die Kundgebungen im Berliner Sportpalast erinnerte, wie der anwesende US-Vizekonsul W. F. Busser notierte, kam es vor den Toren des Stadions zu Auseinandersetzungen zwischen Antifaschisten und der Polizei. Trotz eines Verbotes hatten sich Studierende der Federación Universitaria Argentina (FUA) und Mitglieder sozialistischer Jugendgruppen zu einer Gegendemonstration versammelt. Hakenkreuzfahnen wurden verbrannt und das Deutsch-Argentinische Kulturzentrum mit Steinen beworfen. Zwei unbeteiligte Passanten wurden von Polizeipferden zu Tode getrampelt. Wenige Tage später entschuldigte sich der damalige Interims-Außenminister Manuel Alvarado öffentlich beim deutschen Geschäftsträger dafür, dass sich eine »bestimmte Presse« beleidigend gegenüber Deutschland verhalten und »die herzlichen Beziehungen zwischen beiden Nationen« ignoriert habe.

An dieser Konfrontation waren Ernesto und sein Vater nicht beteiligt. Sie engagierten sich jedoch in der 1940 gegründeten »Acción Argentina«, einer aus dem Umfeld der Sozialistischen Partei entwickelten Bündnisorganisation, die sich gegen die Umtriebe der Faschisten in Argentinien wehrte. Vater Guevara leitete das örtliche Komitee der Organisation in Alta Gracia und war überzeugt davon, dass auch in Argentinien eine Invasion durch die Deutschen drohte. »Wir erhielten zahlreiche Hinweise, die eine Infiltration durch die Nazis in der Provinz Córdoba belegten, und die daher zu einer realen Gefahr wurden«, schrieb Ernesto Guevara Lynch in seinen Erinnerungen. »So ermittelten wir, dass von Bolivien kommend mit Waffen beladene Lastwagen sich in unserer Provinz befanden, und zwar im Tal von Calamuchita, ohne dass die Provinzregierung davon wusste. In diesem Tal befanden sich ›zufällig‹ die internierten Besatzungsmitglieder der ›Graf Spee‹, einem deutschen Panzerkreuzer, der (…) von seinem Kapitän vor Montevideo versenkt worden war. Die Besatzung wurde anschließend von unserer Regierung in Gewahrsam genommen und im Tal von Calamuchita interniert. Dort exerzierten sie mit Stöcken anstelle von Gewehren.«

Jagd nach Spionen

Für den jungen Ernesto war es wohl eher ein Abenteuer als bewusste politische Tätigkeit, mit seinem Vater oder auch den Gefährten der Jugendgruppe der »Acción Argentina« auf die »Jagd nach Spionen« zu gehen. Sie zogen durch die Berge der Umgebung, um nach den Spuren deutscher Machenschaften Ausschau zu halten.

Im Hause der Guevaras gab es eine umfangreiche Bibliothek, und Ernesto begann alles zu lesen, was ihm in die Finger kam. In den Zeiten, in denen er wegen seiner Krankheit ans Bett gefesselt war, verschlang er zunächst vor allem Abenteuerbücher, Romane und Reisebeschreibungen, in seinem Regal standen Robert Louis Stevenson, Jules Verne und Alexandre Dumas. Sein Freund Alberto Granado erzählte 1967 in einem Interview mit der kubanischen Tageszeitung Granma, Ernesto habe schon als 14jähriger Freud gelesen und die Gedichte von Charles Baudelaire geliebt. »Er las Dumas, Verlaine und Mallarmé in der Originalsprache. Später, unter dem Einfluss der exilierten (spanischen) Republikaner wandte er sich Federico García Lorca und Antonio Machado zu. Er begeisterte sich auch für den chilenischen Dichter Pablo Neruda.« Mit 16 Jahren soll er bereits alle Bücher der 3.000 Bände umfassenden Familienbibliothek gelesen haben.

Das umfassende Buchwissen des jungen Ernesto spiegelte sich in dem »Philosophischen Wörterbuch« wider, das er im Alter von 17 Jahren zu schreiben begann. Über Jahre hinweg notierte er Stichworte, ihm wichtig erscheinende Aussagen und biographische Daten zu den von ihm gelesenen Autoren. Oft stellt er dabei sich widersprechende Aussagen bzw. Zitate gegenüber. Er habe damit begonnen, weil er gemerkt habe, dass er selbst und andere Studierende ein solches Nachschlagewerk bräuchten, erzählte er 1964 dem uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano. Die Hefte begleiteten ihn sogar auf seiner dritten großen Lateinamerikareise, die ihn ab Juli 1953 über Bolivien und Guatemala nach Mexiko führte. Während seines Aufenthalts in Mexiko 1954 bis 1956 machte er sich daran, eine Zusammenfassung der sechs vorherigen Hefte in einem siebten anzufertigen.

