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Nachrichten aus und über Kuba


Nachrichten, Berichte, Reportagen zu aktuellen Entwicklungen, Hintergründen und Ereignissen in Kuba, internationale Beziehungen und der Solidarität mit Kuba.


Die Rolle des Vaters

Kinder als Rechtssubjekte: Kuba diskutiert ein neues Familiengesetz.

Hundert Hähne krähen, während ich halb sechs Uhr aufstehe. La Demajagua hieß bis 1968 Santa Barbara und ist mit 5.900 Einwohnerinnen und Einwohnern die drittgrößte Stadt der Isla de la Juventud. Wir sind in der Nähe einer Schule untergebracht. Im Ort gibt es noch eine zweite, die wir noch nicht besucht haben, sie soll hinter dem Ortsteil mit den jugoslawischen Plattenbauten liegen.

Von der eigenen Arbeit abgelenkt, schaue ich von der Küche aus Arbeiterinnen zu, die zu ihrem Betrieb gehen, Bauern, die mit ihren Pferdewagen zu ihren Feldern fahren, und Schülerinnen und Schülern in Uniform auf dem Weg zum Unterricht. Weiße Hemden und Blusen, blaue und rote Halstücher, blaue und khakifarbene Hosen, lange und kurze, je nachdem, wie alt man ist. Wir wurden bereits von einer Nachbarin gefragt, ob sie uns ein weißes Paar Socken abkaufen könne für die Schulkleidung der Tochter. Die gebe es grad nicht. Was so nicht stimmt. Weiße Socken haben wir schon auf einem Markt gesehen. Wir kaufen und schenken ihr ein Paar.

Mein Verhältnis zu Uniformen ist ein anderes. Allerdings bin ich es auch nicht gewohnt, dass Soldatinnen und Soldaten, wie die im Katamaran, der zwischen der Hauptinsel und der Isla de la Juventud verkehrt, vorrangig dafür zuständig zu sein scheinen, erschöpfen Eltern die schreienden Babys abzunehmen und sie mit Küssen und den süßesten Spitznamen zu bedecken, damit sie wieder einschlafen. Wie gesagt, nicht das Verhältnis zu Uniformen, wie man es aus der bundesdeutschen Realität her kennt.

Zum morgendlichen Fahnenappell stehen die Kinder in Reih und Glied und rufen chorisch »Fidel!« Der war es, der die kubanischen Kinder immer mit der Frage begrüßte, ob sie denn schon gegessen hätten: »¿Ya comiste?« Damit hat die Kubanische Revolution aufgeräumt: Kinder ohne Schuhe, Kinder ohne Bleibe und Kinder ohne Essen gibt es nicht mehr.

Lob von UNICEF

Als wir einige Wochen zuvor nach Ankun! in Havanna am Malecón rumlümmelten, kreisten uns Kinder ein. »Gibst du mir Geld für einen Lutscher? Ich hab’ so großen Hunger«, sagte die Kleinste von ihnen und schauspielerte passabel. »Ich wohne auf der Straße.« Tourist ist, wer darauf hereinfällt. Die Augen wurden groß, als wir sagten, dass es das wirklich gibt, hungernde Kinder ohne Dach überm Kopf. Dann gaben wir etwas von unserem Orangensaft ab.

Die UNICEF, die sich in ihrem Deutschland-Bericht von 2021 vor allem um die mentale Gesundheit der Kinder hierzulande sorgt, hat fast nichts als Lob für die Lage der Kinder Kubas übrig. »Einige Ernährungsdefizite bleiben bestehen«, schreibt das UN-Kinderhilfswerk auf seiner Internetpräsenz und führt u. a. einen Anstieg von Fettleibigkeit an und dass der »Vitamin-A-Status bei Vorschulkindern (…) einen leichten subklinischen Mangel in den östlichen Provinzen und einen mäßigen Mangel in der westlichen Region« anzeige. Auch die häufigste Todesursache zwischen fünf und 19 Jahren, die unfallbedingte Sterblichkeit, wird als Problem benannt, dem sich die kubanische Regierung annimmt.

Die Leistungen des Sozialismus für das Kinderwohl sind enorm: »Im Jahr 2015 wurde Kuba als erstes Land der Welt als frei von HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind und von kongenitaler Syphilis zertifiziert«, schreibt die UNICEF. »Der Deckungsgrad der frühkindlichen Betreuung liegt bei 96 Prozent«, die Nettoeinschulungsrate bei 99,1 Prozent, »99,9 Prozent der Geburten finden in Gesundheitseinrichtungen statt, die von qualifiziertem Personal betreut werden.«

Die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kommunismus und Armut, auf den Deng Xiaoping hinwies, geht nicht nur China, sondern auch Kuba seit der Revolution gezielt an. Zu sehen daran, wie es den kubanischen Kindern geht. Die haben Vorrang: Als ich mit Lungenschmerzen bei der Ärztin sitze und sie die letzte Dosis Schmerzmittel prüft, sagt sie, dass sie die aufhebt, falls es eines der Kinder braucht. Ich hätte sie eh nicht gebraucht. Das Paracetamol, das wir mitgenommen haben und vor Abreise spenden wollen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit in einem fiebrigen Kind landen. In Bussen steht man für Kinder auf, und selbst die volltätowiertesten Kerls werden zu Ersatzvätern, wenn ihnen ein Kind begegnet.

