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Den Spuren der Guerilleros folgen
Lebendige Erinnerung: Die Kubanische Revolution ist tief verwurzelt in der Sierra Maestra.
Die Zeit scheint stillzustehen in der Sierra Maestra im Osten Kubas. Wie der Zeiger der herzförmigen Uhr, die unter einem vergilbten Foto von Fidel Castro, Ernesto »Che« Guevara und Camilo Cienfuegos hängt. Über dem Esstisch in der kleinen Holzhütte. Hier in der Region, wo die Kubanische Revolution vor mehr als 60 Jahren triumphierte. Autos sind fast keine unterwegs. Statt dessen traben Maultiere und Pferde die Landstraße entlang.
Eine alte Frau hat die Tür des Hauses geöffnet und entschuldigt sich, dass sie keinen Kaffee anbieten kann. »Meine Mutter erwartet noch Besuch, ich erzähle die Geschichte auf der Plaza«, sagt Luis Angel Segura Castillo bestimmt. Im Schatten eines blühenden Hibiskusbaums im Park des 7.000-Seelen-Dorfes Providencia beginnt der 68jährige zu erzählen. »Ohne die Revolution gäbe es all das hier nicht«, er zeigt mit der Hand um sich herum. Einige Steinhäuser sind zu sehen, eines davon eine Grundschule. »Während der Revolution lebten wir tiefer in der Sierra, in einem von den Guerilleros kontrollierten Gebiet nahe dem höchsten Berg Kubas, dem Pico Turquino. Damals war ich noch ein Kind.«
Freude und Trauer
Ein Bulle mit geschwungenen Hörnern läuft alleine herum, während wir uns unterhalten und sucht nach einer saftigen Stelle zum Grasen. Unter einem anderen Hibiskusbaum sitzt eine Frau und liest versunken die kubanische Tageszeitung Granma. »Manche Sachen vergisst man nie«, fährt Castillo fort. Wie den Lärm der Bomben des Batista-Regimes oder die Gegenwart der Guerilleros. »Die Kombattanten der rebellischen Streikräfte spielten viel mit uns Kindern. Ihre langen Bärte haben mich als Kind schwer beeindruckt.« Er erinnert sich, wie seine Mutter prompt ein Huhn schlachtete und kochte, als Kommandant Fidel einmal bei ihnen zu Hause vorbeikam. In den ersten Monaten des Jahres 1957 formierten sich die in Mexiko ausgebildeten Guerilleros in den Bergen der Sierra Maestra.
»Während der Batista-Diktatur gab es hier in der Sierra einfach nichts. Weder Bildung noch medizinische Versorgung.« Castillo erzählt von seinem ersten Arztbesuch nach dem Triumph der Revolution: »Der Doktor war auch ein bärtiger Revolutionär. Wir Kinder hatten alle Würmer und andere Parasiten. Nach der Behandlung mit Tabletten wurde das besser.« Seine Mutter konnte vor der Revolution weder lesen noch schreiben. Lesen lernte sie erst mit der Alphabetisierungskampagne, die am 22. Dezember 1961 nach nur einem Jahr erfolgreich beendet wurde.
Castillo zündet sich eine filterlose Zigarette an und haucht genüsslich den Rauch aus. »Für uns Bauern in der Sierra Maestra war die Revolution schon am 27. Juli 1958 gewonnen, wir konnten aus unseren Verstecken nach Hause zurückkehren.« Der offizielle Sieg der Revolution wurde am 1. Januar 1959 verkündet. Der Moment, in dem die Familie wieder zusammenkam, sei sowohl von Freude als auch von Trauer geprägt gewesen. »Wir sahen, wer fehlte«. Die Truppen des Batista-Regimes hatten seinen Onkel und seinen Uropa exekutiert. Die Leichen waren ohne Fingernägel gefunden worden. Es war eine Strategie der Batista-Truppen, Bauern, die die Rebellen unterstützten, zu foltern und zu töten, um Angst in der Bevölkerung zu verbreiten.
Ende November 2021, kurz nachdem Kuba seine Grenzen für den Tourismus wieder geöffnet hat, ist es nicht so leicht, für wenig Geld zum Hauptschauplatz der Kubanischen Revolution zu gelangen. Der Sprit ist knapp und sehr teuer. Frühmorgens ab vier Uhr fahren umgebaute Lastwagen mit Anhängern, in die sich erstaunlicherweise bis zu 80 Personen quetschen können, von der Provinzhauptstadt des Bundesstaates Bayamo in den Ort Bartolomé Masó. Von da aus sind es elf Kilometer zu Fuß an der Landstraße entlang bergauf, oder man hat Glück, und Carlos kommt mit seinem orangefarbenen Lada vorbei und nimmt einen mit.