Politische Entwicklung

Nach dem Sieg der Kubanischen Revolution bat er einen Genossen, Roberto Cáceres alias Patojo, darum, ihm die Hefte aus Mexiko nach Havanna mitzubringen. Sie werden heute im »Centro de Estudios Che Guevara« in Havanna aufbewahrt. 2012 erschienen umfangreiche Auszüge zusammen mit späteren philosophischen Texten Guevaras in einem vom Zentrum und dem Verlag Ocean Sur unter dem Titel »Apuntes Filosóficos« (Philosophische Notizen) herausgegebenen Buch.

Aus diesen »Philosophischen Notizen« lässt sich nachvollziehen, wie sich Ernestos politisches Denken im Laufe der Zeit entwickelte. Zunächst waren seine Aufzeichnungen eine noch recht ziellose Annäherung an verschiedenste philosophische Schulen. Linke Ansätze, insbesondere die Theorie von Marx und Engels, spielen von Anfang an eine Rolle, doch eine eindeutige Parteinahme ist nicht festzustellen. Das geht so weit, dass Ernesto einem biographischen Abschnitt über Karl Marx nicht nur ein Zitat von Friedrich Engels voranstellt (»Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente. Ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher auch mit Recht seinen Namen.«), sondern kommentarlos auch eines von Adolf Hitler aus dessen »Mein Kampf«. Trotzdem bekräftigte sein Vater im Gespräch mit Josef Lawretzki: »In jenen Jahren war Tete Demokrat und Antifaschist, das steht außer Zweifel.«

Tatsächlich zeichnete sich bereits in diesen Jahren eine immer stärker werdende Parteinahme für die Sowjetunion ab, die zu diesem Zeitpunkt – unter der Führung der Roten Armee war in Europa der Faschismus zerschlagen worden, der Kapitalismus war in eine ideologische Krise geraten – nicht nur Kommunisten als Alternative zur Dominanz der USA und der kapitalistischen Ordnung erschien. Es kam zu ersten politischen Streitgesprächen zwischen Vater und Sohn. Der ältere Ernesto hielt zu den Vereinigten Staaten: »Ich war Nazigegner und hatte mich während des Weltkrieges auf die Seite der Alliierten gestellt. (…) Ich dachte, dass wir als Argentinier, die wir unser Land liebten und es nicht unter fremder Herrschaft sehen wollten, die Verpflichtung hatten, uns auf die Seite derjenigen Länder zu stellen, die sich gegen die Naziherrschaft wehrten angesichts der Tatsache, dass Hitler die Weltherrschaft anstrebte. (…) Aus dieser Logik ergab sich aber ebenso, auf der Seite der Vereinigten Staaten zu sein, die vorgaben, die großen Verteidiger der demokratischen Sache zu sein.«

Diese positive Einschätzung behielt er auch nach dem Ende des Krieges in Europa und Asien bei. Sein Sohn lehnte die »Gringos« dagegen schon damals ab. In den Jahren des Koreakrieges 1950 bis 1953 soll es im Hause Guevara zu lautstarken Diskussionen gekommen sein. Sein Sohn habe die Rolle der Vereinigten Staaten damals klarer erkannt als er, räumte Vater Guevara in seinen Erinnerungen ein: »Ernesto durchschaute die Absicht der USA bestens und vertrat seine These mit Engagement und Energie. Er hatte die Wahrheit auf seiner Seite, und ich, etwas starrköpfig, versuchte ihn zu reizen oder zu provozieren.«

In einer Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik erschienenen Biographie wird aus einem Zeugnis zitiert, das Ernestos Lehrer an der Oberschule ihrem Schüler ausgestellt haben sollen: »Er nutzt jede Gelegenheit, um die katholische Kirche anzugreifen, hat marxistische Ideen und ist der Anführer der Linken in der Klasse.« Er sei zwar ein hervorragender Schüler, »eine ausgeprägte Persönlichkeit, aber launisch und undiszipliniert: Ernesto setzt sich Ziele, die seine Möglichkeiten weit übersteigen«.

