Die Wege der Linken

Der Mythos vom ewigen Kapitalismus und vom überholten Sozialismus ist heute erneut auf der Tagesordnung. Das globalisierte neoliberale Modell bietet allerdings keine Lösungen für die Probleme der Völker. Es zu bekämpfen und die Desintegration der lateinamerikanischen Nationen zu verhindern, ist für die Linke unvermeidlich. Ihre Einheit ist ein Schlüsselfaktor, um die unterschiedlichen Sektoren, die an diesem Kampf teilnehmen, zusammenzuhalten.

Das Verschwinden des sogenannten Realsozialismus hat nicht nur eine Krise der Paradigmen der linken Parteien, die sich auf die Sowjetunion bezogen, bewirkt. Eine reaktionäre Welle verbreitete die Lehre, daß der Kapitalismus ewig sei, daß die neoliberale Globalisierung die unvermeidliche Konsequenz der wissenschaftlich-technischen Revolution sei, und, daß alle Staaten verpflichtet seien, sich ihr unterordnen. Nach diesen Trugschlüssen könnten die nicht entwickelten Länder, die dieses Modell anwenden, nach einer Phase von harten Anpassungen, in die erste Welt eintreten.

In seinem Werk "Der Sozialismus und der Mensch in Cuba" sagte Kommandant Ernesto Che Guevara:

"Der Kapitalismus nimmt Zuflucht zur Stärke, aber außerdem erzieht er die Menschen im System. Die direkte Propaganda wird von den Beauftragten realisiert, um die Unvermeidlichkeit einer Klassenherrschaft zu erklären, sei sie gottgegeben oder eine naturgegebene Notwendigkeit als mechanisches Wesen. Das besänftigt die Massen, die sich von einem Übel unterdrückt sehen, gegen das sie nicht kämpfen können."

In den letzten Jahren war die neoliberale ideologische Lawine so groß, daß sie sogar einen bestimmenden Einfluß auf die theoretische Produktion und politische Praxis verschiedener Sektoren der Linken hatte. Mit verschiedenen Färbungen festigte sich die Idee, daß die soziale Revolution nicht verwirklicht werden kann – oder nur ganz langfristig – weswegen es notwendig sei, sich an die Regeln des Kapitalismus anzupassen und von der Sprache der radikalen Programme Abstand zu nehmen.

Einige schworen dem Sozialismus ab, während andere seinen Inhalt verdünnten und ihn zu einer idyllischen Abart des Kapitalismus machten, in dem die Interessen der gesamten Nation befriedigt werden können. Nach diesem Konzepten ist das liberale bürgerliche System demokratisch und in der Lage, die Einhaltung der Menschenrechte zu garantieren – zumindest der politischen und bürgerlichen Rechte. In Übereinstimmung mit dieser Logik wird die nur auf Wahlen orientierte Politik zur einzigen realen Priorität, mit dem Ziel, Raum in den gesetzgebenden Versammlungen, Provinz- und Lokalregierungen zu gewinnen, um so – langsam aber sicher – dazu zu kommen, die Regierung auszuüben, innerhalb der engen Parameter, die – wie bereits im Vorhinein bekannt ist – die Verwirklichung eines Programmes für tiefgehende politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen, die die Völker verlangen, nicht gestatten. Sie argumentieren, daß das Höchste sei, die Exzesse der gegen das Volk gerichteten Politik zu mäßigen, und daß die Unterdrückten weiterhin bedächtig nachgeben müssen, weil sie sonst Gefahr laufen, alles zu verlieren.

Erlaubt mir an diesem Punkt kategorisch zu betonen, daß der Bereich der Wahlen eine quelle des legitimen Kampfes und für die Linke von großer Wichtigkeit ist, genauso wie es die Bündnisse mit anderen Sektoren sind. Das Problem ist: Wahlen wofür? Was sind die Ziele der Bündnisse, auf welche Grundlagen gründen sie sich und welche Rolle spielt die Linke in ihnen? Wir sind überzeugt, daß es unumgänglich ist, alle Räume und Möglichkeiten auszunützen, die es gibt, aber immer mit strategischem Weitblick, um die Interessen des Volkes zu verteidigen.

