"Die Befriedung durch Krieg kann man nicht unterstützen"

Aus Anlaß der Lateinamerikareise des SPD-vorsitzenden und Präsidenten der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt, führte der Journalist und stellvertretende Vorsitzende der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba, Manfed Bissinger, dieses Interview für cuba libre durch.

Bissinger: Sie sind als Vorsitzender der Sozialistischen Internationale durch Süd- und Mittelamerika gereist. Dabei haben Sie zum ersten mal Kuba besucht. Warum erst jetzt?

Willy Brandt und Fidel Castro

Willy Brandt und Fidel Castro


Brandt: Seitdem ich das Amt des Präsidenten der Sozialistischen Internationale 1976 übernommen habe, war dies – von einer Tagung in der Karibik abgesehen – überhaupt meine erste Reise in diesen Kontinent. Ich habe in drei Wochen elf Länder besucht. Die kubanische Seite hatte mich zwar mehrmals eingeladen, aber erst bei dieser Reise habe ich es einrichten können, einmal selbst hinzufahren. Es kam mir vor allem darauf an, die Sicht der kubanischen Führung zur Krise in Mittelamerika in meine Eindrücke mit einzubeziehen. Früher schon hat es Kontakte gegeben, die Hans-Jürgen Wischnewski, Horst Ehmke, Erhard Eppler wahrgenommen haben.



Bissinger: Sie hatten sicher oft über Kuba gehört und gelesen. Hat die persönliche Inaugenscheinnahme Ihr Bild verändert?

Brandt: Selbstverständlich ist das persönliche Kennenlernen wichtiger als alle graue Theorie. Die Chinesen sagen: "Einmal sehen ist besser als hundertmal hören." Das gilt auch für meinen kurzen Besuch in Havanna. Beim niedrigen Anflug habe ich gesehen, daß dies tatsächlich eine grüne Insel ist, also ein Land, in dem Landwirtschaft und Aufforstung eine große Rolle spielen.

Bissinger: Wie war das mit Fidel Castro? Er gilt doch als höchst unkonventioneller Staatschef. Wie sind Sie sich begegnet?

Fidel Castro und Willy Brandt am Flughafen José Martí - Havanna

Bergüßung am Flughafen José Martí: Willy Brandt und Fidel Castro

Brandt: Ich habe ihn als unkonventionell erlebt, was Protokoll- und Programmfragen betrifft. Er holte mich bei der Ankunft am Flughafen ab, was nicht vorgesehen war. Das Programm das seine Mitarbeiter vorbereitet hatten, hat er spontan nach einem ersten Kontakt geändert. Am ersten Nachmittag haben wir uns die wunderschöne Altstadt von Havanna angesehen, und am Abend waren wir bei der Eröffnung der Baseballweltmeisterschaft dabei. Das war ursprünglich alles so nicht vorgesehen. Ungewöhnlich war wohl auch, daß wir uns am zweiten Tag 9 ½ Stunden lang unterhalten haben. Das fällt gewiß etwas aus dem Rahmen.

Bissinger: Sie sollen während der Gespräche gesagt haben, Fidel Castro sei ein sehr besonnener Staatsmann, der vieles geklärt habe. Wie entstand dieses Urteil?

Brandt: Natürlich ist Fidel Castro nicht mehr derselbe wie in seinen frühen Jahren. Wenn man 26 Jahre lang Regierungschef ist und seine Jahre vor der Revolution hinzuzählt, dann ist dies schon eine enorme Erfahrung. Mein Eindruck war: Er ist zu einer politischen Figur geworden, der auch die großangelegte Außenpolitik eines kleinen Landes führt. Das hat Gewicht, unabhängig davon, ob man damit einverstanden ist oder nicht. Manchmal hat man den Eindruck, daß die Jahre der Isolierung und der einseitigen Bindung nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind. Ich habe gespürt, daß sein Land vor allem als Dritte-Welt-Land ernster genommen wird.

Bissinger: Können Sie uns sagen, was die Hauptpunkte Ihrer vielstündigen Gespräche waren?

Brandt: Natürlich standen Fragen der kubanischen Politik in der Region im Vordergrund. Das gilt in erster Linie für Mittelamerika, aber auch für den Zustand der Beziehungen zwischen diesem Land und den Vereinigten Staaten. Mich hat beeindruckt, wie sehr man dort interessiert war, auch über globale Fragen und Probleme der Nord-Süd-Beziehungen zu diskutieren. Und selbstverständlich hat in den Gesprächen auch Kubas Engagement in Afrika eine Rolle gespielt.

Bissinger: Denken Sie, Kuba kann zur Stabilisierung der mittelamerikanischen Region beitragen, und wenn ja, wie?

Brandt: Ich glaube, daß dies inzwischen politische Absicht der kubanischen Führung ist. Immerhin hat Kuba sich bereit erklärt, die Konsequenzen des Contadora-Friedensprozesses, sollte er zustande kommen, voll zu akzeptieren, das heißt z.B. auch, Abzug von Militär- und Sicherheitsberatern aus Nicaragua. Entscheidend bleibt jedoch das schwierige Verhältnis zu dem großen Nachbarn, den Vereinigten Staaten.