Wirklich politisch engagiert hat sich der junge Ernesto in dieser Zeit jedoch nicht. Jahre später schrieb er selbst: »Ich hatte keinerlei soziales Engagement in meinen Jugendjahren, und ich war auch nicht an den politischen oder studentischen Kämpfen in Argentinien beteiligt.« Das unterschied ihn von seinem sechs Jahre älteren Freund Alberto Granado. Dieser engagierte sich an der Universität gegen die Einschränkung der Freiheit durch das argentinische Militärregime, das sich im Juni 1943 an die Macht geputscht hatte. Bei einer Demonstration wurden Alberto und seine Genossen von der Polizei verhaftet und verschwanden für zwei Monate im Gefängnis. »Es näherte sich der Dezember, und als wir merkten, dass sie uns keinen Prozess machen wollten, haben wir die Freunde unseres Jahrgangs gebeten, dass sie auf die Straße gehen, um zu sagen, dass wir entführt worden seien. Entweder sollten sie uns den Prozess machen oder uns freilassen«, erzählte Alberto Jahrzehnte später der kubanischen Journalistin Rosa María Fernández Sofía. »Mein Bruder besuchte mich in Begleitung Ernestos im Gefängnis, und ich sagte ihm: ›Tomás, ihr müsst zum Streikkomitee gehen. Es ist notwendig, auf die Straße zu gehen, um gegen den Rechtsbruch zu protestieren, dass wir hier weiter so entführt gehalten werden.‹ Tomás verstand und sagte, dass er das tun werde, aber er fragte mich: ›Und wie sollen wir das tun?‹ Bevor ich ihm antwortete, wendete ich mich zu Ernesto und fragte ihn: ›Wirst du teilnehmen?‹ Und er antwortete mir: ›Auf die Straße gehen, um zusammengeschlagen zu werden? Nein, wenn man mir keinen Revolver gibt, damit ich mich verteidigen kann, werde ich nicht mitgehen!‹« Ernesto war damals 15 Jahre alt.

Reisefieber

Nach dem Schulabschluss entschied sich Ernesto, Medizin zu studieren. Dazu bewogen haben dürfte ihn sein eigenes Asthma, aber auch der Tod seiner geliebten Großmutter Ana, die 1946 an den Folgen eines Gehirnschlags gestorben war. »Als ich meine Laufbahn als Arzt begann, als ich Medizin zu studieren begann, waren die meisten der Ideen, die ich heute als Revolutionär habe, im Reservoir meiner Ideale nicht vorhanden«, berichtete Che Jahre später, schon nach dem Sieg der Revolution in Kuba, in einer Ansprache vor Medizinerkollegen. »Ich wollte triumphieren, wie alle Welt triumphieren will; ich träumte davon, ein berühmter Forscher zu werden; ich träumte davon, unermüdlich zu arbeiten, um etwas zu erreichen, das man der Menschheit zur Verfügung stellen könnte, aber zu dieser Zeit ging es um einen persönlichen Triumph. Ich war, wie wir alle, ein ganz durchschnittlicher Mensch.«

Bereits in jungen Jahren packte Ernesto das Reisefieber. 1950 fuhr er auf einem Fahrrad mit Hilfsmotor durch zwölf Provinzen Argentiniens, dann von Dezember 1951 bis August 1952 zusammen mit Alberto Granado durch Chile, Peru, Kolumbien und Venezuela sowie schließlich ab Juli 1953 zunächst mit Carlos Ferrer über Bolivien, Peru und Guatemala nach Mexiko und schließlich nach Kuba.

Es waren diese Touren, die aus dem theoretisch Wissenden den Revolutionär machten. Schon auf seinem ersten Trip durch Argentinien 1950 betonte Ernesto in Jujuy, dass er sich nicht mit der »luxuriösen Oberfläche« begnügen wolle, die Touristen vorgeführt werde und auf Postkarten abgebildet sei. »Nein, auf diese Weise lernt man keine Stadt und keine Menschen, ihre Lebensart und Lebensphilosophie kennen. Bei diesen offiziellen Bildern handelt es sich nur um die vorzeigbare Glanzseite des Volkes, aber seine Seele spiegelt sich wider in den Patienten der Krankenhäuser, den Häftlingen der Gefängnisse, dem ängstlichen Passanten, der nicht weiß, mit wem er sich da anfreundet.«

Der junge Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen kam bei seinen Touren mit Gesellschaftsschichten in Berührung, die er bis dahin nicht persönlich – oder nur in Gestalt von Bediensteten in der Großstadt – kennengelernt hatte. In seinen Tagebucheinträgen schlägt sich deshalb immer wieder die Faszination nieder, die diese unbekannte soziale Welt auf ihn ausübte – und wie er die Kluft realisierte, die zwischen ihm mit seinen bisherigen Lebenserfahrungen und der Realität vieler seiner Landsleute bestand.

