Der "neue Mensch" und der Weg dorthin

Als Kinderpsychiater und Psychotherapeut bin ich auch am wirklichen und politischen Leben interessiert. Allerdings ist ein Psychotherapeut so sehr dem Individuellen und Mikroskopischen verpflichtet, daß dies dem politischen Engagement leicht entgegensteht. Und doch gibt es genügend politisch denkende, auch marxistische Psychotherapeuten, die sich mit ihrer Arbeit einem Menschenideal von innerer Freiheit und äußerer Sicherheit verpflichtet sehen, von dem wir für keine Revolution der Welt Abstand nehmen sollten. Ein Menschenbild, das ich für absolut vereinbar mit revolutionärem Denken und Handeln und der Vision von einer besseren Welt halte. Offen gestanden vermisse ich die Verbindung von einem solchen Menschenbild und politischer Vision bei vielen sich revolutionär verstehenden politisch Engagierten und auch in letzter Zeit in vielen Artikeln der Cuba Libre. Ich möchte im folgenden versuchen genauer zu erklären, was ich da vermisse.

Es ist sicher nicht falsch, Ideale im ganz herkömmlichen Sinn zu haben, an die man glaubt und die das eigene Handeln motivieren. Dennoch hatte ich bisher den Vorteil des historischen Materialismus darin gesehen, daß sein "Ideal" materialistisch ist in dem Sinn, daß das Wohl aller Menschen, die gleich gute Versorgung aller Menschen mit dem Nötigen und darüber hinaus mit dem Verfügbaren die Grundlage der materialistischen Moral ist. Dieser Zustand gleich guter Versorgung aller Menschen ist im Augenblick so weit entfernt wie eh und wir entfernen uns davon im Augenblick immer weiter.

Kuba war in den letzten 30 Jahren das Land der Erde, das diesem Zustand von Gerechtigkeit wohl am nächsten kam. Aber die Entwicklung ging, aus welchen Gründen auch immer, nicht weiter und aus bekannten Gründen wurde diese beispielhafte Situation in Frage gestellt. Vermehrt jedoch mit diesem Niedergang und nicht nur im Verlauf dieses Jahres wurde in der Cuba Libre" immer wieder der Geist von Che und die Vorstellung vom "nuevo hombre" beschworen. Dies offenbar ohne sich zu wundern, dass die sozialistischen Länder, eingeschlossen Kuba, so weit vom nuevo hombre entfernt sind wie je zuvor, ihm keinen Schritt näher gekommen sind als die übrige Welt. Und die ständigen Wiederholungen, dass man sich in dieser Idealisierung in keiner Weise von der z.B. des "guten Christenmenschen" unterscheidet, des es ebensowenig gibt wie den nuevo hombre und dessen Verwirklichung die sogenannte christliche Welt in zwei Jahrtausenden nicht wesentlich näher gekommen ist.

Wir können im Gegenteil zusehen, sie sich die Ideologie des "american way of live" weltweit durchsetzt, in der sich der jeweils Stärkere das, was er braucht und wozu er sich berechtigt fühlt, mit dem jeweils moralisch am wenigsten anstößigen Mittel nimmt, aber diese Moral eben nur gilt, solange sie die Verwirklichung der Ziele nicht beeinträchtigt. So haben die Amerikaner ihren eigenen Halbkontinent den Indianern abgenommen, und so haben sie über die andere Hälfte des Kontinents hinweg ihren Einfluß auf den Rest der Welt ausgedehnt und ihre Vorstellung des "neuen Menschen" über die Welt verbreitet.

Es war die Leistung der kubanischen Revolution, eine blutige Diktatur zu besiegen, obwohl bis heute niemand erklären kann, wieso dies gelang. Der Erfolg der kubanischen Revolution vor allem in den ersten Jahren hängt sicher neben der Insellage nicht zuletzt mit den Personen Che Guevaras und Fidel Castro zusammen.

Mehr als alle anderen Staatsmänner der Region vereint Fidel den Willen zur Macht mit persönlicher Integrität und der Sorge um die Menschen. Mehr als andere Revolutionen ist es der kubanischen gelungen, ihre Versprechungen insofern zu halten, als es dem größten Teil der Bevölkerung besser ging als vor der Revolution und alle gleich gut versorgt waren.

Nicht zuletzt infolge der Vorherrschaft der großen Konzerne der USA und der Globalisierung der Märkte und der Politik gibt es heute kaum noch einen sozialen Konflikt auf der Welt, der mit Waffengewalt gelöst werden könnte. Wahrscheinlich war dies auch früher so, allerdings machte es in der Zeit der Diktaturen weit mehr den Anschein, als wäre alles möglich.

Was also können wir der Herrschaft der Konzerne und der Wirtschaftsmächte, dem militärisch-industriellen Komplex entgegensetzen. Sind es Durchhalteparolen und idealistische Formulierungen, mit denen die Kirche seit jeher den Lauf der Dinge aufzuhalten versucht, obwohl ihr die Menschen ebenso davon laufen wie die Kubaner der Periodo especial. Oder ist es der Glaube an Idole, die das allgemeine Gute gegenüber dem Allgemeinen Schlechten verkörpern. Die Versuchung zu vereinfachen ist allerdings groß, wenn die ideologische Kraft der Vertreter des Antisozialen übermächtig erscheint.

