Sieben Bände zum 95.

Zum Geburtstag Che Guevaras erscheint eine neue Ausgabe Ausgewählter Werke.



Che Guevara von Alberto Corda, 1960

Originalabzug des ikonischen Bildes von Alberto Corda, 1960



Am 14. Juni wäre Ernesto Che Guevara 95 Jahre alt geworden. In Kuba, Argentinien und vielen anderen Ländern fanden aus diesem Anlass zahlreiche Veranstaltungen statt, die sich mit dem Erbe und den Ideen des Revolutionärs auseinandersetzten. So präsentiert die Regierung von Ches argentinischem Geburtsort Rosario noch bis September eine Ausstellung unter dem Titel "Als Ernesto den Che erträumte", die sich auf die Jugendjahre des späteren Guerillero konzentriert und bereits in Mexiko und Kuba zu sehen war. Schon im April befasste sich in Havanna ein wissenschaftliches Kolloquium mit den wirtschaftspolitischen Diskussionen, an denen sich Che in seiner Zeit als Minister aktiv beteiligte. Hauptreferent Fidel Vascós hob dabei die Fähigkeit Guevaras hervor, die Diskussionen auf Augenhöhe und respektvoll zu führen, auch wenn Kontrahenten anderer Meinung waren. So war es durchaus üblich, dass in den von Che gegründeten Zeitschriften – etwa der "Verde Olivo" der Revolutionären Streitkräfte Kubas oder der vom Wirtschaftsministerium herausgegebenen "Nuestra Economía" – in der selben Ausgabe Beiträge von Che und anderen Revolutionären erschienen, die sich inhaltlich widersprachen.

Einen Eindruck dieser Diskussionskultur könnte auch eine Neuerscheinung des Che-Guevara-Studienzentrums und des Verlags Ocean Sur vermitteln. Ende Mai kündigten beide die Herausgabe einer siebenbändigen Anthologie mit Briefen, Reden, Artikeln und anderen Texten von Che an. Leider lagen die Bände bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht zur Rezension vor, aber die Ankündigungen lesen sich vielversprechend. Zwar sind bekannte Reden und Aufsätze von Che längst in Einzel- oder Werkausgaben erschienen, aber in den letzten Jahren sind viele Texte aufgetaucht, die zuvor unbekannt oder in Vergessenheit geraten waren. Insbesondere bei den späten Analysen kam noch hinzu, dass deren Veröffentlichung bis 1989 die Beziehungen zur Sowjetunion hätten belasten können, weil Che in seiner Kritik an der Entwicklung des real existierenden Sozialismus kein Blatt vor den Mund nahm – ohne dabei allerdings in das Lager der "linken Kritiker" abzurutschen.

Che Guevara 1960 in der DDR

1960 besuchte eine kubanische Wirtschaftsdelegation unter der Leitung des Präsidenten der kubanischen Nationalbank, Ernesto Guevara, die DDR. Hier mit dem Minister für Außenhandel, Heinrich Rau.
Foto: Bundesarchiv / Horst Sturm / CC-BY-SA 3.0


Der erste Band der neuen Anthologie umfasst Jugendschriften wie Ches Reisetagebücher, Briefe und Zeitungsartikel aus seiner Jugend sowie seine philosophischen Notizen. Von besonderer Bedeutung in dieser Zeit waren die Erlebnisse Ches in Guatemala, wo 1954 der fortschrittliche Präsident Arbenz durch eine von Washington gesteuerte Söldnerinvasion gestürzt wurde. Ches Analyse der damaligen Ereignisse, die er in einem Artikel zusammenfasste, sollten keine zehn Jahre später für Kubas Revolutionäre wichtig werden – als die USA 1961 in der Schweinebucht versuchten, das guatemaltekische Rezept zu wiederholen und krachend scheiterten.







Ernesto Guevara, 1963

Ernesto Guevara, 1963, in seinem Büro als Industrieminister (im achten Stock des Hotel Riviera in Havanna), während eines Interviews mit dem US-Magazin Look.
Foto: René Burri / gemeinfrei




Im zweiten Band sind Ches Schriften aus der Zeit des Guerillakampfes in Kuba und unmittelbar danach versammelt, darunter bekannte Bücher wie "Episoden des Revolutionskrieges", aber auch Befehle, Briefe und Interviews aus dieser Zeit. Es folgt in Band drei die erste Phase der revolutionären Macht von 1959 bis 1961 mit Essays, Artikeln, Interviews und Briefen aus dieser Zeit, die – so der Verlag im Ankündigungstext – wichtige Vorarbeiten für spätere, grundsätzlichere Arbeiten waren. Diese finden sich in den Bänden vier und fünf, die die Phase des sozialistischen Übergangs auf Kuba behandeln. Seine Schriften aus dieser Zeit belegen, wie Che vom Marxismus ausgehend die Besonderheiten des Sozialismus in den bisher abhängigen Ländern analysiert und den Weg zur radikalen Veränderung ihrer kapitalistischen Strukturen skizziert.



Che Guevara 1965 in China

Zweiter Besuch Ches in China 1965, hier mit Ministerpräsident Zhou Enlai.
Foto: gemeinfrei


Band sechs, der den Titel "Solidarität und Internationalismus" trägt, konzentriert sich dann auf die Beteiligung Che Guevaras am Kampf im Kongo und beinhaltet Reden, Essays und Briefe sowie das Buch "Episoden des Revolutionskrieges: "Kongo" und zwei zumindest hierzulande bisher kaum bekannte Kurzgeschichten, die Che direkt im Kongo in sein Notizbuch geschrieben hatte: "La Piedra" (Der Stein) über die Nachricht vom Tod seiner Mutter Celia, die ihn mitten in Afrika erreichte, und "La Duda" (Der Zweifel) über das Grübeln eines im Krieg Verwundeten. Schließlich finden sich auch seine "kritischen Notizen zur Wirtschaftspolitik" und "philosophische Notizen", die er nach dem Rückzug aus dem Kongo in Prag verfasst hatte. In diesen nie vollendeten Texten hinterfragte Che grundsätzlich die Prämissen der sowjetischen Wirtschaftspolitik und warnte (1966!), dass man in die Gefahr laufe, den Kapitalismus wiederherzustellen.



Der letzte, siebte Band umfasst dann die Jahre 1966 und 1967, als Che in Bolivien seine letzte Schlacht kämpfte. Er enthält berühmte Texte wie Ches "Botschaft an die Trikontinentale" und das Bolivianische Tagebuch, aber auch Korrespondenzen und Dokumente der Guerilla.

Leider ist bislang nicht absehbar, ob es von dieser Anthologie in nächster Zeit auch eine deutschsprachige Übersetzung geben wird. Zumindest bei einigen der "Neuentdeckungen" (die inzwischen auch schon mehrere Jahre bekannt sind) wäre es schön, wenn sich ein Verlag darum kümmern würde, sie auch Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, die des Spanischen nicht mächtig sind.

CUBA LIBRE
Andre Scheer

CUBA LIBRE 3-2023