Bissinger: Warum eigentlich lehnen die USA aus Ihrer Sicht Fidel Castro und Kuba so vehement ab?

Brandt: Ein solches Land mit enger Bindung an die Sowjetunion kann der Regierung der Vereinigten Staaten in verschiedener Hinsicht nicht recht sein. Ich denke nur an die Raketenkrise von 1962. Aber andererseits ist es nicht so, daß ein Ausgleich und ein Miteinander-Auskommen unmöglich sein müßte. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß die kubanische Führung daran interessiert ist. Im übrigen hat es durchaus auch schon eine amerikanische Regierung gegeben, die ihrerseits daran interessiert war, einen Ausgleich anzustreben, es aber aufgrund der Umstände nicht geschafft hat. Ich meine die Carter-Regierung. In der ersten Regierung Reagan hat es starke Kräfte gegeben, die im Denken der Ost-West-Schemata in Kuba Wurzel und Quelle allen Übels der Krise in Mittelamerika sahen. Vielleicht wird sich doch ein differenziertes Denken durchsetzen.

Bissinger: Wäre es da nicht sinnvoll, wenn der Vorstand der Sozialistischen Internationale vermitteln würde?

Brandt: Meine Erfahrung sagt mir, daß eine Vermittlung nur sinnvoll sein kann, wenn man von beiden an einem Konflikt beteiligten Seiten darum gebeten wird. Abgesehen davon hieße es, die Sozialistische Internationale zu überschätzen, wenn man meinte, sie würde sich eine derartige Aufgabe vornehmen. Nein, es wird wohl eher darum gehen, die unterschiedlichen Sichtweisen der jeweils anderen Seite zu verstehen und verständlich machen zu helfen.

Bissinger: Sie haben wie fast kein westlicher Politiker Konflikterfahrung. Was haben Sie Fidel Castro für die nächsten Jahrzehnte geraten?

Brandt: Es ist nicht meine Art, Ratschläge zu erteilen, wenn ich nicht darum gebeten werde. Ich hatte mit Fidel Castro einen anregenden Meinungsaustausch, aber es ging nicht darum, Ratschläge zu erteilen.

Bissinger: Ihr erster Kontakt mit Fidel Castro und Kuba – wird er zu weiteren Treffen führen? Also, fährt Willy Brandt wieder mal nach Kuba, um den Dialog fortzusetzen, oder laden Sie Castro nach Europa ein?

Brandt: Ich will nicht ausschließen, daß es irgendwann und irgendwo noch einmal zu weiteren Begegnungen kommt. Man wird vermutlich von zeit zu zeit voneinander hören. Regelmäßige Kontakte wurden nicht vereinbart.

Bissinger: Ihr Freund Felipe Gonzales hat ihnen ja sehr zu dem Besuch auf Castros Insel geraten. Kann es sein, daß sie sich mal zu dritt treffen, vielleicht in Madrid?

Brandt: Es ist richtig, daß auch der spanische Ministerpräsident mir z dem Besuch in Havanna zugeraten hat, aber es war keineswegs der einzige. Felipe Gonzales war ja im vergangenen Jahr mit Fidel Castro zusammengetroffen. Für weiter Treffen gibt es gegenwärtig keine Pläne.

Bissinger: ist es nicht sträflich, daß die westlichen Länder Kuba so stark vernachlässigen?

Brandt: Ich würde s nicht so hart bewerten, aber in der Tendenz widerspreche ich nicht. Für wahrscheinlich halte ich es, daß eine andere Haltung der Vereinigten Staaten unmittelbar nach dem Erfolg der kubanischen Revolution den späteren Weg anders hätte beeinflussen können. Heute geht es darum, die entstandenen Spannungen abzubauen und einen Weg des gegenseitigen Respekts und, wenn möglich, der Verständigung zu finden, der dann auch Kuba neue Perspektiven öffnen könnte. Natürlich hängt dies auch von Kuba selbst und seiner internationalen Einbindung ab, aber ich denke schon, daß nicht zuletzt aus europäischer Sicht ein Umdenken hilfreich sein könnte.

Bissinger: haben Sie die Bundesregierung und die USA vom Ergebnis Ihres Besuches in Kenntnis gesetzt und gab es eine Reaktion?

Brandt: Selbstverständlich. Auf geeignetem Wege habe ich die Regierungen in Bonn und Washington wissen lassen, was mir nicht nur aus Kuba, sondern auch sonst von der Reise zu übermitteln als sinnvoll erschien.

Bissinger: Kuba ist doch ein Entwicklungsland. Plädieren Sie für mehr Unterstützung u.a. auch durch Bonn?, oder die EG?

