Showdown an der Botschaft - Die Demo zum 20.Mai

Als wir erfuhren, dass am 20.Mai eine Anti-Cuba-Demo vor dem Gebäude der Cubanischen Botschaft in Berlin stattfinden solle, waren wir zunächst einmal etwas ratlos. Was hatte es mit diesem Datum auf sich? Doch dann fiel der Groschen! Am 20.Mai 1902, also vor genau 101 Jahren, wurde Cuba aus der Sklaverei Spaniens in die Sklaverei der USA entlassen. Es begann das goldene Zeitalter der Demokratie auf der Insel - mit Korruption, Prostitution, Wahlbetrug, Faustrecht, Mafia, Polizeiwillkür und Folter. George W. Bush begeht diesen schönen Tag regelmäßig im Kreise der Miami-Kumpane, was aus der Sicht dieser Leute ja auch einen gewissen Sinn ergibt: Wer seine helle Freunde hat an Lug und Trug und Mord und Totschlag, der feiert halt solche Jahrestage. Aber wieso in Deutschland?

Die Berliner Demo, so erfuhren wir, sei nur Teil einer konzertierten Aktion, die zeitgleich in ganz Europa für Meinungsfreiheit, gegen Diktatur usw. usf. Etwa hundert Demonstranten würden erwartet. Das Netzwerk bemühte sich, eine mindestens doppelt so große Gegendemo auf die Beine zu stellen. Ob wir nicht vielleicht auch könnten? Nächsten Dienstag um 10 Uhr?

100 Anti-Cuba-Figuren? Diese Ziffer erschien mir ziemlich utopisch. Sicher, in manchen Ländern Europas - vor allem in Frankreich und Spanien - ist die "Gusanera" schon stark verwurzelt, aber Deutschland war bislang für sie eine Diaspora.

Inzwischen hatte die Berliner Cuba-Soli-Bewegung auch mobilisiert. Zirka 200 Leute hatten zugesagt (mit allen Fragezeichen, die es bei solchen Veranstaltungen immer gibt). Das wichtigste aber war: Die Polizei hatte unsere Gegendemo noch kurzfristig – wenn auch unter Auflagen – genehmigt.

Wir kamen mit viertelstündiger Verspätung zum Schlachtfeld und sahen auf einen Blick, dass wir keine zweihundert waren. Wir waren auch keine hundert, aber wir waren immerhin so an die siebzig, die mit Fahnen, großen Transparenten und einem Lautsprecherwagen versuchten, wie hundert auszusehen. Das Szenario müsst ihr euch so vorstellen: Unsere Gruppe befand sich in der Straße seitlich des Botschaftskomplexes, während die Straße, die im rechten Winkel dazu liegt, also an der Frontseite der Botschaft, für die "Gusanera" vorgesehen war. An der Knickstelle zwischen beiden Straßen: unser aller Freund und Helfer. Ein großer Mannschaftswagen, ein kleiner Mannschaftswagen und zwei PKWs. Kein Durchkommen. Blickkontakt war dagegen möglich – schräg durch den hohen Gitterzaun hindurch, der das Grundstück "unserer" diplomatischer Vertretung umgibt. Aber Blickkontakt mit wem? Hatte ich etwas an den Augen? Als ich zum ersten Mal hinüberguckte, sah ich – NULL Demonstranten! Die hätten ihr Kommen auf halb elf verschoben, hörten wir. Ach so.

Während wir also auf die Hundertschaft der Anticastristen warteten, vertrieben wir uns die Zeit mit Plaudern und Musikhören. Angel Parra. Silvio Rodríguez. Carlos Puebla. Atahualpa Yupanqui. Schöne Lieder, die zum Teil mitgesungen wurden. Gegen viertel vor elf endlich so etwas wie Bewegung an der Eingangspforte. Wie viele bewegten sich da? Waren es zwei oder drei? Diese Frage wurde in den folgenden Minuten mit allem gebotenen Ernst diskutiert.