Wir dürfen uns wundern, wie in solchen Situationen der Bedrängnis bereits früher klug gedachtes in Vergessenheit gerät und ebenso in Amnesie verfällt wie tapfere Revolutionäre sterben, die sich in ihrem heroischen Kampf in einer Art Größenwahn chancenlos einem übermächtigen Gegner entgegenstellen. Es scheint eine gewisse Gesetzmäßigkeit darin zu liegen, daß das Denken angesichts der Übermacht der Mächtigen gehemmt und in seiner Beweglichkeit eingeschränkt wird. Nicht anders kann ich mit erklären, daß in den letzten Jahren in der Cuba Libre zwar viele Durchhalteparolen und "Beweise" der Leistungsfähigkeit der kubanischen Revolution wiederholt werden, daß sich aber kaum noch Beweise lebendigen Nachdenkens finden. Schließlich hat Kuba objektiv keine Chance gegen die Übermacht der USA. Wir können also mit Nachdenken nichts verlieren und stellen die großartige Leistung der Kubaner nicht in Frage.

Was könnte aus Che's "nuevo hombre" Lebendiges erwachsen. Che selbst war ein charismatischer Führer, ein integerer Mensch, ein Größenwahnsinniger, der sich bedingungslos einer Sache verschrieben hatte. Aber er war wahrscheinlich eher beziehungsgestört als ein "nuevo hombre". Angesichts der Übermacht der herrschenden Verhältnisse macht nichts anderes Sinn, als das bereits klug Gedachte zu bewahren und vor allem weiterzuentwickeln. Denn nichts entwickelt sich so rasant wie die Herrschaftstechniken und die ideologische Anpassung der Weltmächte. Und seit jeher waren es die klugen Geister, die die Mächtigen in Bedrängnis gebracht haben und die vorausgedacht haben für die Handelnden. Zur Ideologiebildung und zur Psychologie der Herrschaft und der Bedingungen menschlicher Existenz und des menschlichen Miteinander gibt es in den letzten hundert Jahren genügend Erkenntnisse. Dies beginnt mit der Psychoanalyse, die als naturwissenschaftlich und materialistisch einer materialistischen Moral wie der oben beschriebenen verpflichtet ist und die deshalb ohne große Korrekturen mit dialektisch-marxistischem Denken zu einer Synthese geführt werden könnte. Es ist bei diesen ersten Versuchen der Kritischen Theorie nicht geblieben. Gerade in den letzten Jahren hat sich die Psychoanalyse rasant weiterentwickelt und hat sich weiterhin Gedanken gemacht zur menschlichen Natur, der Dialektik der menschlichen Natur, die als solche nur sich abbildet in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Nur mit diesem Wissen aber können wir überlegen, was den "nuevo hombre" ausmachen könnte und welche Bedingungen erforderlich sind, dem näher zu kommen.

Der Vollständigkeit halber möchte ich daran erinnern, daß weder Che sich noch wir uns über den Satz hinwegsetzen können, daß das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. Der aus der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Realität heraus Denkende wird als Ideal immer nur ein Zerrbild aus Wünschen und Projektionen entwerfen. Je weniger allerdings, desto mehr er sich mit diesen Gegebenheiten und den psychischen Gesetzmäßigkeiten auseinandersetzt und diese beständig analysiert. Nur so können wir dem Gegner voraus sein.

Selbstverständlich ist dieses Denken genausowenig wertfrei wie jedes andere und kann wie die Psychoanalyse nach kurzem anfänglichen Kampf von diesen in Besitz genommen wurde und natürlich im Kampf um die Vorherrschaft benutzt wird (das gilt für jegliche Psychologie). Und selbstverständlich ist der ökonomische Aspekt genauso wichtig – meines Erachtens allerdings auf keinen Fall wichtiger.

Ein großer Vorteil des Marxismus, wenn man ihn im oben genannten Sinn versteht, ist die Einfachheit der materialistischen Moral, die als offenes Weltbild auf Setzungen wie sie die Religion braucht, verzichten kann. Ein weiterer Vorteil ist die widerspruchslose Vereinbarkeit mit anderen Denkgebäuden, die ebenfalls historisch-materialistisch denken. Ein solches Denken bietet z.B. die Psychoanalyse, die uns als Wissenschaft vom Menschen zur Verfügung steht, wenn wir gesellschaftliche Entwicklungen analysieren und verstehen wollen. Ich frage mich, warum dieses Denken in der Cuba Libre nicht mehr zu finden ist – es war einmal anders. Und ich möchte ermutigen, die Diskussion wieder zu öffnen und zu denken, wie das nächste Cuba aussehen könnte und was dort besser sein könnte.

CUBA LIBRE Matthias Schmelzle
Februar 1998

CUBA LIBRE 2-1998