Kein Hunger auf Kuba, aber klar, der Lutscher fehlt viel zu oft. Süßkram an den Kiosken ist sauteuer. Die Inflation macht das, was an Extras da ist, für die meisten unerschwinglich. Die unter US-Präsident Joseph Biden fortgesetzte, teils verschärfte Wirtschaftsblockade schnürt die kubanische Wirtschaft ein. Corona und der Krieg zwischen Russland und der Ukraine verschlimmern die Lage noch.

Fortschreitende Autonomie

Mit dem Imperialismus im Nacken musste das revolutionäre Kuba schon immer kämpfen. Zwischen 1960 und 1962 verschleppte die US-Regierung, gemeinsam mit der katholischen Kirche und Contras im Exil, während der »Operation Peter Pan« 14.000 kubanische Kinder, die dem bekanntlich Kinderknochen kauenden Bolschewismus entrissen werden sollten. Ebenjener Bolschewismus leistete im Gegenzug globale Solidaritätsarbeit: Davon zeugen nicht allein die vielen kubanischen Kinderärzte, die in aller Welt bis heute im Einsatz sind. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in der heutigen Ukraine, wurden strahlenkranke Kinder zur Behandlung und Erholung nach Kuba gebracht. Dort kümmerte man sich um sie auch noch, als die Sowjetunion als wichtigster Wirtschafts- und Bündnispartner in die Binsen gegangen und Kuba in die Sonderperiode der 90er Jahre gestürzt worden war. Die Sonderperiode ist heute noch Blaupause für harte Zeiten, auch die, in der sich das Land jetzt befindet. Man misst hier die Schlangen vor den Einkaufsmöglichkeiten, und die älteren unter den Kubanerinnen und Kubanern vergleichen sie mit denen der Sonderperiode. Viel fehlt nicht.

Jede Solidarität von außen wird dankend angenommen, seien es Initiativen, die Milch für die Kleinsten beschaffen, oder die knapp 20.000 Tonnen Weizen, die die russische Regierung im April spendete und die an »spezielle Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen« gehen sollen, wie die erste stellvertretende Ministerin der Lebensmittelindustrie Kubas, Mercedes López Acea, am 22. April gegenüber der Tageszeitung Granma erklärte.

So brenzlig die Lage auch ist, Kuba bleibt bei dem, was es kann, z. B. die sozialistische Demokratie. Aktuell wird im ganzen Land über das neue »Código de las Familias« diskutiert. Das Familiengesetz hat die neue Verfassung von 2019 zur Grundlage und wird international vor allem für seinen fortschrittlichen Charakter in bezug auf die vor allem aus mancher klerikalen Ecke abgelehnten Ehe für alle beäugt. Es soll aber auch die Rechte von Menschen mit Behinderung, Älteren und Kindern stärken. Im Gesetzentwurf, wie ihn eine Parlamentskommission erarbeitet und die Nationalversammlung dem kubanischen Volk vorgelegt hat, heißt es eingangs, Ziel sei der »Schutz der Mutter- und Vaterschaft und Förderung ihrer verantwortungsvollen Entwicklung in Verbund mit der Achtung der Rechte von Kindern und Jugendlichen im familiären Umfeld unter Berücksichtigung ihrer besten Interessen und ihrer fortschreitenden Autonomie«.

Ferien beim Vater

Es ist wieder Morgen in La Demajagua, aber ich höre keinen Kinderchor »Fidel!« rufen. Ich sehe später auch keinen der Jungs mit Holzknüppel und abgewetztem Tennisball Baseball spielen. Der von uns mitgebrachte Fußball ist bereits vom steinigen Wiesenuntergrund in Mitleidenschaft gezogen worden, aus einer aufgerissenen Naht guckt schon die Blase. Niemand holt ihn sich zum Bolzen bei uns ab. »Osterferien. Die Kinder sind alle zu ihren Vätern gefahren«, klärt uns eine der Nachbarinnen auf.

