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»Seien wir realistisch«

Zum Tod des russischen Historikers, KGB-Generals und Kuba-Freundes Nikolai Sergejewitsch Leonow..

Ein Gespräch mit dem russischen Publizisten Nikolai Leonow ist eine dieser beeindruckenden Begegnungen, an die man sich zeitlebens erinnert. »Seien wir realistisch. Russland ist kein sozialistisches Land, und unsere Beziehungen zu Deutschland sind nicht mehr gut«, antwortete er mir im Februar 2016 während der Buchmesse in Havanna auf den Vorschlag, seine Raúl-Castro-Biographie in Deutschland zu veröffentlichen. »An Büchern über Revolutionäre haben die großen Verlage beider Länder kein Interesse, und fortschrittliche kleine Verleger können die Übersetzung für ein 500 Seiten dickes Werk nicht zahlen.« Damit hakte er das Thema ab, um mir einen Vortrag über den Niedergang seines Heimatlandes und seine Befürchtung zu halten, dass dies den Westen zu einem Konflikt mit Russland verleiten könnte, der zu einer globalen Katastrophe führen würde. Ich fand die Analyse damals äußerst interessant. Heute begreife ich, was mir dieser politisch weitsichtige, lebens- und welterfahrene Mann tatsächlich vermitteln wollte.

Am 27. April ist Nikolai Sergejewitsch Leonow im Alter von 93 Jahren in Moskau verstorben. Der habilitierte Historiker, Schriftsteller, Diplomat, Politiker und bis 1991 stellvertretende Direktor des KGB im Rang eines Generalleutnants galt als Mentor und langjähriger Freund von Wladimir Putin, der einst sein Untergebener beim KGB war. Die kubanische Nachrichtenagentur Prensa Latina bezeichnete Leonow, dessen Tod in westlichen Medien nicht einmal in einer Randnotiz erwähnt wurde, als »Legende der russischen und lateinamerikanischen Geschichtsschreibung«. Die KP-Zeitung Granma betrauerte den Verlust eines »lieben Freundes«, dem Kuba den Ernesto-Che-Guevara-Orden für »außergewöhnliche Verdienste bei der Erfüllung internationalistischer Missionen« und den Playa-Girón-Orden verliehen hatte, mit dem Personen ausgezeichnet werden, die sich »im Kampf gegen den Imperialismus und die Kräfte der Reaktion und für Taten zugunsten des Friedens und des Fortschritts der Menschheit besonders hervorheben«. Soweit das Formale. Leonow, dem auch die höchsten Orden der Sowjetunion ans Revers gesteckt worden waren, hatte selbst nie Wert auf eine protokollarische Rangordnung gelegt und sie öfter missachtet. Das Engagement gegen kapitalistische und imperialistische Strukturen war ihm wichtiger als die eigene Karriere, auch wenn er Vorgesetzte damit verprellte und abgestraft wurde.

So hatte er bei seinem ersten Auslandseinsatz als junger Diplomat in Mexiko die gleichaltrigen Kubaner Fidel und Raúl Castro und deren Freund Che Guevara beim Aufbau einer Guerillaarmee unterstützt und sich damit über eine Anweisung des Außenministeriums in Moskau hinweggesetzt, die es Diplomaten untersagte, sich in innere Angelegenheiten der Gastländer einzumischen. »Es musste sein, weil ich in Lateinamerika das hässliche Gesicht des US-Imperialismus kennengelernt habe«, sagte Leonow später. Nachdem er wegen solcher Alleingänge aus dem diplomatischen Dienst entlassen und in den Verlag für fremdsprachige Literatur abgeschoben worden war, wurde man in Moskau nach dem Sieg der Rebellenarmee in Kuba wieder auf Leonow aufmerksam. »Das Außenministerium und der KGB erinnerten sich daran, dass sie 1956 einen jungen Diplomaten aus Mexiko abgezogen hatten, der Fidel Castro, Che Guevara, vor allem aber Raúl Castro persönlich gut kannte«, schrieb Leonow in seiner Raúl-Castro-Biographie. Im Februar 1960 begleitete er den stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Anastas Mikojan als Dolmetscher nach Havanna. Als Ergebnis der Gespräche gewährte die UdSSR Kuba einen Kredit über 100 Millionen Dollar. Beide Regierungen vereinbarten die Wiederaufnahme der unter dem Diktator Fulgencio Batista abgebrochenen diplomatischen Beziehungen und schlossen einen Vertrag über die Lieferung von Öl gegen die von Zucker ab. Als Fidel Castro und Nikita Chruschtschow 1963 in Moskau versuchten, ihre Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der Raketenkrise beizulegen, war Leonow erneut als Dolmetscher dabei.

Nach dem Zerfall der UdSSR analysierte der Historiker die Ursachen für das, was er als Niederlage bezeichnete. »Immer wieder betrachtet er kritisch das Handeln beziehungsweise Unterlassen der politisch Verantwortlichen in Moskau, … beschreibt die Agonie der Niedergangsphase und wie die Verbündeten, so auch die DDR, politisch verkauft wurden«, bewirbt der Verlag die deutsche Ausgabe seines Buches »Die letzten Aktionen des KGB«. An das, was trotz der Niederlage bleibt, erinnerte er 2016 in einem Interview des kubanischen Fernsehens. »Man sagt, es habe nur vier Revolutionen gegeben: die Französische, die Russische, die Chinesische und die Kubanische. Weil diese Revolutionen die Entwicklung der Welt entscheidend verändert haben, können sie nicht mit anderen verglichen werden.« In gewisser Weise gilt das auch für das Leben von Nikolai Leonow.

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

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Volker Hermsdorf
junge Welt, 05.05.2022