Der Lada ohne Deckenverkleidung ist über 40 Jahre alt, röhrt bei jeder Steigung, und aus seinen Boxen dröhnt knarzend der berühmte Song »Respeta al Che Guevara« des »Quinteto Rebelde« (Rebellisches Quintett). Auf dem heißen Asphalt trocknen die Bauern ihre Kaffeeernte, abgesehen von Carlos’ altem Lada kommen so gut wie nie Autos vorbei. Wer mehr Geld ausgeben möchte, kann den Transport in die Sierra Maestra auch mit einer Reiseagentur oder einem Taxi organisieren.
Lohnende Anstrengung
Wer die Originalschauplätze vom Beginn der Kubanischen Revolution sehen möchte, muss zum »Gran Parque Nacional Sierra Maestra«, der Eingang befindet sich im 300-Einwohner-Dorf Santo Domingo. Von Providencia aus, wo Castillos Mutter lebt, sind es ungefähr acht steile Kilometer an der Landstraße entlang. Zu Fuß ein wenig beschwerlich, entlohnt der weite Blick über die Sierra bis zum Meer.
Am Eingang des Nationalparks »Sierra Maestra« geht es Kubas steilste Landstraße hoch. Das schafft nur ein extra angereister Wagen mit Allradantrieb. Oben angekommen, geht es zu Fuß weiter. Der schmale Pfand am Abgrund entlang ist der Weg, den die Guerrilleros des Ejército Rebelde in den Jahren 1957 und 1958 benutzten, um sich im unwegsamen Gelände der Sierra Maestra fortzubewegen. »Zur Hochzeit der Revolution waren bis zu 350 Kämpferinnen und Kämpfer hier in der Sierra Maestra«, erklärt Miguel Antonio Gonzales Garcia, der seit 17 Jahren als Guide im Nationalpark arbeitet. Die Guerilleros wechselten ihre Standorte bevorzugt nachts, um von den Truppen des Bastista-Regimes nicht entdeckt zu werden. Die Campesinos (Bauern), die in der Sierra Maestra lebten, unterstützten das Ejército Rebelde auf verschiedene Arten. Sie versorgten sie mit Nahrung, brachten Waffen und Munition und führten neu ankommende Guerilleros zu den Standorten ihrer Genossen. »Ohne die Unterstützung und Solidarität der lokalen Bevölkerung in der Sierra Maestra wäre die Revolution niemals möglich gewesen«, sagt Garcia bestimmt.
Einer, der die Guerilleros klammheimlich nachts zu Fidels Kommandozentrale »Comandancia« oder anderen Standorten gebracht hat, ist Rigoberto Aquilar Verdecias. Zum Haus des heute 83jährigen führt ein enger Schotterweg. Zwischen seinen Füßen tummeln sich flaumige Küken, die erstaunlich geschickt seinen pinken Schlappen ausweichen. »Wir benutzten damals Flaschen als Lichtquelle, die wir mit Kerosin füllten und anzündeten, um uns im Dunkeln zurechtzufinden«. Verdecias holt eine grüne Getränkedose, aus der ein Docht ragt. »So was ähnliches, wie das, nur in einer Glasflasche« Er sei damals 17 Jahre alt gewesen und habe über hundert Guerilleros zu Fidels Standorten gebracht. »Eine Tour zur Comandancia dauerte um die drei, vier Stunden. Je nachdem, wie fit die Neuankömmlinge waren«. Kurz vor seinem 18. Geburtstag sei Fidel dann sein offizieller Patenonkel geworden. »Meine Eltern und Fidel waren gute Freunde, er ging bei uns ein und aus«, erzählt er stolz. Verdecias Familie wohnte zu dieser Zeit in Minas Frio, einem Ort mitten in der Sierra. »Wenn Fidel, mein Padrino, müde bei uns ankam, überließ ich ihm mein Bett und schlief auf dem Boden. Dasselbe Bett, in dem ich heute noch schlafe.« Er zeigt mit seinem knochigen Finger Richtung Holzhaus.
Das erste Gebäude, das nach einer Stunde Wanderung im Regenwald der Sierra zu sehen ist, ist die »Casa Medina«. Der Legende nach kam Fidel Castro auf seinem Weg tief ins Innere der Sierra Maestra am Haus der Bauernfamilie Medina vorbei. Fidel und seinen Genossen fiel die künstlerische Begabung mehrerer Mitglieder der Familie auf, die sich mit Gitarre, Maracas, und anderen selbstgebauten Instrumenten an den Nachmittagen und Abenden unterhielten. Am 14. Mai 1958 trat das »Quinteto Rebelde«, wie die Band bald genannt wurde, zum ersten Mal im Radio Rebelde, dem Piratensender des Ejército Rebelde, auf. Immer mehr Kubaner begannen, den von Che Guevara gegründeten Sender heimlich zu hören und vertrauten auf die Informationen der Guerilleros.
Zehn Tage nach dem Debüt der Musikgruppe begann die Diktatur ihre Offensive mit Tausenden von Soldaten, die in zehn Bataillonen organisiert waren, mit Unterstützung der Luftwaffe, der Marine und gepanzerter Fahrzeuge. In der Sierra trafen sie auf ungefähr 350 leicht bewaffnete Guerilleros.
