Hunger nach Kultur haben wir stets gefördert

Abel E. Prieto, Präsident des Künstlerverbandes UNEAC und Politbüromitglied der KP Cubas

Cuba öffnet sich: verstärkter Tourismus, Investitionen des kapitalistischen Auslands, Legalisierung des Dollars als Zahlungsmittel … Ist Ihr Land vorbereitet, dem Druck einer Welt zu widerstehen, in der die Kultur entweder Besitztum der Elite ist oder als Bagatelle gehandelt wird?

Wir sind uns der Herausforderungen bewußt. Da kommt viel Arbeit auf uns zu. Wir müssen immer wieder erklären, daß eine ganze Reihe von Maßnahmen konjunkturellen Charakter haben, daß wir unsere Prinzipien nicht verscherbeln und die Kontrolle in der Hand behalten werden. Das geht nur Schritt für Schritt. Darum hat ja die Nationalversammlung ende Dezember darauf verzichtet, schon Dekrete zu verabschieden. Wir wollen der Bevölkerung erst Gelegenheit geben, über die Entwertung des Pesos, den inflationären Geldumlauf, die unbefriedigende Arbeitsmoral und die anderen drückenden Probleme nachzudenken und sich bewußt zu werden, daß etwas geschehen muß. Der neue Mensch, der uns vorschwebte, hat nicht an der nächsten Straßenecke auf uns gewartet.

Aber die Mehrheit der CubanerInnen hat viel gelernt und verinnerlicht. In dieser harten Zeit tritt vieles zutage. Da taucht der Höker auf, das Schlitzohr, der Spekulant, der Halunke, der Betrüger, ja ja, wir werden bedauerlicherweise Menschen verlieren. Aber da profilieren sich eben zugleich erst recht die Standhaften, die Ehrenwerten, die sich was einfallen lassen, um die Krise zu überwinden. Und die bilden ohne Zweifel die Mehrheit. Die garantiert undogmatische cubanische Kreativität.

Cuba hat 80 Prozent seiner in 30 Jahren gewachsenen Bindungen eingebüßt. Auch die Kultur ist in ein schwarzes Loch gestürzt: kein Papier, keine Farbe, keine Leinwand, kein Filmmaterial …

Dabei haben wir einen enormen Bedarf an Kultur. Das Filmfestival, das Ballettfestival – immer ausverkauft. Diesen Hunger nach Kultur haben wir stets gefördert. Wie viele Kunstschulen sind entstanden: und jetzt schlagen wir uns damit herum, daß wir für viele AbsolventInnen keine Arbeit haben.

In der Kulturszene beobachte ich zwei gegensätzliche Phänomene. Einerseits erhalten Künstler Eliseo Diego, Dulce Maria Loynaz, Miguel Barnet, Frank Fernández und andere, die hier leben, wichtige Preise und gute Kritiken im Ausland. Andererseits verlassen Künstler mit ebenso hohem professionellem Niveau das Land. Die Schlagersängerin Maggie Carlés zum Beispiel, die sagte, daß sie das Ave Maria nicht singen durfte, oder Jesús Diaz, den wie er sagte – das castristische Regime zu erdrücken schien.

Fest steht, daß die meisten KünstlerInnen in Cuba leben, und nicht die schlechtesten. Andere haben schon vor Jahren mit der Revolution gebrochen, erklärte Antikommunisten wie Jorge Manach. Das war normal. Dann gab es andere wie Cabrera Infante, die nicht ihr Antikommunismus forttrieb, er stammt ja sogar aus einer kommunistischen Familie.

Aber Cabrera Infante ist nicht nur ein begabter Schriftsteller, sondern zugleich ein Mensch mit großen Ambitionen. Er wollte in der cubanischen Kultur eine führende Rolle spielen. Als das nicht klappte, ging er. Wieder andere haben sich vorübergehend in Venezuela, Mexiko oder Spanien niedergelassen. Die Beziehungen zu ihnen sind nie abgerissen.

Und Jesús Diaz?

Ach Jesús Diaz. Der hat ja nicht um politisches Asyl nachgesucht, er ist nach wie vor cubanischer Bürger, hat allerdings der Solidaritätsbewegung beträchtlichen Schaden zugefügt. Das ist ein trauriger Fall. Jesús war ja 25 Jahre lang in der Partei, war Führungskader, nahm zeitweilig sogar extremistische Positionen ein. Aber ich ordne ihn nicht der Sorte Feinde zu, wie sie in Miami überwiegen.

Wir sollten auf die Wurzeln der Emigration zurückkommen.

Die ist hauptsächlich ökonomisch determiniert. Einigen konnten wir nicht die nötigen Arbeitsbedingungen bieten, andere sind gegangen, weil wir, töricht und ohne Professionalität, ihr Talent mißachtet haben. Wieder andere suchen einen Markt, auf dem sie sich gewinnbringend ausbreiten können, sie suchen Ruhm, der über die Grenzen Cubas hinausreicht, und hartes Geld. Und da meinen sie, dem Markt mit pseudopolitischen Erklärungen entgegenkommen zu müssen, wie eben Maggie, die diesen Unsinn mit dem Ave Maria erzählt, das hier bis zum Überdruß auf allen Sendern war und ist.