Brandt: Ja, der Eindruck ist richtig: Kuba ist nicht nur ein Land der Staatengemeinschaft, an deren Spitze die Sowjetunion steht, sondern eben auch ein Land der Dritten Welt. Ich habe schon gesagt, daß es mein Eindruck war, daß Kuba in diesem Zusammenhang selbst bereit ist, eine wichtigere und selbständige Rolle zu übernehmen. Inzwischen betont die kubanische Führung auch, daß sie daran interessiert ist, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Austausch mit westlichen Ländern zu erhöhen. Warum sollte man dagegen sein?

Bissinger: Herr Brandt, Sie waren auch in der Nachbarschaft Kubas, z.B. in Mexiko. Wie wird die kubanische Rolle dort eingeschätzt?

Brandt: Mexiko ist das einzige lateinamerikanische Land, das seine Beziehungen zu Kuba nie unterbrochen hat. Dort hat man mir während meines Aufenthaltes gesagt, daß man mit Kuba in einem fruchtbaren Austausch stünde.

Bissinger: Darf ich an dieser Stelle nach Nicaragua fragen? Die Kubaner sind dort stark engagiert. Hat das eine Rolle in Ihren Gesprächen mit Castro gespielt?

Willy Brandt und Daniel Ortega

Willy Brandt bei Gesprächen mit Daniel Ortega in Managua

Brandt: Nicargua hat während meiner ganzen Reise eine wichtige Rolle gespielt. Zu Beginn, während eine Bureau-Sitzung der Sozialistischen Internationale in Rio de Janeiro, hat es ernsthafte Bemühungen gegeben, zu einem Ausgleich zwischen der sandinistischen Führung und einem Teil der politischen Opposition im Hinblick auf die Wahlen vom 4. November beizutragen. Mein Eindruck in Kuba war, daß man dort nicht an einem "zweiten Kuba" in Nicargua interessiert ist. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß man dies dort will. Es ist nun auch nicht so, daß man in Managua unbedingt jedem Rat aus Kuba folgt. Die kubanische Führung ist selbstverständlich an guten Beziehungen zu dem neuen Nicaragua und an einem gewissen Einfluß interessiert. Gleichwohl habe ich nicht den Eindruck, daß beide Seiten an einer Doublette des "kubanischen Modells" interessiert sind, wie es von konservativer Seite immer wieder dargestellt wird.

Bissinger: Denken Sie denn, die Spannungen um Nicaragua können auf absehbare Zeit beseitigt werden?

Brandt: ich denke, daß die Beteiligten in Ihren Anstrengungen nicht nachlassen sollten, für eine Friedenslösung in Mittelamerika einzutreten. In diesem Zusammenhang erwähne ich nochmals die regionale Friedensinitiative, die mit dem Namen Contadora verbunden ist: Nicaragua war das erste und blieb bis heute das einzige Land, das den Contadora-Text, der von Mexiko, Panama, Kolumbien und Venezuela vorgelegt wurde, vorbehaltlos akzeptiert hat, Erst danach wurden die Bedenken sowohl der Vereinigten Staaten als auch einige der Betroffenen mittelamerikanischen Länder deutlich. Ich habe mit den Präsidenten der vier Contadora-Staaten gesprochen und sie sehr gebeten, in ihren Bemühungen um Frieden und gemeinsame Sicherheit in Mittelamerika nicht nachzulassen.

Bissinger: Will hier die Sozialistische Internationale vermitteln?

Brandt: Mein Eindruck ist, daß die Sozialistische Internationale in diesem Bereich in den letzten Jahren einiges getan hat. Aber auch hier geht es nicht darum, irgendwie und irgendwo ohne Auftrag vermitteln zu wollen, sondern es ging darum, daß die Internationale, die ja auch in diesen Regionen ansehnlich vertreten ist, ihren politischen Beitrag leistet, wo sie als politisch-moralische Kraft gefordert ist. Das hat sie getan, und ich denke, daß sie dies auch in Zukunft tun wird.

Bissinger: haben Sie den Comandantes, einer von ihnen ist ja jetzt Staatschef, schon bei ihrem Besuch Ratschläge gegeben, wie sie sich gegenüber den USA verhalten sollen?

Brandt: Natürlich habe ich mit den Comandantes in Nicaragua über die Beziehungen ihres Landes mit den Vereinigten Staaten gesprochen. Ich habe in diesen Gesprächen auch einige Selbstkritik gehört. Sie wissen, daß das Verhältnis USA-Nicaragua einer der Schlüssel für eine Friedenslösung in Mittelamerika ist.

Bissinger: eine letzte Frage: Die USA könnten wohl am meisten zur Befriedung in Mittelamerika beitragen. Glauben Sie, daß Präsident Reagan seine zweite Amtszeit auch dazu nutzen wird?

Brandt: Was heißt Befriedung? Es geht darum, daß die Vereinigten Staaten sich jetzt dazu verstehen können, eine politische Friedenslösung, die aus der Region selbst kommt, mitzutragen. Denn auf der anderen Seite sollte nicht übersehen werden, daß die Vereinigten Staaten auch das einzige Land sind, das in der Region tatsächlich Krieg führen kann. Die Befriedung durch Krieg kann man nicht unterstützen. Ich geben die Hoffnung nicht auf.


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CUBA LIBRE 1-1985