Gewerkschaften

Das folgende Gespräch versucht, einige Diskussionen zusammenzufassen, die wir mit den Kubanern über das Lohnsystem und die Frage der materiellen und moralischen Anreize geführt haben. Wir haben deswegen keine einzelne Diskussion aufgezeichnet, weil es sehr schwierig ist, alle wichtigen Argumente in einer solchen wiederzufinden(man redet allzu leicht aneinander vorbei, wenn sich ein Fragesteller mit relativ allgemeinen Vorstellungen vom Aufbau des Sozialismus und ein mitten in der Praxis dieses Aufbaus stehender Kubaner treffen). Es mag auch durchaus sein, daß nicht alle Antworten zufriedenstellen; aber es sind die Antworten, die wir wirklich bekommen haben.

Frage: Mich interessiert, wie es hier in Kuba im Moment im Betrieb aussieht, wie hoch die Löhne sind und wie groß der Unterschied zwischen verschiedenen Lohnstufen ist.

Antwort: Ich kann Dir keine genaue Auskunft geben, weil wir im Moment gerade versuchen, unsere Löhne klarer zu ordnen und den Wirrwarr aufzulösen, den uns der Kapitalismus auf diesem Gebiet hinterlassen hat und den wir bisher nicht ganz beseitigt haben. Aber im Prinzip ist es so, daß wir acht Lohnstufen haben, die eingeteilt sind nach der Qualifikation, die für eine Arbeit nötig ist, nach der Verantwortung, die der Arbeiter trägt, nach der Schwere der Arbeit und nach der Beanspruchung durch Monotonie, Lärm, Schmutz. Der Mindestlohn beträgt zur Zeit 85 Pesos (ca. 300,-- DM), die höchsten Löhne für Arbeiter bis 285,-- Pesos. Techniker und Leute in der Verwaltung erreichen bis maximal 500,-- Pesos. Auf alle Fälle reichen auch die Mindestlöhne gut aus, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen, weil die wichtigsten Lebensmittel und das Wohnen sehr billig sind.

F.: Gab es nicht einige Versuche, die Löhne immer mehr anzugleichen, um längerfristig allen denselben Lebensstandard zu ermöglichen? Ich finde die Unterschiede recht hoch.

A.: Es stimmt, ziemlich lange Zeit war das eines der hauptsächlichen Ziele der Revolution. Aber man hat gemerkt, daß das am Bewußtsein der meisten Leute vorbeigeht. Viele können nicht verstehen, warum sie nur genausoviel bekommen wie ein anderer, wenn sie mehr arbeiten oder bessere Qualität herstellen. Sie halten das für ungerecht und lassen mit der Arbeit nach. Du hast bestimmt die Thesen des XII. Gewerkschaftskongresses gelesen, wo betont wird, daß für den Sozialismus das Prinzip 'Jeder nach seiner Fähigkeit, jedem nach seiner Leistung' gilt. D.h., daß unterschiedliche Arbeitsleistungen auch unterschiedlich bezahlt werden.

F.: Das ist schon richtig, aber ich möchte gerne wissen, ob die längerfristige Tendenz. dann wenigstens in Richtung Angleichung geht, oder ob die Unterschiede eher immer größer als geringer werden.

A.: Ich glaube nicht, daß die Unterschiede immer größer werden müssen. Du vergißt zum Beispiel, daß eine Menge von Dienstleistungen und sozialen Möglichkeiten für alle gleich sind, wie die medizinische Betreuung oder die Schule für die Kinder. Wenn man das &einrechnet, sind die Unterschiede schon weit weniger schwerwiegend, als es auf den ersten Blick aussieht. Aber im Moment kann unsere Gesellschaft noch keine wirkliche Gleichheit für alle herstellen, dazu fehlen uns die Voraussetzungen. Solange das noch so ist, gilt das Prinzip, daß jeder nach seiner Leistung entlohnt wird. Fidel hat in seiner Rede zum 26. Juli gesagt, daß wir in diesen Fragen früher häufig idealistisch gedacht haben und daß das der Wirtschaft Kubas einigen Schaden zugefügt hat. Der Zeitraum, den ein Volk zu einem solchen Entwicklungsprozeß braucht, ist größer als wir zunächst dachten.

F.: Wenn wir schon bei den Thesen zum XIII. Kongreß und bei der Entlohnung sind: mir ist aufgefallen, daß seit einiger Zeit die materiellen Anreize den moralischen gleichgestellt werden. Früher hatte doch gerade der Che versucht, den Vorrang der moralischen Anreize damit zu begründen, daß das Bewußtsein der sozialistischen Menschen nicht wie im Kapitalismus durch direkte Belohnung, sondern durch immer mehr freiwilligen Einsatz für die Gesellschaft bestimmt sein soll.