Ohne Musik ist nichts
Rubén La O Zamoras Nichte zieht dem 86jährigen ein wenig unsanft Halbschuhe über die schwieligen Füße und ein hellgrünes T-Shirt mit dem »Quinteto Rebelde«-Logo über den Kopf. Seine löchrigen Pantoffeln scheinen ihr peinlich zu sein. Er ist gerade aus seinem Mittagsschlaf erwacht. »Warte, ich rufe Alejandro«, nuschelt er hinter der weißen Stoffmaske. Seine Augen wirken trüb hinter den dicken Gläsern der silbernen Brille. Zamora, der Sänger der Band und Alejandro Medina Muñoz, der Gitarrist, sind nach 60 Jahren immer noch Freunde, wohnen Haus an Haus und fallen sich ständig gegenseitig ins Wort. »Wir spielten für die Motivation der Guerilleros direkt vor den Kämpfen und für die kubanische Bevölkerung im Radio Rebelde.« »Nach Gehör«, lernten sie Musikstücke, die sie gerne hörten und versahen sie mit eigenen Texten.
In einer ihrer Sonntagsvorstellungen führten sie »Respeta al Che Guevara« (Respekt vor Che Guevara) mit der Melodie des damals populären Liedes »Respeto a tu amor« (Respektiere deine Liebe) auf. Der Vorschlag für den Namen kam vom Techniker des Senders, Eduardo Fernández, und Comandante Fidel Castro schlug vor, das Lied jeden Sonntag nachmittag zu spielen, so wurde es populär.
Am hochgelegenen Übergang zwischen den Provinzen Granma und Santiago in der Sierra Maestra ist das karibische Meer am Horizont zu sehen. Nach einiger Zeit kommen wir an eine Holzhütte, in der sich ein kleines Museum verbirgt. Miguel schließt die Tür mit einem rostigen Schlüssel auf: Seit zwei Jahren war niemand mehr im Museum – coronabedingt. Die Tür öffnet sich knarzend. Licht dringt durch den Spalt und der Blick fällt auf handgeschriebene Briefe und Fotos, von Fidel, Che und anderen Guerilleros. Besonders eindrucksvoll ist die riesige Glasspritze mit der dicken Nadel, die zur medizinischen Versorgung des Ejército Rebelde genutzt wurde. »Damit würde sich heute niemand mehr impfen lassen«, scherzt Miguel.
Unweit des Museums befindet sich die Grabstätte des Guerilleros Gionel Rodriguez. Er wurde von den Batista-Soldaten angeschossen und in die erste kleine Klinik in der Sierra getragen. Die Hütte, in der die Klinik war, riecht stark nach Zedernholz. Rodriguez überlebte seine Schussverletzung nicht. »Es ist schwer, sich vorzustellen, wieviel Angst entdeckt zu werden hier herrschte«, sagt Miguel, »jetzt, wo es so friedlich und ruhig ist«. Die Batista-Truppen haben es niemals geschafft, die Verstecke der Rebellen zu finden.
Der steinige Pfad führt weiter den Berg hoch, im Wald ist es schattig und schwül. Miguels Rücken ist nassgeschwitzt, als die Comandancia, Fidels Kommandozentrale, in Sichtweite ist. Miguel dreht sich um und zeigt auf einen Baum: Dort sitzen zwei Tocororos. Der kubanische Nationalvogel hat rot-weiß-blaue Streifen im Gefieder, wie die kubanische Flagge. Dann, auf Stelzen stehend, ist die Casa Fidel zu sehen, in der der Comandante 1957 und 1958 lebte. Das Rauschen eines kleinen Baches, in dem sich Castro gewaschen hat, ist zu hören. Die Wände der Hütte aus Zedernholz lassen sich senkrecht nach oben öffnen, zu sehen sind Fidels Bett, ein eingebauter Schreibtisch, ein großer weißer Kühlschrank.
Wer nach der Besichtigung der »Comandancia« noch Kraft hat, kann den Berg weiter hochklettern, bis zur Sendestation des Radio Rebelde. In einem zwei Meter tiefen Loch wurde tagsüber die Antenne versteckt, nachts wurde sie aufgestellt, um das Programm zu senden.
Castillo, der die Revolution als Kind erlebt hat, war von 2007 bis 2019 der Konservator der Comandancia. Davor arbeitete er als Guide im Nationalpark, führte kubanische Schüler und Touristen zu den historischen Schauplätzen in der Sierra. »Es ist meine Lebensaufgabe, die Orte des revolutionären Kampfes für Besucher und die nächsten Generationen zu erhalten. So werden die Ideale der Revolution gewürdigt und der Internationalismus gestärkt.«
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Annuschka Eckhardt, Sierra Maestra
junge Welt, 15.12.2021