Diese Frucht wird nicht reif

Kuba nach den Wahlen

Im April war das alltägliche Leben in Kuba vom Benzinmangel beherrscht. Davon waren alle irgendwie betroffen und Leute, die es dringend brauchten, verbrachten ihre Nächte in der Schlange vor den Tankstellen. Morgens wurde ihnen dann die dorthin gelieferte Menge und wieviel Liter pro Person abgegeben würden, mitgeteilt. Dann konnten sie sich ausrechnen, ob es sich lohnte in der Schlange weiter auszuharren.

Auf jeden Fall hatten alle elektrisch betriebenen Gefährte, von denen es inzwischen schon eine Menge gibt, Hochkonjunktur und auch wir ließen uns von einem solchen durchrütteln, um zur Arbeit zu gelangen.

Der Mangel in dieser extremen Form wird aber sicher nur zeitweilig sein, auch wenn die Verfolgung der Tanker, die Treibstoff nach Kuba bringen, anhält.

Arbeiter aus Camagüey

Arbeiter aus Camagüey versammeln sich auf dem Platz der Arbeiter, um die Einheit des Volkes zu bekräftigen. Ariadna Guerra Hernández, die junge Direktorin des Hotel Plaza, ist davon überzeugt, dass die Jugend die Zukunft der Revolution garantieren wird. "Darüber hinaus bekräftigen wir auf diese Weise unsere Absicht, unser Land mit der täglichen Arbeit und mit mehr kreativem Tourismus voranzubringen, auch wenn wir einer der Sektoren sind, die am stärksten von den vom Imperialismus verhängten Maßnahmen betroffen sind."
Fotos: Trabajadores


Was aber dauerhaften Einfluss auf das Leben der Nation haben wird, sind die Wahlen – zuerst die Delegiertenwahlen zu den Gemeindeparlamenten und danach die Wahl der Abgeordneten zur Nationalversammlung. Trotz heftiger aus dem Ausland geführter Kampagnen zur Stimmenthaltung und der wahrhaftig schwierigen wirtschaftlichen Lage hat sich eine große Mehrheit der Bevölkerung an den Wahlen beteiligt und für die aus ihren Reihen stammenden Kandidaten gestimmt. Nun waren dies natürlich nicht die ersten Delegierten- und Abgeordnetenwahlen, aber diese waren etwas Besonderes. Was sie so anders macht, ist die sich ändernde Funktion der Delegierten und Abgeordneten. Im Rahmen der größeren Autonomie der Gemeinden und Provinzen haben diese nun mehr Handlungsspielraum. Dies bedeutet aber auch viel mehr Arbeit und Engagement. Denn die neue Politik besteht in einem engen Kontakt mit der Basis. Das bedeutet, dass der Abgeordnete genau darüber informiert sein muss, was in seinem Wahlkreis vor sich geht, wo Probleme einer Lösung harren. Da gibt es nun kaum noch Entschuldigungen für Inaktivität und selbst der Präsident, der von einem Wahlkreis in der Provinz Villa Clara zum Abgeordneten für die Nationalversammlung gewählt wurde, verbringt jetzt mindestens einen Tag im Monat dort, hautnah mit der Bevölkerung. Da kommt es nicht vor, dass ein Minister oder Präsident nicht weiß, wie viel die Milch oder das Brot kosten. Dabei muss man sich immer vor Augen halten, dass in der Regel sowohl die Abgeordneten als auch die Delegierten weiterhin ihren Beruf ausüben und der Kontakt mit den Menschen und die Bemühungen bei deren Problemen zu helfen, von ihrer Freizeit abgehen.

Die Kandidaten werden bei den Versammlungen in den Wohnvierteln nominiert, wobei die Meriten des Einzelnen eine Rolle spielen. Schließlich wollen die Wähler ja jemanden, bei dem man davon ausgehen kann, dass er engagiert ist und bereit ist, ihre Interessen im Alltag zu vertreten.

Wenn ein Kandidat bei den Gemeinderatswahlen über 50% der Stimmen erhält, ist er zum Delegierten gewählt. Etwa vierzehn Tage später findet dann ein feierlicher Akt statt, an dem die Gewählten ein Siegel und ein Dokument erhalten, das sie als Delegierte ausweist und dann können sie offiziell mit der Ausübung ihres Amtes beginnen. Nun hat jeder oder jede, die bereit ist, sich für das Amt zur Verfügung zu stellen, eine Vorstellung davon, was diese Funktion beinhaltet. Trotzdem findet ein einwöchiges Seminar statt, in dem sie nun erfahren, wie genau die Arbeit mit den Wählern gestaltet werden soll, sie werden über die Gesetzestexte informiert und bekommen Dokumente mit nach Hause, die sie immer zu Rate ziehen können.

