Ganz großes Kino

Filmfestival in Havanna


Begleitprogramm zum Festival

In diesem Jahr wurde u. a. der Restaurationsprozess der Filme von Nicholás Guillén Landrián vorgestellt. Die bisher restaurierten Dokumentarfilme des selbstbewussten und eigenwillig-kreativen Neffen des bekannten Dichters wurden – lange unter Verschluss gehalten – waren auf diesem Festival ebenso zu sehen wie der Dokumentarfilm "Landrian" über sein Werk von Ernesto Daranas.

Des Weiteren gab es eine Präsentation der digitalen Bucheditionen des Verlages des Filminstituts ICAIC, ein Treffen mit der Gewerkschaft der Schauspieler und Medienschaffenden (Screen Actors Guild – American Federation of Television and Radio Artists/SAG AFTRA) zu neuen Technologien und Künstlicher Intelligenz, verschiedene Diskussionsrunden zu Vertrieb und Vertriebsmöglichkeiten von Dokumentar- und Kurz- und Langspielfilmen, Vorträge (u. a. der Professorin Zaira Zarza von der Universität Montreal) über die Struktur und Herausforderungen im Verleihsystem und zu den Möglichkeiten von Koproduktionen mit Frankreich und Italien bzw. dem Filmförderfonds Norwegens sowie ein Gespräch mit Zsuzsi Bánkuti, derzeit Leiterin der Sektion ‚Open Doors‘ beim Locarno Filmfestival, über die Möglichkeiten, die diese Sektion Filmen aus Lateinamerika und der Karibik bietet.

Die beschriebenen Spots können hier angesehen werden:
Festival Internacional del Nueve Cine Latinaoamericano: Spots

Ganz großes Kino – unter diesem Motto lud das Organisationsteam des Internationalen Festivals des Neuen Lateinamerikanischen Films unter der Leitung von Yumey Besú Bayo das Publikum im Dezember 2022 ein, wieder die Kinosäle zu entdecken und Filme gemeinsam und auf großer Leinwand zu genießen. Dies wurde nach den Jahren der Einschränkungen besonders betont.


Denn ob der Pandemie war auch in Kuba das gemeinsame Erleben von Kultur lange nicht möglich und so waren Kinofans auf die digitale Rezeption alleine oder im kleinen Kreis zurückgeworfen. Das Vorgängerfestival konnte beispielsweise nur reduziert und entzerrt auf zwei Jahre verteilt stattfinden.


Der Festivalspot, der unter dem Motto "Lo que recetó el doctor" (Was der Arzt verschrieb) im Dezember 2020 die ‚erste Dosis‘ und 2021 die ‚zweite Dosis’ ankündigte, spielt auf charmante Art mit der Ambivalenz der zum Schutze der Bevölkerung notwendigen Einschränkungen und dem ebenfalls nicht zu vernachlässigenden Bedürfnis nach Kultur – notwendig für geistige Gesundheit und Wohlbefinden. Im Spot zerknüllt ein Arzt ein Medikamentenrezept und stellt seiner Patientin ein neues aus, auf dem der Festivalbesuch (10 Tage lang, alle vier Stunden) verschrieben wird. Nun sieht man unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Orten: eine ältere indigene Frau in den Bergen, einen Skifahrer, eine mondäne Frau in der Großstadt, einen Sonnyboy am Strand. Alle eint das Festivalrezept in der Hand und die Maske über Mund und Nase.


So verbindet der Spot die Betonung der Bedeutung von Kultur und die Vorfreude darauf mit dem Hinweis der Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen und gegenseitiger Rücksichtnahme. Dies wird noch dadurch betont, dass ans Ende eine ikonisch gewordene Figur die Zuschauer ansieht – der ‚kubanische Drosten‘. Der Epidemiologe Francisco Durán sitzt mit Maske am Schreibtisch – so wie er während der Pandemie allabendlich im Fernsehen die Entwicklung und die Gefahr des Virus erläutert hat.