A.: Du hast recht, Che hat das gesagt und wir meinen auch nicht, daß das falsch ist. Wir haben ja die moralischen Anreize auch nicht abgeschafft. Die Gewerkschaften machen z.B. Kampagnen für freiwillige Arbeitseinsätze, und es gibt im Betrieb sozialistischen Wettbewerb zwischen den Arbeitskollektiven, oder es gibt sozialistische Wettbewerbe zwischen verschiedenen Betrieben. Das sind Mittel, ohne materielle Anreize den Arbeitern klarzumachen, wie wichtig ihr Arbeitsbeitrag und ihr kollektives Verhalten für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft und damit für sie selbst sind. Aber manche Leute lassen sich dadurch nicht begeistern. Denke z.B. an die Probleme, die wir mit dem 'ausentismo' (unentschuldigtes Fehlen am Arbeitsplatz) hatten: unsere Grundnahrungsmittel sind so billig, daß man leben kann, wenn man nur drei Tage in der Woche arbeitet. Viele haben das gemacht und so auf Kosten der anderen gelebt, denn die kostenlosen sozialen Einrichtungen werden von der Arbeit aller finanziert. Aber wenn man nicht an dauernde Arbeit gewöhnt ist, weil man vielleicht vor der Revolution Landarbeiter war und nur während der Zuckerrohrernte einen Job hatte, drei bis vier Monate im Jahr, fällt einem die Umstellung sehr schwer, auch wenn man sonst nichts gegen die Revolution hat. Solche Leute sollen durch verstärkte materielle Anreize mehr als bisher in die Produktion einbezogen werden.

F.: Haben diese materiellen Anreize aber keine negativen Folgen für das Bewußtsein der Leute, die bisher freiwillige Arbeitseinsätze mitgemacht und damit ihre revolutionäre Haltung bewiesen haben?

A.: Wahrscheinlich werden die wirklich revolutionären Kubaner sich dadurch nicht wesentlich beeinflussen lassen. Die Maßnahmen zielen besonders auf solche Leute, die freiwillig nicht bereit sind, ihre Arbeitsleistung zu steigern. Wir müssen unsere Produktivitätsreserven dringend voll ausschöpfen, denn die entscheidende Schranke für Kubas Entwicklung ist vor allem der Mangel an Arbeitskräften.

F.: Ich sehe ein, daß man das erst nach einiger Zeit mit praktischen Erfahrungen genauer diskutieren kann. Aber wie sieht es z.B. aus mit dem Bildungseifer der kubanischen Arbeiter, wird der nicht dadurch beeinträchtigt, daß man jetzt für erhöhte Stückzahl oder Übererfüllung der Norm mehr Geld bekommt, während man sich früher qualifizieren mußte, um in die nächsthöhere Lohnkategorie zu kommen?

A.: Einmal ist es ja nicht so, daß man durch die Übererfüllung der Normen unbegrenzt mehr Geld bekommen kann, sondern im äußersten Fall bekommt man genausoviel Geld wie die nächsthöhere Lohnkategorie. Der Anreiz zur Weiterqualifikation bleibt folglich erhalten. Außerdem kommt der Bildungshunger der kubanischen Arbeiter nicht nur daher, daß sie mehr Geld bekommen können, wenn sie besser qualifiziert sind. Sie wollen mit der Bildung nachholen, was ihnen früher vorenthalten worden ist.

F.: Ich habe gelesen, daß parallel zur Verstärkung der materiellen Anreize auch die Konsummöglichkeiten verbessert werden sollen, da man ja das Geld ausgeben will, das man verdient hat. Meinst Du nicht, daß man damit wieder Probleme einführt, die durch die gleiche Verteilung der gesellschaftlichen Produkte, also durch die Rationierung, schon abgeschafft waren? Nicht umsonst versuchen wir in den kapitalistischen Ländern ja den Konsumterror zu bekämpfen, der viele über ihre gesellschaftliche Lage hinwegtäuscht.

A.: Die Situation zwischen einem kapitalistischen Land und Kuba ist in diesem Punkt eben grundverschieden: Wir sind hier gerade imstande, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen, und wenn seit einiger Zeit bestimmte Güter kaufbar sind, so handelt es sich um Kleider oder Schuhe, oder um Rum und Zigaretten zusätzlich zur Ration, oder auch ein Abendessen in einem besseren Restaurant. Alle diese zusätzlichen Konsummöglichkeiten sind im Gegensatz zu den Preisen der rationierten Waren. Sehr teuer, so daß viel Kaufkraft abgeschöpft wird, aber trotzdem jeder seine Grundbedürfnisse befriedigen kann. Zum Beispiel kostet eine Schachtel Zigaretten in der Ration 0,20 Centavos, auf dem freien Markt aber etwa 1,20 Pesos. Ich glaube nicht, daß in der nächsten Zeit die Unterschiede zwischen den Arbeitern allzu groß werden, was die Konsummöglichkeiten betrifft.

Reise nach Cuba - 1973