Wenn früher die Delegierten von Ämtern und Behörden oft abweisend behandelt wurden, wenn sie ihre Anliegen vorbrachten, so hat sich das nun grundlegend geändert. Man weiß nun, dass nur wenn man hört, was die Bevölkerung zu sagen hat, man diese schwierige Zeit meistern kann. Deshalb bekommt der Delegierte nun von überall Unterstützung – dem Generalsekretär der Partei in dieser Zone, dem Frauenverband, den CDRs und den in diesem Wahlkreis gelegenen Unternehmen. Und es wird ihm viel mehr Respekt und Unterstützung entgegengebracht in moralischer und politischer Hinsicht. Wenn er durch seinen Wahlbezirk geht, wird er mit Delegado angeredet und begrüßt. Diese Wertschätzung hat sich ein engagierter Delegierter auch redlich verdient, wenn man bedenkt, was er alles leisten muss.

Gleich bei Amtsantritt besucht er jede Familie einzeln und macht sich eine Vorstellung von deren Lebensumständen, bekommt Bitten vorgetragen und hilft bei der Überwindung bürokratischer Hürden. Das ist aber nicht nur ein Strohfeuer, eine Aktion zu Beginn und dann schleifen lassen. Nein, der Delegierte des Wahlbezirks, mit dem ich gesprochen habe und auch die anderen in diesem Volksrat machen täglich ihren Rundgang durch ihren Bezirk, sprechen mit den Menschen, gucken, ob Arbeiten gut durchgeführt wurden, melden das Austreten von Abwässern oder auch von Trinkwasser. Dies ist ein gravierendes Problem, besonders in Havanna. Auch vor unserem Haus hatten wir einige Wochen die nicht wohlriechende Brühe aus Abwässern. Es kamen auch die entsprechenden Wagen, die den Abfluss freiräumten. Nur es brachte nichts. Die Delegierte unseres Wahlkreises erklärte uns dann, dass das Problem nur zu lösen sei, wenn zusätzlich eine Pumpe das Wasser nach oben pumpen würde. Genau habe ich es nicht verstanden, nur so viel, dass im Moment kein Diesel vorhanden sei, um die Pumpe in Gang zu setzen. Glücklicherweise hat sich inzwischen anscheinend Diesel gefunden.

Küste von Cojímar

Freiwillige säubern die Küste von Cojímar. Der Müll gelangt mit dem Abwasser ins Meer und wird an Strand gespült
Foto: Enrique González (Enro)/ Cubadebate.


Der tägliche Rundgang und Gespräche mit den Wählern finden nach einem achtstündigen Arbeitstag und auch am Wochenende statt. Zusätzlich können die Wähler mit ihrem Anliegen in seine Sprechstunde kommen, die jeden Mittwoch von 6–8 p. m. Abgehalten wird. Der Ort ist immer derselbe. Es kann ein Raum sein, der ihm von einem Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, es kann aber auch ein Klassenraum in einer Schule sein.


Die Leute kommen z. B., wenn in ihrer Wohnung ein Teil der Decke heruntergekommen ist. Der Delegierte macht sich dann vor Ort ein Bild, dokumentiert das Ganze, füllt die entsprechenden Formulare aus und geht damit zur Direktorin der für Wohnungen zuständigen Abteilung der Gemeindeverwaltung.



Sie hat jeden Donnerstag zu einer festgesetzten Zeit Sprechstunde nur für die Delegierten, denn das Wohnungsproblem ist ein Dauerbrenner. Dort gibt es dann drei Kopien der Schadensmeldung. Eine für besagte Direktorin, eine weitere an die Gemeinderegierung und eine verbleibt beim Delegierten. Der fragt dann jede Woche nach, ob man eine Entscheidung getroffen hat, die aber innerhalb von spätestens dreißig Tagen erfolgt sein muss. Der Delegierte hält die Betroffenen auf dem Laufenden. Aber alles hängt davon ab, ob im Wohnungsetat der Gemeinde dafür noch Geld zur Verfügung steht. Die Mittel werden auch nach Schweregrad vergeben. Wenn einer Familie die ganze Wohnung zusammenbricht, wird dies prioritär behandelt, damit sie nicht solange in einer Notunterkunft bleiben muss.

Ein großer Teil der Arbeit des Delegierten besteht also darin, sich aufgrund der von seinen Wählern geäußerten Beschwerden an die entsprechenden Unternehmen zu wenden: Austritt von Abwässer – Aguas de la Habana, wilde Müllkippen – Müllabfuhr usw..

Kleinere Probleme löst der Delegierte dann sofort: Die alleinstehende alte Frau, der es zu beschwerlich ist, jeden Tag zur Bäckerei zu gehen, um ihre ihr auf Libreta zustehenden Brötchen abzuholen. Da kann der Delegierte dann ein Formular ausfüllen und die alte Dame bekommt dann an einem Tag ihre gesamte Wochenration. Allerdings muss dieser Antrag zu Beginn jedes Jahres erneuert werden.

