Anwendung des Begriffes "Zivilgesellschaft"

Zunächst ist es wichtig daran zu erinnern, dass sich seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Anwendung dieses Begriffes in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften und in der politischen Propaganda weltweit ausgedehnt hat und augenblicklich einen bedeutenden Platz in der Debatte um das Verhältnis Individuum – Staat und Demokratie und Menschenrechte einnimmt.

Ich denke, dass dies ein wichtiger Ausgangspunkt in der Analyse ist, die uns beschäftigt, denn in unseren akademischen und politischen Medien existieren heute zwei klar definierte Positionen in Bezug auf die Legitimität der Anwendung dieser Kategorie zum Studium unserer Wirklichkeit.

Eine dieser Positionen zeichnet sich durch ihre Weigerung aus dieses Konzept anzuwenden. Ich glaube, dass eine solche Haltung auf drei Hauptgründen basiert.

An erster Stelle ist es ein Fakt, dass das marxistisch-leninistische Denken in seinem Stadium vor der Perestroika in der UdSSR, ein System entwickelt hat, das Konzepte wie "politische Organisation" und "politisches System der sozialistischen Gesellschaft" beinhaltete, was, davon ging man aus, die Annahme der Kategorie "Zivilgesellschaft" überflüssig machte, die von nicht marxistischen und auch antimarxistischen Strömungen angewandt wurde.

Zweitens nahm diese Kategorie, wie eine Studie des philosophischen Instituts bewies, eine zentrale Stelle in dem Prozess ein, der in der ehemaligen UdSSR und anderen ehemaligen sozialistischen Staaten vonstatten ging, dem Prozess der Entwertung der marxistischen Denkweise bei der Analyse der Realität um diese zu ersetzen, zunächst durch Konzepte der reformistischen Terminologie, um schließlich die Denkkategorie der liberalen bürgerlichen Ideologie zu übernehmen.

An dritter Stelle, ist sie eine Schlüsselkategorie in den theoretischen Ausarbeitungen, welche die Politisch-militärische Strategie des Yankee-Imperialismus gegen unser Land unterstützt, was auch die diplomatischen Bemühungen einschließt, die cubanische Regierung international zu isolieren und natürlich die Arbeit ihrer Geheimdienste, die darauf ausgerichtet sind, eine innere Erosion unserer Gesellschaft herbeizuführen. In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht die Dokumente von Santa Fe I und II, den Bericht der RAND Korporation und die sogenannte zweite Schiene des Toricelli Gesetzes vergessen. Diese Problemstellung hat nachhaltige Wirkung erzielt und zu einer neuen ideologischen Dimension im Innern unseres Landes geführt, in Projekten wie "die Zivilgesellschaft in Cuba wiederherzustellen" und dabei auf ausländische Quellen Bezug zu nehmen.

Offensichtlich sind dies Elemente, die man bei der Bewertung, ob es zweckmäßig ist, diesem Terminus in unseren Untersuchungen zu verwenden, berücksichtigen muss. Jedoch beobachtet man bei den cubanischen Sozialwissenschaftlern einen wachsenden Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit sich die Kategorie "Zivilgesellschaft" für ihre wissenschaftliche und politisch-ideologische Arbeit anzueignen. Dass wir hier zusammengekommen sind, um Meinungen zu diesem Thema auszutauschen, wurde uns nicht von außen auferlegt, sondern bringt das Interesse zum Ausdruck, das in unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft besteht, diese Problematik unter einer dialektisch-materialistischen Sichtweise zu vertiefen.

Unter den Argumenten, die diese Position solide untermauern, befindet sich zuerst die historische Evolution, die dieses Konzept und die Problematik, die es reflektiert, innerhalb des marxistischen Denkens eingenommen hat. Im Werk von Marx existiert die Kategorie "Zivilgesellschaft" als ein Ausgangselement in dem Prozess der Ausarbeitung und Reifung der materialistischen Konzeption der Geschichte. Seine Fragestellung hinsichtlich des Widerspruchs zwischen dem Individuum als Mitglied der Zivilgesellschaft und als Bürger des Staates enthält theoretisch-methodologische Elemente, die absolute Gültigkeit gehalten. Andere marxistische Denker benutzten diesen Terminus, und da ist besonders Antonio Gramsci hervorzuheben, der ihn wiederbelebte und ihn mit seiner persönlichen Sicht, ausgehend vom Studium der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit, bereicherte. Deswegen kann man nicht sagen, dass es sich um eine "importierte" Kategorie handele, die unseren wissenschaftlichen und politischen Traditionen fremd sei.

Andererseits kann man auch nicht behaupten, dass das heuristische Potential dieser Kategorie erschöpft sei. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, dass ihre Anwendung sehr nützlich sein könnte, um die Leere auszufüllen, die lange Zeit beim Studium des Widerspruchs Individuum – Gesellschaft beim Prozess des sozialistischen Aufbaus, von unserer eigenen historischen Erfahrung ausgehend, entstanden ist. In dieser Hinsicht können sich unsere Vorstellungen hinsichtlich des politischen Systems, das wir verteidigen und schaffen, bereichern und auf diese Weise eine wirksamen Beitrag zu seiner Vervollkommnung leisten.

Drittens erfüllt dieses Konzept auch eine wichtige kommunikative Funktion, da es uns einen gesunden wissenschaftlichen und ideologischen Austausch mit anderen sozialen Denkströmungen ermöglicht, wenn wir davon ausgehen, dass es nicht nur reaktionären politischen Projekten als theoretische Unterstützung gedient hat und noch weiter dient, sondern auch von progressiven Kräften entwickelt wurde, die für zivile und politische Rechte kämpfen, die in ihren Gesellschaften verletzt werden und auch in diesem Sinne oft in der philosophischen und soziologischen Literatur benutzt wird, die heute auf internationaler Ebene zirkuliert, besonders aber in unserem engsten Umkreis: Lateinamerika.

Zum Schluss bin ich der Auffassung, dass es bei der Bestimmung der Legitimität bei der Anwendung des Begriffes grundlegend ist, die Denkweise genauer zu betrachten, welche Position zur Unterstützung herangezogen wird: ob sie liberal-bürgerlich ist und darauf ausgerichtet ein progressives Projekt wie das unsere zu zerstören, oder sozialistisch, darauf orientiert dialektisch die Widersprüche zu überwinden, die das Vorwärtskommen der sozialisierenden Prozesse der Macht bremsen.

Von unserer Sich aus sind dies die Gründe die erklären, dass heute eine größere Akzeptanz für diesen Begriff besteht, sowohl in den Publikationen und wissenschaftlichen Debatten als auch im politischen Diskurs.

Die cubanische Zeitung Ciencias Sociales hat einige Arbeiten zum Thema "Zivilgesellschaft" veröffentlicht in der Hoffnung einen Beitrag zu der Debatte leisten zu können, die heute allerorts vonstatten geht. Sie widerspiegeln den Inhalt einer Gesprächsrunde, die im Institut für Philosophie zu diesem Thema stattfand.

CUBA LIBRE
Conceción Nieves Ayús

Aus dem Englischen von Ulli Fausten

CUBA LIBRE 3-2001