Die Folgen der Pandemie sowie die diversen Katastrophen im Jahr 2022 – von der Explosion im Hotel Saratoga im Mai, über den Blitzeinschlag im Diesellager in Matanzas im August, bis hin zum Hurracan Ian im September, der Pinar del Rio verwüstete – hatten auch Auswirkungen auf das Festival. So konnten weniger Filme als üblich gezeigt und die teilnehmenden Kinos mussten auf vier etwa halbiert werden. Drei liegen an der Hauptstraße von Vedado, an der Straße 23: In der Nähe des Hotel Nacional, dem Festivalhotel, in dem das Rahmenprogramm stattfindet und sich viele Gäste und Besucherinnen und Besucher treffen, liegt das Yara, das größte Kino des Landes. Gute zwanzig Laufminuten entfernt die Kinos Charlie Chaplin (das Cineastenkino, in dem meist thematische Filmreihen zu Filmgeschichte, einzelnen Regisseurinnen und Regisseurin oder Ländern laufen) und das schräg gegenüberliegende und nach seiner Adresse benannte 23 y 12. Von dort aus sind es wieder etwa 20 Minuten strammen Schrittes zum letzten Festivalkino, das Acapulco, das an der Straße 26 liegt, gegenüber dem Ho Chi Minh Park. Dort kann man – unter riesigen Bäumen sitzend – die Eindrücke des eben gesehenen Films sacken lassen und in der Festivalzeitung nachsehen, wo der nächste interessante Film läuft. Die Festivalzeitung gab es in diesem Jahr nur einmal zu Beginn mit dem gesamten Programm. Sonst wurde jeden Tag eine Zeitung herausgegeben, mit dem Programm für die kommenden zwei Tage sowie Zusatzinformationen zu den Filmen und Events oder Interviews mit Filmschaffenden oder Kritikern. Diese Begleitprogramm-Informationen wurden diesmal in den sozialen Medien bereitgestellt und man konnte sich per Telegramm oder Twitter auf den neuesten Stand bringen.

Filmfestival in Havanna



Ein Festival des Publikums

Trotz der ökonomisch höchst prekären Situation des Landes möchte das Festivalkomitee aber der Bevölkerung, die durch eigene entwickelte Impfstoffe mittlerweile bestmöglich vor dem Virus geschützt ist, und den lateinamerikanischen und internationalen Filmbegeisterten wieder ganz große Kinoerlebnisse bieten. Und auch wenn in diesem Jahr auf den Publikumspreis verzichtet wurde, bleibt es ein Publikumsfestival. Ich vermute wegen Papiermangels, denn für den Publikumspreis wurden beim Betreten des Kinos massenhaft Zettel verteilt, die bei der Rubrik sehr gut, gut, mittel oder schlecht eingerissen wurden, um sie am Ausgang in eine Urne oder Tüte zu werfen.






Der aktuelle Festivalspot zeigt, dass das Publikum dabei aber auch aktiv werden und die eine oder andere Mühe auf sich nehmen muss, um zum Filmgenuss zu gelangen. Er zeigt die Menschen im Bus, dann in der Schlange stehend und sich auf der Suche nach einem Platz den Weg mit der Taschenlampe durch den dunklen Kinosaal bahnend. Insbesondere die Busfahrt ist in Havanna zur Zeit nur schwer zu haben – mit langen Wartezeiten und in einem meist noch wesentlich volleren Bus, als im Spot zu sehen. So waren in diesem Jahr die Säle zwar meistens immer noch gut gefüllt, doch die Befürchtung, die man von vergangenen Jahren insbesondere bei begehrten Filmen kennt, nämlich, ob man noch einen Platz im riesigen Kino ergattern kann oder nicht doch nach langem Schlangestehen kurz vor der Eingangstür abgewiesen wird, war in diesem Jahr fast immer unbegründet. Für Einige waren die Mühen zu den Kinos zu gelangen, dann doch zu groß und der Alltag von anderen Notwendigkeiten bestimmt. Viele kinobegeisterte Kubanerinnen und Kubaner aber ließen sich auch in diesem Jahr die Gelegenheit nicht entgehen und so gab es auch in diesem Jahr immer wieder die Möglichkeit, sich mit den Vorderfrauen oder Hintermännern in der Schlage über deren Filmempfehlungen auszutauschen.

Gegen Ende mahnt auch der aktuelle Festivalspot zur Rücksicht. Er zielt diesmal nicht auf den Gesundheitszustand der Umsitzenden ab, sondern auf deren ungestörten Filmgenuss. Er zeigt, wie auf dem gezeichneten Handy das Flugzeugsymbol im Kreis die Farbe wechselt. Eine Aufforderung samt Erklärvideo zum Einschalten des Flugzeugmodus. Alle, die bereits in kubanischen Kinos (oder auch im Theater) waren, kennen das: Mitten in der Vorstellung klingelt ein Handy, das nicht etwa erschreckt oder entschuldigend schnell ausgeschaltet und weggepackt wird, sondern der Anruf wird in aller Seelenruhe entgegengenommen. Im besten Fall wird es ein kurzes Gespräch, das die anrufende Person nur schnell darüber informiert, dass man gerade im Kino sitzt. Im schlechtesten Fall erfährt man noch einiges über die Wochenplanung, den Gesundheitszustand, die Probleme oder Freuden im Leben des Handybesitzers oder seiner Bekannten und Verwandten. Der Spot ändert an diesem Verhalten zwar nicht das geringste, aber man ist dankbar für den Versuch dieser Sensibilisierung. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich diese zwischen Frechheit und offenherziger Mitteilsamkeit schwankenden Störungen im Kinosaal nicht eventuell sogar ein wenig vermissen würde. Sie gehören irgendwie zur selbstbewussten kubanischen Idiosynkrasie dazu, in der man sich – im guten wie manchmal auch im schlechten Sinne – zum Mittelpunkt der Welt macht und nicht das Gefühl hat, sich ständig für irgendetwas rechtfertigen oder schämen zu müssen. Doch diese Telefonate sind in der Regel wirklich eher aufdringlich und störend. Die lautstarken Kommentierungen der Filmszenen, sei es einfach für sich bzw. die anderen im Saal oder an die direkte Nachbarin gerichtet, wie auch Klatschen, Lachen oder genervt Schimpfen gehören hingegen auf jeden Fall zum Festival und steigern die Wirkung des Films eher, als dass sie sie einschränken.