Die extreme und ausschließliche Betonung der auf Wahlen orientierten Politik brachte für einige Sektoren der Linken die Notwendigkeit "zum Zentrum zu laufen". Ihr Verhältnis zu den sozialen Bewegungen und der Parteibasis wird – faktisch – etwas Instrumentales; sie benützen sie, um die Wähler, die als gefangen betrachtet werden, zu mobilisieren, aber immer mit dem Blick darauf, bestimmten herrschenden Gruppen Zugeständnisse zu machen, deren Unterstützung es – angenommener Weise – zu gewinnen gilt. Diese Haltung erzeugt Unzufriedenheit und Wahlenthaltung des Volkes, provoziert das Mißtrauen des Zentrums und fördert die Aggressivität der Rechten, für die jeder, der aus der Linken kommt, niemals aufhört seine Sünden abzubüßen.

Nach den Betreibern solcher Strömungen sind das die modernen Ideen, gestützt auf eine wissenschaftliche Interpretation der neuen Zeiten, und wir, die wir der Errichtung des Sozialismus nicht abschwören, sind besessen von veralteten Ideen, sind unfähig, die aktuelle Situation zu interpretieren. Aber wer hat tatsächlich eine moderne und wissenschaftlich Interpretation der weltweiten Entwicklungen?

Die bis zum Äußersten auf Wahlen ausgerichtete Politik bewirkt eine noch größere Distanzierung der Linken von der Basis der Volkskämpfe gegen den Neoliberalismus. Auf diese Weise entstehen und verstärken sich neue, unabhängige soziale Bewegungen an der Basis, die sich objektiv an die Avantgarde der Kämpfe gegen dieses Modell setzen. Die genannten Bewegungen ersetzen die Linke und übernehmen selbst die Funktion der politischen Vermittler.

Wird es sich bewahrheiten, daß das in Lateinamerika herrschende System gefestigt ist und die Zukunft garantiert? Wird es sich bewahrheiten, daß es sich zur Konsolidierung einer nicht perfekten, aber perfektionierbaren Demokratie fortentwickelt, innerhalb derer die Linke unter gleichen Bedingungen handeln kann, an die Regierung kommen kann und Programme für den Wohlstand des Volkes umsetzen kann?

Die kapitalistische Ideologie in der Offensive

Seit mehr als 15 Jahren lancieren die Ideologen des Kapitalismus eine weltweite Offensive, um die Linke ihrer historischen Fahnen zu berauben: Demokratie und Menschenrechte. Sie verleiben sie sich als Elemente, die angeblich mit dem Kapitalismus und Neoliberalismus vereinbar sind, ein. In der aktuellen Situation, angesichts der Anzeichen der wachsenden ökonomischen und sozialen Krise, geben sie erneut vor, die Initiative zu ergreifen, um andere Forderungen des Volkes zu vermitteln. Sie sprechen heute vom Staat als Wiederverteiler und von der Notwendigkeit sozialer Politik, die den menschlichen Fortschritt begünstigt und zur gleichen zeit verdammen sie die Ungleichheit und die Armut.

Ist es ein Zufall, daß sie uns vor kurzer Zeit erklärten, daß die Wirtschaft Grenzen setzt? Sagten sie und nicht, daß diese Grenzen es unvermeidlich machen, daß ein wachsender Teil unserer Gesellschaft dazu verdammt bleibt, in einem ewigen, untermenschlichen Status zu leben? Wie ist es zu erklären, daß der lateinamerikanische Kontinent derjenige ist, der zur gleichen zeit das größte Wachstum von Reichtum und Armut verzeichnet? Wird es sich bewahrheiten,daß die Wirtschaft diese Grenzen für die Entwicklung der Menschheit bedingt, oder ist es so, daß diese Grenzen vom Wunsch bedingt werden, die Profitrate um jeden Preis zu erhöhen? Ist es die "moderne" Umgebung, die es der Linken erleichtert, die Demokratie zu errichten, mit sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung?