Dann kam es – wie ein Blitz aus heiterem Himmel – zu einer kritischen Situation: Ein dritter (oder vierter) Anti-Cuba-Demonstrant erschien auf der Bildfläche, und zwar nicht aus dem linken Teilstück der Stavangerstraße, das ja durch die Polizei abgeschirmt war, sondern aus dem rechten. Und er hielt direkt auf uns zu. Es war ein Typ mit einem breitkrempigen Hut und er trug ein großes Schild vor sich her, das einen Fidel Castro zeigt, der in einer Klosettschüssel verschwindet. Vom künstlerisch-formalen Standpunkt aus gab es an dem Ding nichts auszusetzen. Es war recht gut gemacht, wirkte nicht nach Marke Eigenbau. Wahrscheinlich die Auftragsarbeit eines gesinnungslosen (oder stellungslosen) Graphikers!

Aber seltsam, was das menschliche Gehirn für Kapriolen macht! Der Mann mit dem Schild hatte im Gehen bestimmt einen Blick zum Botschaftseingang geworfen, die halbe Handvoll Gestalten gesehen und bei sich gedacht: Das kann unmöglich meine Gruppe sein! Also ging er entschlossen auf die Gruppe zu, die wie eine Gruppe aussah, im Glauben, es wäre seine eigene. Dabei war er Sekunden lang völlig blind für unsere Transparente und das viele revolutionäre Tuch, mit dem wir wedelten. Die Ordnungshüter reagierten geistesgegenwärtig. Sie sahen einen Kerl mit einem Plakat, auf dem Fidel Castro in ein Klobecken geflutet wird, auf eine Menschenmenge zueilen, die allem Anschein nach so rot war wie die Hölle. Da bahnte sich ein Blutbad an! Zwei der Polizisten spurteten ihm hinterher und bugsierten ihn gewissermaßen am Hemdskragen in die richtige Richtung.

Die Gegenseite hatte dann zwar noch leichte Zuwächse zu vermelden, blieb aber mickrig. Als ich einmal an der Ecke stand und durch die Lücke zwischen den beiden Mannschaftswagen blickte, versuchte ich sie zu zählen und kam auf grob geschätzte 12 bis 15 Demonstranten. Damit lag ich offenbar ziemlich gut, denn das Botschaftspersonal, das sich hinter heruntergelassenen Jalousien verschanzt hatte, behauptete später, die Anzahl habe 13 zu keiner Zeit überschritten. Sie hielten Transparente in englischer Sprache hoch, womit sie ihrem Streben nach Unabhängigkeit natürlich besonders glaubwürdig Ausdruck verliehen. Das lernen diese Hornochsen NIE.

Nachdem sich schließlich beide Gruppen endgültig formiert hatten, kam es diagonal über den grünen Botschaftsrasen hinweg zu erhitzten Wortgefechten, wobei wir den Vorteil unserer Lautsprecheranlage schamlos ausnutzten. Da hörte man nicht nur das bekannte "Cuba si, Yankis no!". Ein spontan erfundener, gut zu skandierender Dauerbrenner kam hinzu: "Go to Miami! Go to Miami!" Wortführerin auf unserer Seite war ein hübsches junges, geradezu niedlich aussehendes cubanisches Mädchen, das Schimpfkanonaden vom Stapel ließ, die selbst harte Männer zum Erbleichen brachten. Die andere Seite hatte eine Aktivistin mit ähnlicher Revolverschnauze in ihren Reihen und die beiden schenkten sich nichts. Wenn die Kontrahentinnen ihre Stimmbänder mit Mineralwasser kühlten, gab es auch immer wieder ein paar Takte Musik zwischendurch, einmal sogar Hard Rock, da wir ein paar Leute aus der autonomen Szene bei uns hatten. Dieser Spektakel führte dazu, dass sich die Tür der Botschaft Moldawiens auf der anderen Straßenseite kurz öffnete und zwei gut gekleidete Herren herausguckten, die sehr moldawisch aussahen. Dann erinnere ich mich noch an eine dicke Frau, die mit zwei Einkaufstüten aus der nahegelegenen PLUS Filiale an uns vorbeikam. Ansonsten hatten wir das Terrain so ziemlich für uns.

