Charme der Verwegenheit

19. Lateinamerikanische Filmfestspiele in Havanna

Unter den Dächern einer Stadt kann schon eine ganze menge gleichzeitig passieren, darunter ein internationaler Kongreß über Biotechnologie und ein Filmfestival. So auch in Havanna, der Hauptstadt eines Landes, in dem man das angesichts der Blockadebedingungen nicht als selbstverständlich voraussetzen kann.

Die Theater und Konzertsäle sind geöffnet. Es gibt die Premiere der tropikalisierten Version eines Stückes von Moliere. Das Nationalballett unter der Regie von Alicia Alonso zeigt Galavorstellungen und bereitet sich mit namhaften Klassikern auf die nächste Saison vor. Auch eine traditionelle Aufführung von Shakespeares "König Lear" wird gegeben. Zwar sind in den letzten Jahren einige Straßenkinos geschlossen worden, aber es gibt noch ausreichend Kinos um 150 Filme, 134 Dokumentar- und 20 Zeichentrickfilme zu zeigen, die nur ein Teil des Angebots zu den 19. Lateinamerikanischen Filmfestspielen waren. Es ist unmöglich, sie vollständig aufzuzählen.

Zehn Tage lang gab es im Dezember täglich 60 Vorführungen in 23 Sälen allein in der Hauptstadt Havanna. Außerdem hatte man acht Nebenzentren in den Provinzen eingerichtet, um den großen Wettbewerb überhaupt bewältigen zu können, zu dem sich jedes Jahr die Filmschaffenden ganz Lateinamerikas auf Kuba versammeln. In der Konkurrenz liefen humoristische Streifen sowie Liebes-, Gesellschafts- und Kriminalfilme. Unter den anwesenden Künstlern war auch der junge Deutsche Peter Lohmayer, der mit einem spanisch, das er in zwei Wochen erlernt hatte, in Gestik und Temperament wie ein Kubaner auftrat, wobei er ständig den Eindruck machte, als sei er von einer wunderbaren Krankheit angesteckt. Er spielte die Hauptrolle in einer deutsch-kubanischen Produktion mit dem Titel "Kleines Tropicana". Von Volker Schlöndorff gab es eine Retrospektive, die das Publikum dankbar aufnahm. Es liefen Filme es Spaniers Almodóvar, des Italieners Francesco Rossi sowie Produktionen aus Norwegen, Finnland und anderen europäischen Ländern.

Ein Seminar zum Thema Kind und Bildsicht befaßte sich mit Untersuchungen über den Einfluß visueller Medien auf den kindlichen Verständnis- und Bildungsprozeß. Foto- und Plakatausstellungen sowie Ehrungen von Filmschaffenden gehörten ebenfalls zum gedrängten Programm dieses 19. Filmfestivals. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen zweifellos die lateinamerikanischen Produktionen, bei denen Argentinien und Mexiko mit 18 beziehungsweise elf Filmen dominierten, gefolgt von Kuba mit drei Streifen.

Letzteres gilt als eine bemerkenswerte Leistung, weil die Filmkunst dieses Landes in jüngerer Zeit sehr durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen das blockierte Kuba steckt, behindert wurde. Das wirkt sich besonders auf die Produktion von Dokumentarfilmen aus.

Das Festival war ein Ereignis mit Marathondimension, das das Interesse der Massenmedien in Anspruch nahm und die Kritiker in Bedrängnis brachte, weil sie nicht alles sehen konnten, aber die Preisträger voraussagen sollten. Die Preise bestehen aus Korallen der Gewässer, die die Küsten der Karibik umschmeicheln oder verheeren. Sie sind das Symbol dieses alljährlichen Treffens, das durch eine Gruppe von Träumern aus der Taufe gehoben wurde, um das Ansehen der lateinamerikanischen Filmkunst zu retten, die unter der Last der großen Hollywood-Konzerne nicht mehr gedeihen konnte.

Viele der internationalen Besucher waren überrascht von der allgemeinen Kinobegeisterung. In den langen Schlangen, die vor den Kinos auf Einlaß warteten, liebkosten sich junge Menschen oder tauschten ihre eindrücke über die Filme aus, die sie schon gesehen hatten. Sie kamen auf Fahrrädern, in überfüllten Bussen oder zu Fuß. Noch mehr überraschten die Anstrengungen Kubas. Die Veranstalter sagten keinen einzigen Termin ab und bewältigten beim letzten Treffen sogar eine Überfülle von Teilnehmern und Filmpräsentationen. Die Erklärung dafür findet man vielleicht in den Worten, die mir vor Jahren einmal der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar sagte: "Hier wirkt Magie!" Was sich anhörte wie ein solidarisches Kompliment für Kuba, erwies sich als Voraussicht. Je härter das Überleben wird, um so charmanter kommt die Verwegenheit daher.

CUBA LIBRE Elsa Claro

CUBA LIBRE 2-1998