Was sind die Ergebnisse der neoliberalen Politik in den fast zwei Jahrzehnten ihrer Anwendung in Lateinamerika? Der Neoliberalismus der 80er Jahre verschlang enorme finanzielle Mittel, die, die Kapitalflucht, den ungleichen Austausch und die betrügerischen Handelsoperationen der Transnationalen in ihren Exporten und Importen dazugerechnet, die Zahl von 600 Milliarden Dollar überstiegen. Die Auslandsschulden sind bis zu einem Punkt gewachsen, an dem sie die Nationen finanziell ersticken. Die neoliberale Politik beschränkte die internen Sparguthaben; enorme Mittel wurden produktiven Investitionen und der wirtschaftlichen Entwicklung entzogen; die diente dazu, daß das internationale Finanzkapital sich der strategischen Produktionsmittel und der wichtigsten Rohstoffe der Region bemächtigte; die konzentrierte das Eigentum und das Einkommen noch mehr in den Händen von ausländischen Unternehmen; die bewirkte eine große Deindustrialisierung und erzeugte massive Konkurse nationaler Unternehmen, während sie die Rezession beschleunigte und die Inflation verstärkte.

In den 90er Jahren, unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Inflation und für die Stabilisierung, verbreiterte der Neoliberalismus die einseitige Deregulierung und ökonomische Liberalisierung; er wertete die nationalen 'Währungen künstlich auf; verletzte die Währungssouveränität vieler Länder – indem ihnen der Dollar als Herr aufgesetzt wurde; die Verdrängung des Staates aus dem sozialen Sektor der Wirtschaft wurde fortgesetzt; die Erziehung und die Gesundheit wurden geopfert, die Importe schnalzten hinauf – was die Konkurse und die Desindustrialiserung vorantrieb – der Rohstoffexporteurcharakter der Region wurde verstärkt. Der Neoliberalismus erhöhte das Handelsdefizit und die laufenden Rechnungen – was ein äußerstes Wachstum der Auslands- und Inlandsverschuldung bewirkte, sowohl staatlich als auch privat – und wandte eine Politik des künstlichen Wachstums an, finanziert von der Spekulationsseite der "Schwalben" des internationalen Kapitals ("Wanderkapital"), was einen neuen Zirkel der Finanzspekulation in Gang setzte; konsolidierte die Macht der Transnationalen auf dem Kontinent und vertiefte die Arbeitslosigkeit und die Ausgrenzung.

Unabhängig von den verschiedenen Graden der Abschwächung des Neoliberalismus hat sich seine Krise schon gezeigt. Bis hin zu politischen Führern, Regierungen, Ökonomen, Sozialwissenschaftlern und Funktionären internationaler und regionaler Finanzinstitutionen, in Europa genauso wie auf dem amerikanischen Kontinent – die bis vor kurzem seine Rezepte predigten und anwandten – gehen Personen heute auf deutliche Distanz und signalisieren, daß "man zu weit gegangen ist". Für sie ist es klar, daß sie eine andere Richtung brauchen, daß sich jedoch der Herr der Akkumulation nicht ändert.

Mit ihrer technokratischen Sprache kritisieren die erneuerten Neoliberalen einige der drastischsten Konsequenzen des Modells, verteidigen jedoch seinen essentiellen Inhalt: die Makroökonomie muß – wie sie sagen – das Wichtigste bleiben, aber man muß die Exzesse korrigieren, die zur Unregierbarkeit und zu den sozialen Explosionen führen. Ist es wirklich möglich, den Kult der Makroökonomie und des Marktes mit der Wiederverteilung zu vereinbaren? Und Makroökonomie ist in dieser Sprache ein Euphemismus, um den immer wachsenden Anstieg der Profitraten der Transnationalen zu verstecken, der ihr einziges Ziel ist.