Wenn er von Nachbarn erfährt, dass jemand aufgrund eines Unfalls oder aus einem anderen Grund nicht in der Lage ist, sich zu versorgen, kümmert er sich darum und stellt sicher, dass ein Sozialarbeiter sich des Problems annimmt.

Die Probleme, die die Kubaner bewegen, sind Wohnung, Lohn und Ernährung. Bei der Wohnung versucht man zu helfen, beim Lohn ist nichts zu machen und die Ernährung kann der Delegierte auch nicht beeinflussen. Aber auch da kann er zumindest ein bisschen Einfluss nehmen. Er informiert seine Wähler, wenn in der Nähe sogenannte Ferias stattfinden. Dort verkaufen dann Produzenten ohne Zwischenhändler direkt ihre Produkte an den Kunden, was sich in günstigeren Preisen für den Kunden äußert. Zu diesem Zweck haben die meisten Delegierten eine Kommunikation über what`s app in ihrem Wahlkreis geschaffen. Dort informieren sie über alles, was für seine Wähler wichtig sein könnte und auch diese können sich darüber direkt mit ihnen in Verbindung setzen. Nun hat natürlich noch nicht jeder ein Handy mit what΄s app. Gerade in Havanna gibt es jedoch sehr viele, die darüber verfügen. Die Verbindung der Nachbarn untereinander ist so intensiv, dass sich immer einer findet, um über eine Notlage sofort zu informieren.

Der Delegierte, den ich befragt habe, ist zuständig für 1070 Wähler. Jeder engagierte Klassenlehrer oder engagierte Klassenlehrerin mit ca. dreißig Schülern kann sich vorstellen, was es bedeutet, für über tausend Menschen immer erreichbar zu sein. Der Delegierte eines Wahlkreises verfügt natürlich nicht über Haushaltsmittel. Die ihm übergeordnete Instanz ist der Volksrat (Consejo Popular), in dem jeweils zehn Wahlkreise zusammengefasst sind. An dessen Spitze steht ein Vorsitzender. Diese Funktion des Vorsitzenden des Volksrats ist die einzige, die hauptamtlich ist. Das bedeutet, dass dieser das Gehalt bekommt, das er zuvor an seinem Arbeitsplatz erhalten hat, er aber so lange von seiner Arbeit freigestellt ist, wie er diese Funktion ausübt. Die Funktion des stellvertretenden Vorsitzenden ist schon wieder ehrenamtlich. Einmal im Monat findet ein Treffen aller zu einem Volksrat zugehörigen Delegierten statt. Dort tauscht man sich aus und es wird immer ein spezielles Thema behandelt, wie z. B. das Wohnungsproblem. Dann wird die für die Abteilung Wohnungen zuständige Direktorin eingeladen, die dann im Detail erläutert, in welcher Phase sich die einzelnen Reparaturarbeiten befinden.

Ebenfalls einmal im Monat kommen die Delegierten in der Gemeinderatsversammlung zusammen. Das ist die Instanz, die über die Verteilung der Haushaltsmittel entscheidet. Jeder Delegierte gehört außerdem einer Kommission des Gemeindeparlaments an: Wohnung, Gesundheit etc. Die Vergabe der Haushaltsmittel erfolgt nach der Dringlichkeit und wie dringlich etwas ist, darüber entscheiden dann die Delegierten.

Wie man unschwer erkennen kann, ist Volksvertreter in Kuba zu sein ein Amt, das nur jemand ausüben kann, der wirklich hinter dem steht, was er tut. Das Mandat des Delegierten eines Gemeindeparlaments oder Provinzparlaments oder des Abgeordneten der Nationalversammlung hat nichts mit dem lukrativen Posten zu tun, den die westlich kapitalistischen Demokratien vergeben. Man bekommt hier nach dem Ausscheiden auch keine Beraterverträge und Direktorenposten in Konzernen. Hier wissen Delegierte und Abgeordnete, dass der Tag mit seinen 24 Stunden definitiv zu kurz ist. Auch die Abgeordneten müssen ihre Pflichten nach getaner Arbeit erfüllen und nur die Vorsitzenden der Ständigen Ausschüsse werden von ihrer Arbeit freigestellt und erhalten weiter das Gehalt.