Während seiner Reise durch Argentinien kam er 1950 nahe Santiago del Estero mit einem Wanderarbeiter ins Gespräch, der gerade von der Baumwollernte im Chaco kam und nun zur Weinlese nach San Juan wollte. »Als er von meinem Plan hörte, einige Provinzen zu bereisen, und er erfuhr, dass ich das nur aus sportlichem Ehrgeiz durchführte, fasste er sich an den Kopf und sagte: ›Mama mía, und diese ganze Anstrengung machen Sie umsonst?‹ Der Mann, der sein Bett in einem Beutel auf der Schulter trug, hatte auf der Suche nach Erntearbeiten bestimmt schon den größten Teil Argentiniens bereist, ohne jemals lange an einem Ort bleiben zu können. Er konnte nicht verstehen, dass es jemanden gab, der eine so unbequeme Reise nur aus Spaß an der Freude machte, um sich an der Natur zu ergötzen, unbekannte Gegenden zu befahren, neue Horizonte zu suchen und Menschen kennenzulernen, während er, der ewige Wanderer, schon jahrelang auf diesen Wegen ging, um ein paar Pesos zu verdienen, um überhaupt essen zu können. Er konnte mich nicht verstehen.«

Auch bei seiner zweiten großen Reise ab Dezember 1951 zusammen mit seinem damals 29 Jahre alten Freund Alberto Granado musste er Ähnliches erleben. Das große Abenteuer mit der »Poderosa II« – der »Mächtigen«, wie sie das Motorrad getauft hatten, das eher »an ein prähistorisches Ungetüm« erinnerte – sollte sie durch Argentinien nach Chile führen. Von dort wollten sie nach Norden fahren, das Endziel hieß Caracas.

Schon in Chile gab das Motorrad seinen Geist auf, so dass sie die Reise zu Fuß, per Anhalter oder per Schiff fortsetzten. Während dieser Reisen wurde Ernesto zum ersten Mal der »Che«. In seinem Reisetagebuch erwähnte er Ende Februar 1952 erstmals die Spitznamen vom »kleinen Che und großen Che«, die ihnen von den Chilenen in Anspielung auf ihren argentinischen Dialekt verpasst worden waren. »Che« ist eine in Argentinien und Uruguay häufig gebrauchte Anrede und Floskel, die man vielleicht mit dem deutschen »he, du« übersetzen könnte.

Neue Erfahrungen

Am 12. März 1952 freundeten sie sich in der Ortschaft Baquedano mit einem Ehepaar an, zwei bitterarmen Arbeitern, mit denen sie ihre wenige Habe teilten. »Im Schein einer Kerze, mit der wir uns Licht machten, um den Mate zu bereiten und ein Stück Brot zu essen, bekamen die Züge des Arbeiters eine rätselhafte und tragische Note. In seiner einfachen und ausdrucksstarken Sprache erzählte er von seinen drei Monaten im Gefängnis, von der hungernden Frau, die ihm in beispielhafter Treue folgte, von seinen Kindern, die im Haus eines gnädigen Nachbarn blieben, von seiner fruchtlosen Pilgerfahrt auf der Suche nach Arbeit, von den auf rätselhafte Weise verschwundenen Genossen, von denen man sich erzählt, dass sie ins Meer geworfen wurden.« Die beiden waren Kommunisten, wie Ernesto und Alberto erfuhren, und für Ernesto waren sie, wie er in seinem Reisetagebuch schrieb, eine »lebendige Verkörperung des Proletariats in jedem Teil der Welt«. Sie hätten nicht einmal eine Decke gegen die Kälte gehabt, so dass Alberto und Ernesto ihnen eine der ihren gaben und sich die andere teilten. Er habe jämmerlich gefroren, schreibt Ernesto, »aber ich fühlte mich auch ein bisschen verbrüdert mit dieser für mich seltsamen Gattung Mensch«.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

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André Scheer
junge Welt, 12.02.2019