"Vendepatrias!" ("Vaterlandsverkäufer!") schrie unser süßes Mädchen hinüber. "La patria es de todos" ("Das Vaterland gehört allen") schallte mäßigend-vermittelnd eine Männerstimme zurück. Da kam dieser Warmduscher aber an die Richtige! "Ihr habt kein Vaterland! Ihr seid überhaupt keine Cubaner!" "Asesinos! Asesinos!" ("Mörder! Mörder!") skandierten daraufhin die anderen. "Gusanos de Mierda!" schrie unsere Süße zurück, was ein so grauenerregender Ausdruck ist, dass ich mich weigere, ihn zu übersetzen. Das Verhalten dieses Mädchens faszinierte mich. Einerseits ereiferte sie sich wirklich bis zum Umkippen der Stimme. Ihre Empörung, ihre Aufgewühltheit – das alles war echt. Andererseits kam sie manchmal an einen Punkt, da sie über sich selber lachen musste. Dann, wenn sie merkte, dass sie bei ihrer ganzen Stinkwut diesen Austausch von Beleidigungen irgendwie genoss. Ihr zur Seite am Mikrophon stand ein "Internacionalista" aus Kolumbien, der aber bei seinen Wortmeldungen von der Gegenseite nicht ernst genommen wurde. "Hoho", klang es spöttisch herüber, "Was bist denn du für einer? Wo kommst du denn her?" Sie hatten natürlich nach den ersten Lauten spitzgekriegt, dass da kein Cubaner sprach. "Ich bin vielleicht kein Cubaner, aber ich habe hundertmal mehr Recht, über Cuba zu reden als ihr Clowns da drüben!" Dennoch, er hatte es nicht leicht und stand völlig im Schatten seines entfesselten weiblichen Pendants. Irgendwann trieben einige im Konsulat nebenan ein Exemplar von "Musica y Revolución" auf und bald darauf schmetterten die vertrauten Fanfaren der Nationalhymne aus dem Lautsprecherwagen. Leider hatten zwei den Ehrgeiz, die an und für sich schöne Hymne mitzusingen, und das klang wie ... klang wie … nun ja, es klang nicht gut. Um es mal so zu sagen. Dem folgenden Hohngelächter auf der anderen Seite konnte man eine gewisse Berechtigung nicht gänzlich absprechen. Aus der Fassung konnten wir sie bringen, indem wir ihnen unsere kartonierten Poster eines patriarchenhaft-gütig lächelnden Fidel über dem Zaun entgegenhielten. Das war stets ein Garant für Heulen und Zähneknirschen.

Kurz vor Schluss der Antianticubademo füllte noch eine viel bejubelte Aktivistengruppe aus Venezuela unsere deutsch-cubanisch-bolivianisch gemischten Reihen auf und sorgte dafür, dass sich die Teilnehmerwaage noch ein wenig mehr zu unseren Gunsten neigte.

Das Häuflein der sicherlich genervten anderen trollte sich pünktlich um dreizehn Uhr. Da konnten dann auch wir darangehen, unser Zeug zusammenzupacken, während in der Botschaft die Jalousien wieder hochgingen und uns Marcelino, Jesus und andere vom diplomatischen Korps erleichtert zuwinkten. Schlussendlich war 80:13 ja auch ein besseres Ergebnis, als 200:100 gewesen wäre.

Fazit: Ein politischer Vormittag mit einem kräftigen Schuss "Happening Appeal", der für den Geschmack des einen oder anderen vielleicht in manchen Momenten eine Spur zu sehr ins Deftige spielte, der aber die Sorge, die wir uns wohl vorher insgeheim alle gemacht hatten, eindrücklich zerstreute: Die "Gusanera" steht hierzulande immer noch auf verlorenem Posten. Sie ist bis auf weiteres eine zu vernachlässigende Größe.

Übrigens war George W. Bush entgegen seiner Gewohnheit diesmal nicht auf der Feier der FNCA. Er schickte nur eine Grußbotschaft. Die "Gemeinde" soll darüber ziemlich stinkig gewesen sein.

CUBA LIBRE Ulli Fausten

CUBA LIBRE 2-2020