Wenn die Ausführer des Neoliberalismus selbst betrügerisch sagen, daß sie begonnen haben, nach einem "alternativen Modell" zu suchen, sind die Optionen für die Linke klar: Die eine ist es, der ideologischen Führung der Rechten zu folgen und zu versuchen, Räume innerhalb des Szenarios des Wechsels zu gewinnen, während die andere Option darin besteht, eine eigene Analyse durchzuführen, ein eigenes Programm zu erstellen, die eigene Führungsrolle zu entwickeln und in diese Anstrengungen – ohne jegliche Ausschließung und Dogmatismus – alle Sektoren einzubeziehen, die von der Krise betroffen sind.

Che kam dazu zu antworten, daß: "in vielen Ländern Amerikas objektive Widersprüche zwischen den nationalen Bourgeoisien, die darum kämpfen sich zu entwickeln, und dem Imperialismus bestehen, der die Märkte mit seinen Waren überschwemmt, um in einem ungleichen Kampf die nationale Bourgeoisie zu besiegen, genauso wie eine andere Form oder Erscheinungen des Kampfes um Mehrwert und Reichtum." Der Neoliberalismus hat diese Situation bis zum Äußersten verschärft.

Che fügte hinzu, daß: " … trotz dieser Widersprüche die nationalen Bourgeoisien im Allgemeinen nicht in der Lage sind, eine konsequente Haltung im Kampf gegen den Imperialismus durchzuhalten." Deshalb kann die Linke nicht blind der Richtung folgen, die die unzufriedene Bourgeoisie einschlägt, sondern muß für sie die Führung übernehmen. Das bedeutet, daß wir die marginalisierten Sektoren gegen den Neoliberalismus einbeziehen – und nicht umgekehrt.

In der Schlußsitzung des 4. Treffens der Völker Amerikas und der Karibik, das im Januar 1994 in Havanna stattfand, zeigte Genosse Fidel Castro auf: "Ich erinnerte mich an die Tage, in denen wir große Zusammenkünfte über die Auslandsverschuldung abhielten – das war im Jahr 1985 -, in denen wir viele der Dinge, die passieren würden und die heute passiert sind, voraussagten, da ich verstehe, daß unser Kontinent die beste Gelegenheit einer großen Schlacht verloren hat, in der wir uns viele Nöte von heute ersparen hätten können." Aus diesem Grund ist es heute von entscheidender Bedeutung, daß die Linke die Führung aller ausgeschlossenen und vom neoliberalen Kapitalismus betroffenen Sektoren übernimmt.

Den Mythos zerschlagen

Die wissenschaftlich-technische Revolution hat die Welt in eine qualitativ andere Epoche katapultiert, die neue Möglichkeiten und Widersprüche schafft. Es ist sicher, daß wir nicht nostalgisch zurückschauen, die Welt mit dem Prisma der vergangenen Epochen analysieren oder versuche, Räume auszunutzen, die sich schließen. Aber wie lange wird die Linke eine defensive Haltung einnehmen – und sich sogar assimilieren lassen – angesichts der Idee, daß die neoliberale Globalisierung und ihre Ideologie eine unvermeidliche und nicht in Frag zu stellende Konsequenz der neuen Welt sind, daß die unterentwickelten Länder verpflichtet sind, sich um der Transnationalen Willen zu ergeben und zu desintegrieren, daß die Linke aufhören muß, links zu sein, um akzeptiert zu werden und innerhalb des kapitalistischen Systems zu funktionieren, das uns vorzugaukeln versucht, daß es ewig sei?

Fortsetzung im nächsten Heft

CUBA LIBRE Roberto Regalado Álvarez
Aus: Tricontinental Nr. 136, Februar 1997
(Übersetzug C.D.R.: Antonio Maceo, Wien)

CUBA LIBRE 2-1998