Arbeiter von Aguas de La Habana

Arbeiter von Aguas de La Habana bei Arbeiten in der Hauptstadt.
Foto: aguas de la habana


Alle in der Gemeinde stellen fest, dass nach den letzten Wahlen ein neuer Geist zu spüren ist, der sich schon einige Zeit davor bemerkbar machte. Die Tatsache, dass Provinzen und Gemeinden mehr Autonomie bekommen haben und viele Probleme selbst in die Hand nehmen können, die vorher erst von höheren Ebenen genehmigt werden mussten, ist dabei sicherlich der wesentliche Faktor. Die Begeisterung, in der Gemeinde etwas aufzubauen, sie gemeinsam zu verschönern und Initiativen im kulturellen Bereich ins Leben zu rufen, ist in allen Gemeinden zu spüren – in einigen mehr, in anderen weniger. Aber es ist ja auch noch nicht viel Zeit seit den letzten Wahlen vergangen.




Ganz deutlich wird aber – vom Präsidenten der Republik bis hin zum Delegierten im letzten Wahlkreis auf dem Land –, dass der Kontakt mit der Basis, die ständige Verbindung mit der Bevölkerung die einzige Möglichkeit ist, die Revolution lebendig zu erhalten. Nur wenn alle sehen, dass man ihnen zuhört, ihre Probleme ernst nimmt und gemeinsam mit ihnen an deren Lösung arbeitet, geht es in einer Gemeinde voran. Wenn sich alle angesprochen fühlen und den Erfolg der gemeinsamen Arbeit sehen, ist dies ein dauernder Ansporn. Und dabei geht es nicht um die großen Erfolge, sondern um Dinge, die das alltägliche Leben erleichtern oder verschönern. Es geht auch darum, deutlich zu machen, welche Anstrengungen die Regierung unternehmen muss, um sicherzustellen, dass jeden Monat der Reis den Nahrungskorb für die Grundversorgung erreicht. Wie dort wohl jeder hofft und bangt, dass das Geld dafür vorhanden ist und das Schiff rechtzeitig kommt. Welche Belastung es für die betroffene Bevölkerung bedeutet, vierzehn Tage kein Gas zum Kochen zu haben, aber auch für die Regierung, dies zu wissen und welche Erleichterung, als das Schiff mit Flüssiggas schließlich im Hafen von Santiago anlegte. Dann musste die Bevölkerung anerkennen, dass jeder – vom Hafenarbeiter über die Verteilerstellen bis hin zu den Lieferwagen, die die Behälter auslieferten – Tag und Nacht arbeitete, damit die Leute wieder normal kochen konnten. Und jetzt hoffen alle, dass das nächste Schiff rechtzeitig kommt, denn die Ladung des letzten Tankers reicht, um das Land mal gerade dreißig Tage lang zu versorgen. Oder das Tankschiff mit dem Diesel, der teilweise auf andere Tankschiffe umgeladen wurde, um es schnell abfertigen zu können, damit es weiter in andere Häfen des Landes fahren konnte, um die dramatische Mangellage auch dort etwas zu lindern.

Das Leben in Kuba wird immer eine Herausforderung sein. Ganz sicher leiden die Menschen weltweit unter den aktuellen Krisen. Aber nur die Menschen in Kuba leiden zusätzlich unter einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade. Nur die Menschen in Kuba sind ständigen Angriffen des mächtigsten Landes der Welt ausgesetzt, das offen zugibt, alle Mittel einzusetzen, um ihr Land, ihr Gesellschaftssystem zu zerstören. Wie soll eine Wirtschaft funktionieren, der die Banken Überweisungen verweigern? Wie soll eine Wirtschaft funktionieren, der zusätzlich zu den extraterritorialen Beschränkungen der Blockadebestimmungen jetzt auchnoch mit dem Stigma zurechtkommen muss, ein Staat zu sein, der den Terrorismus unterstützt, was selbst gutwillige Unternehmen in Panik versetzt? Wie soll eine Wirtschaft funktionieren, wenn jeder Tanker verfolgt und bedroht wird?

Dass sie es auf wundersame Weise irgendwie immer noch tut, dass trotz allem die Mehrheit der Bevölkerung auf Seiten der Regierung, auf Seiten der Revolution steht, ist nur damit zu erklären, dass die Wähler jeden Tag sehen, dass man bei allem was passiert, immer versucht, ihnen das Leben zu erleichtern. Dass niemals ein Delegierter oder Abgeordneter oder Minister sagen würde, dass ihm die Wähler egal seien. Das sind sie ganz einfach deshalb schon nicht, weil sie selber zu dem Volk gehören und mit den gleichen Problemen zurechtkommen müssen.

200 Jahre ist es nun her, seit der 6. Präsident der USA, John Quincy Adams, verkündete, dass Kuba ganz automatisch wie eine reife Frucht den USA zufallen und von ihnen annektiert werden würde.

Noch immer beweist Kuba jeden Tag, dass es dies niemals zulassen wird.

CUBA LIBRE Renate Fausten

CUBA LIBRE 3-2023