Ich fahre ins 20 Kilometer entfernte Nueva Gerona, die Hauptstadt der Isla de la Juventud, und treffe Ondina Miranda Moret auf einen Softeisspaziergang. »Die Familie von heute ist sehr vielfältig, das traditionelle Familienbild mit Vater, Mutter und Kind existiert zwar, ist aber nicht das einzige Modell, das es gibt«, sagt mir die 23jährige Lokaljournalistin im Hinblick auf den Gesetzentwurf, der aktuell in den Nachbarschaftsversammlungen im ganzen Land diskutiert wird und u. a. Vorsieht, Alleinerziehendenrechte zu stärken und gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit zu geben, Kinder zu adoptieren. »Es ist äußerst wichtig, dass die Familien, die ›anders‹ sind, auch rechtlich wertgeschätzt und als Familien anerkannt werden.«

Die alte Sonderstellung der Heteroehe soll fallen. Vor allem Evangelikale laufen dagegen Sturm. Andere, weltlichere Befürchtungen gehen dahin, dass die Neuregelung von Leihmutterschaften dazu führen könnte, dass Kinder zur Ware würden – der Gesetzentwurf sieht allerdings ein Verbot der Vergütung vor, die über die Entschädigung der Kosten der Schwangerschaft hinausreicht. Bei anderen steckt der Machismo noch zu tief drin, als dass man sich mit allen Aspekten des Familiengesetzes anfreunden könnte.

Nötiges Downgrade

Die Rolle des Vaters soll mit dem neuen Familiengesetz ein notwendiges Downgrade erfahren. »Es geht um Kinder und Jugendliche als Rechtssubjekte und nicht als Objekte oder Eigentum ihrer Mütter und Väter, was der Begriff ›patria potestas‹ ursprünglich bedeutete. Er stammt aus dem antiken Rom und bezog sich auf die ausschließliche Macht des Mannes über seine Kinder, die so weit ging, dass er sie tauschen oder verkaufen konnte«, schreibt die Granma in einem Artikel vom 16. Februar, mit dem sie versucht, mit allerlei Gegenpropaganda, populären Sagen und Halbwahrheiten zum Gesetzentwurf aufzuräumen. Ondina Miranda Moret sagt zur Abschaffung antiquierter Versatzstücke des Patriarchats, nach denen Kinder Besitz des Vaters seien: »Ich denke, dass das neue Familiengesetz denjenigen, die die Elternrolle unabhängig von ihrem Geschlecht ausüben, rechtliche Instrumente an die Hand gibt und sie andererseits zwingt, in dieser Hinsicht Verantwortung zu übernehmen.« Für die Eltern werden aus Rechten Pflichten gegenüber ihren Kindern. Das Kind selbst wird als Rechtssubjekt gestärkt. Festgelegt wird, dass »Kinder und Jugendliche in einem familiären Umfeld aufwachsen (sollen), das von Glück, Liebe und Verständnis geprägt ist«, so der Leitantrag.

»Das Familiengesetz hat viele Vorteile«, sagt Ondina Miranda Moret, während sie Schokoeis kleckert. »Es gibt den Kindern mehr Macht, Entscheidungen zu treffen, und den Eltern mehr Möglichkeiten, ihre Kinder und die neue Generation, die heute in Kuba heranwächst, zu verstehen. Ich denke, dass das Familiengesetz unserer Zeit entspricht, dass es integrativ und modern ist.«

Spielzeug blockiert

Wir kommen an Marktständen vorbei. Schmuck gibt es da, Haarspangen und Stoffmasken, die ganz bestimmt nicht wirklich von Reebok oder Under Armour sind. Es gibt das Spielzeug, das es auf Kuba fast ausschließlich zu kaufen gibt: Autos, klobige Nachbauten des Disney-Franchise »Cars«, aus dem gleichen grün-grauen Plastik hergestellt wie auch Schüsseln oder Schuhbürsten. Die US-Blockade lässt nicht einmal richtiges Spielzeug durch. Trotzdem ist es begehrt. »Niemand wird kommen und Ihnen Ihr dreijähriges Kind wegnehmen, weil es gerade mitten auf der Straße einen Wutausbruch hat und Sie mit ihm schimpfen, oder weil Sie ihm sagen, dass Sie kein Spielzeug kaufen können und das Kleine vor allen Leuten zu weinen anfängt. Eine solche Auslegung des Familienrechts wäre nicht nur überzogen, sondern absolut irrig«, schreibt die Granma über das Familiengesetz, das Recht der Kinder, bei ihrer Familie aufzuwachsen, und die Pflicht des Staates, die Kinder bei schweren Verstößen gegen das Kindeswohl einzugreifen und notfalls das Sorgerecht zu entziehen. Änderungsvorschläge zum Gesetzentwurf können derzeit noch per Mail eingereicht werden. Im Herbst soll das Referendum stattfinden.

Ondina Miranda Moret hält kurz eines der Spielzeugautos in Händen und legt es zurück. Sie ist als Lehrerkind auf der Isla großgeworden, findet es etwas fad hier und schwärmt von der Großstadt Havanna, sagt aber gleichzeitig: »Ich glaube nicht, dass ich als Kind etwas verpasst habe.«

Ken Merten, Jg. 1990, ist Autor und Journalist. Er lebt zur Zeit in Havanna, von wo er dem jW-Feuilleton seine Beobachtungen »Notas de Cuba« schickt

Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba

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Ken Mertens, Havanna
junge Welt, 01.06.2022