editorial

Liebe Leserinnen und Leser der "Cuba Libre"

Wieder einmal hat Cuba für Negativschlagzeilen gesorgt: durch drei vollstreckte Todesurteile gegen Schiffsentführer sowie eine größere Anzahl hoher Haftstrafen gegen angebliche Dissidenten und noch angeblichere Intellektuelle. Dass dieses drastisch anmutende Vorgehen diskussionswürdig ist, soll hier gar nicht bestritten werden. Dass sich aber dem Vernehmen nach die schwedische Cuba-Solidarität in Reaktion darauf völlig aufgelöst hat und sich die französische in einem klassischen linken Selbstzerfleischungsprozess befindet, dessen Ende noch nicht abzusehen ist, scheint mir außerhalb jeder Proportion zu liegen. Aus den bekannten Quellen in der Presse und im Fernsehen kamen die vertrauten Anwürfe, die sich durch ebenso vertraute Kontextfeindlichkeit auszeichneten. Leider gesellten sich diesmal einige anerkannte Geistesschaffende hinzu, denen ihr scharfer Intellekt bisher den Schulterschluss mit den notorischen, moralinsauren Hütern der "westlichen Werte" verbot.

Ich weiß nicht, was deprimierender ist – die Skrupellosigkeit derer, die als ausgebuffte Apologeten des Systems und somit im vollen Bewusstsein dessen, was sie tun, unpopuläre Maßnahmen Cubas durch ein Mikroskop, Genozide der USA dagegen durch ein Teleskop betrachten (wie J. Petras so treffend sagt) oder aber die Vernebelung jener, mögen sie Journalisten oder Schriftsteller sein, die dasselbe machen, weil sie in ihrem tiefsten Innern Cuba für ein Land der Ungerechtigkeit und Unfreiheit halten, wohingegen sie mit den USA immer noch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle verbinden? Während erstere überhaupt keine Ethik besitzen, haben letztere durchaus eine, gleichwohl basiert ihr Gefühl, mit dieser im Einklang zu sein, auf naivem Irrglauben. Noch einmal: Ich weiß nicht, welches das Deprimierendere ist. Ich weiß auch nicht, welches letztlich das Gefährlichere ist.

Galeano, Chomsky, Saramago – also diejenigen, deren Kritik schmerzlich (weil unerwartet) kam – gehören keiner dieser beiden Gruppen an. Sie bilden noch einmal eine Kategorie für sich. Literaten wie Mario Vargas Llosa oder Zoe Valdez können wir getrost rechts liegen lassen. Es ist nicht der Mühe wert, sie politisch ernst zu nehmen. Auf solchem Niveau müssen wir nicht debattieren. Aber bei Leuten vom Kaliber eines Eduardo Galeano, Noam Chomsky oder José Saramago sieht die Sache anders aus. Wir können uns kaum den Luxus leisten, sie achselzuckend ins gegnerische Lager zu verabschieden. Dafür sind sie zu wichtig. Dafür sind auch ihre Verdienste als Querdenker zu groß. Und die ersten Rückzugsgefechte von allzu brüsken Schnellschuss-Standpunkten hat es ja bereits gegeben. Seien wir also nicht päpstlicher als der Papst!

Es scheint zunehmend schwierig, Haltungen abseits des Mainstream offensiv zu vertreten. Mehr und mehr befinden sich progressive Intellektuelle in einer defensiven Rechtfertigungsposition. Und wenn das Archiviertwerden in Schubladen früher nur ärgerlich war, so kann es heute existenz- oder gar lebensbedrohend sein. Diesen Punkt sollten wir bedenken, bevor wir das Wort "Verräter" in den Mund nehmen.

Trotzdem: Wenn jetzt schon Leute, die es gut mit der Insel meinen, Chancen ergreifen, sich von Cuba zu distanzieren aus dem Kalkül heraus, "ausgewogen" zu erscheinen und damit öffentlichen Druck von sich zu nehmen, dann können wir uns für die Auseinandersetzungen, die noch auf uns zukommen, warm anziehen.

CUBA LIBRE Ulli Fausten für die Redaktion der "Cuba Libre"

CUBA LIBRE 2-2020