Das Publikum erlebt die Filme im wahrsten Sinne des Wortes und lebt mit.

Ein Festival der Filmschaffenden

Das ist auch für viele Regisseurinnen, Schauspieler, Drehbuchautoren oder Kamerafrauen ein besonderes Ereignis. Die meisten betonen bei der Vorstellung ihres Films (alle Filme im Wettbewerb werden von Mitgliedern der Filmcrew kurz präsentiert), welch große Bedeutung es für sie hat, auf dem Filmfestival in Kuba präsent sein zu können. Viele stehen im Anschluss der Projektion auch noch für Fragen oder Anmerkungen im Foyer des Kinos zur Verfügung und suchen den Kontakt mit dem Publikum. Aber auch den Akteuren hinter und auf der Leinwand bietet das Festival Raum zur gegenseitigen Vernetzung. Das war eine wesentliche Triebkraft der Gründungsgeneration.

Alfredo Guevara, damals Leiter des kubanischen Filminstituts ICAIC, gründete es 1979 als Fortführung und Verstetigung der Festivals, die zuvor in Chile (Viña del Mar 1967 und 1969), Mexico (Mérida 1968 und 1977) und Venezuela (Caracas 1974) versuchten, dem lateinamerikanischen Film eine Bühne zu geben. Das ‚Festival Internacional del Nuevo Cine Latinoamericano‘ entsprach der Forderung lateinamerikanischer Cineasten nach einem regelmäßigen Raum zur Präsentation der neuen Produktionen des Subkontinents und nach einem systematischen Austausch der Filmschaffenden darüber.

So betont der Direktor Yumey Besú im Festivalkatalog: "Von Beginn an verfolgt das Festival – wie schon der Name nahelegt – das Ziel, neue Strömungen im aktuellen lateinamerikanischen Kino zu zeigen, die von jungen Regisseuren gebildet werden, die jedes Jahr auf‘s Neue mit besonderen Erzählungen und Bildsprachen die Realität Lateinamerikas umreißen und mit genauem Blick die Ereignisse der Region hinterfragen."

Das Festival versteht sich auch als Ort, an dem sich diese unterschiedlichen Blicke der Kreativen kreuzen und sie sich mit ihren jeweiligen ästhetischen Herangehensweisen und Erzählstrategien, sowie mit der Produktions- und Vertriebssituationen (nicht nur) in Lateinamerika auseinandersetzen können, um in einem globalen, aber von wenigen Ländern und Firmen dominierten Kinomarkt, der auf Blockbuster ausgelegt ist, zu bestehen. So finden neben den Projektionen der Filme auch verschiedene theoretische Zusammenkünfte, Kolloquien, Diskussionsrunden und Buchvorstellungen statt (siehe Kasten).

Doch natürlich stehen in erster Linie die Filme im Mittelpunkt. Das Festivalkomitee wählte aus über 2000 eingesendeten Filmen, die zwischen 2020 und 2022 entstanden sind, die Produktionen aus, deren ästhetische und inhaltliche Beschreibung der unterschiedlichen Realitäten der Länder Lateinamerikas sie am meisten überzeugten.

Ein Festival des lateinamerikanischen (Kino)Films

Der Besuch des Festivals gleicht einer Rundreise durch den Kontinent verbunden mit einer Zeitreise. Die Filme greifen aktuelle Themen ebenso auf wie historische.

Für ‚unsereins‘ bietet dieses Fenster zur (lateinamerikanischen) Welt die Möglichkeit, einen Blick über den Brillenrand der eurozentristische Brille auf bestimmte Themen zu werfen oder sich dieser Brille überhaupt erst bewusst zu werden.

Ich hatte zum Beispiel vor Jahren einen Aha-Moment bei dem Thema Migration und Rassismus, das sich aus lateinamerikanischer Sicht ähnlich und doch wieder ganz anders darstellt. Dieses Thema zieht sich durch die Jahre hindurch und wird immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen aufgegriffen, so dass der ‚Aha-Moment‘ wieder aufgefrischt und der Blick geweitet wird.

Diese Ausführungen sowie die versprochene Rundreise durch den Kontinent anhand der Filme des Festivals "Cine a lo Grande" folgen in der kommenden Ausgabe der Cuba Libre.

Die beschriebenen Spots können hier angesehen werden: https://habanafilmfestival.com/spots/spots/

CUBA LIBRE Franziska Rheinke

CUBA LIBRE 2-2023