Trotzdem: Ich weiß nicht, ob bei Ihnen bekannt ist, daß wir hier, als wir das materiell noch einigermaßen konnten, auch Werke unserer KollegInnen aus dem Exil veröffentlicht haben. Zum Exil, das sich nicht von der Konterrevolution vereinnahmen ließ, unterhalten wir normale Kontake.

Thema Toleranz: Der cubanische Film »Erdbeer und Schokolade«, inzwischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, füllt seit Wochen die Kinos. Im Mittelpunkt stehen ein Jungkommunist und ein homosexueller Intellektueller. Für Cuba eine ziemlich gewagte Konstellation. Dazu eine Frage zum Verbot des Streifens »Alicia im Wunderdorf«.

»Erdbeer und Schokolade« (Fresa y Chocolate) ist ein sehr guter Film, seht cubanisch, und er greift mit bemerkenswertem Fingerspitzengefühl und hohem künstlerischen Niveau ein außerordentlich delikates Problem auf. Und obgleich in Cuba der Machismus nicht aus der Welt ist, kommt der Film auch beim Publikum glänzend an, auch bei denen, die Homosexualität nach wie vor für eine Perversion oder eine Krankheit halten. Das ist ein elementares Thema. Die ZuschauerInnen sind bewegt. Und dennoch wäre es allzu einfach zu behaupten, nun sei endgültig Schluß mit der Intoleranz gegenüber homosexuellen. Da haben wir eine weitere wichtige Aufgabe für die Kultur: dafür zu sorgen, daß diese Art von Diskriminierung auch von oben her verschwindet.

Und »Alicia«?

Den Film hat Daniel Torres gemacht, Mitglied der Partei, Mitglied der Nationalleitung der UNEAC, Professor an der Filmhochschule. Wegen »Alicia« hat er persönlich nie Schwierigkeiten gehabt. Aber sein Film kam unglückseligerweise in den Kinos, als Stichwort: Untergang der sozialistischen Staaten – Unsicherheit um sich griff, als es für uns allein darauf ankam, zusammenzurücken, Überlebensalternativen zu finden, uns auf unsere Werte zu besinnen. Und da taucht dieser Film auf, der ausschließlich in unseren Fehlern herumrührt, zu viel in Frage stellt, wnn auch mit den Mitteln der Satire. Da haben sich viele angegriffen, beleidigt gefühlt. 1988, 1989 wäre der Film ohne weiteres gelaufen. Und ich bin sicher, daß er auch bald wieder in die Kinos kommt. Vergessen Sie nie, in welcher Situation sich Kuba befindet, welch passiver Feindseligkeit und Bedrängnis es sich erwehren muß. Das bleibt nicht ohne Einfluß auf die Rezeptivität von Kunstwerken. Ihr Entsthen darf allerdings keiner Konjunktur unterworfen sein.

Wie kommt ein unkonventioneller Mann wie sie – die Mähne, Ihre Art zu reden, sich zu kleiden – im Politbüro klar; wo ja wohl die Genossen überwiegen, die sich dem rüden Alltag widmen müssen und der Gedankenwelt von Künstlern fern sind?

Ich bin ja nicht der einzige Intellektuelle im PB. Fidel zum Beispiel ist ein Mann mit hoher Kultur, der Bücher geradezu verschlingt, der in Geschichte und Literatur gleichermaßen bewandert ist, ein bestechender Partner für jeden Intellektuellen. Oder Carlos Rafael Rodríguez, der seit Jahrzehnten das geistige Leben Kubas mitgestaltet. Juan Almeida, Komponist und Schriftsteller. Andererseits hat jeder im Politbüro seine politische Aufgabe, das ist ja kein Kulturbund. Aber an Verständnis und entgegenkommen fehlt's nicht.

Wie wird Cuba im Jahre 2.000 aussehen?

Es wird ein sozialistisches Land sein, in dem die meisten Probleme, die uns heute durchschütteln, bereinigt sind. Ein solidarisches Land, ohne bürokratische Hindernisse. Wir werden das Geld nicht mehr aus dem Fenster werfen, wir werden kreativer sein, demokratischer.

Lassen Sie mich eine Anekdote erzählen: Ich komme aus Pinar del Rio, wo der Rassismus sehr ausgeprägt war, und Reste davon gibt es noch. Meine Tochter ist weiß und blind, ihre Freundin schwarz. Eines Tages kommt meine Tante zu Besuch, eine alte Dame, die diese Freundschaft zumindest seltsam fand. Ich habe ihr gesagt, frage doch mal die Kleine, wie ihre Freundin aussieht. Die Tante fragt. Antwort: Sie heißt Tamara, hat viele kleine Zöpfchen, ist ziemlich dick, kennt alle Bäume und Sträucher. Und so zählt sie noch ein paar dinge auf – die Hautfarbe erwähnt sie nicht, die nimmt sie gar nicht mehr wahr. Solche Menschen sind Cubas Zukunft.

CUBA LIBRE Auszüge eines Interviews
Neues Deutschland, 23.02.1994

CUBA LIBRE 3-1994