Zehn Jahre danach

Venezuelas Opposition will mit den Putschisten von 2002 nie etwas zu tun gehabt haben

Im April begeht Venezuela den zehnten Jahrestag des Putschversuchs der rechten Opposition gegen Präsident Hugo Chávez. 2002 hatten sich die Regierungsgegner stark genug gefühlt, die Kraftprobe mit der Regierung des südamerikanischen Landes aufzunehmen. Nach mehreren Protestaktionen in den Monaten zuvor rief die vom Unternehmerverband Fedecámaras und dem rechten Gewerkschaftsbund CTV geführte Opposition Anfang April zu einem Generalstreik auf, dessen Ziel kaum verklausuliert der Sturz des Staatschefs war. Tatsächlich handelte es sich bei diesem Ausstand weitgehend um eine Aussperrung der Belegschaften durch die Unternehmer. Teilweise hatten die Chefs ihren Angestellten mit Entlassung gedroht, wenn diese an ihrem Arbeitsplatz erscheinen sollten. An den Großdemonstrationen der Regierungsgegner beteiligten sich vor allem Angehörige der gehobenen Mittelschicht, die durch die Politik der Regierung ihre Privilegien in Gefahr sahen.

Wie der Putschversuch begann

Höhepunkt des Generalstreiks sollte der 11. April 2002 werden. Schon am Vorabend riefen oppositionelle Tageszeitungen zum »Endkampf um Miraflores«, den Präsidentenpalast, auf. Ein Demonstrationszug der Opposition wurde von den Führern der Opposition »spontan« und illegal zum Präsidentenpalast umgelenkt. Dort hatten sich zu diesem Zeitpunkt Tausende Anhängerinnen und Anhänger des Präsidenten versammelt, um ihre Unterstützung für Chávez zu demonstrieren. Als die oppositionelle Demonstration sich dem Palast näherte, fielen plötzlich Schüsse. Sowohl bolivarische als auch oppositionelle Demonstranten wurden Opfer von Heckenschützen, die aus den umliegenden Hochhäusern gezielt auf die wehrlosen Menschen schossen.

Medien gegen das Volk auf Seiten der Putschisten

Für die oppositionellen Fernsehsender war die Sache sofort klar. Wieder und wieder zeigten sie Bilder von »Chavisten«, die angeblich auf die Opposition schossen. »Chávez lässt auf friedliche Demonstranten feuern«, lautete die Botschaft dieser Bilder. Hohe Generäle des Oberkommandos der Streitkräfte nutzten sie, um dem Präsidenten ihre Gefolgschaft aufzukündigen. Einheiten des Militärs umstellten Miraflores, und um ein weiteres Blutvergießen zu verhindern, stellte sich Chávez den Putschisten. Diese verschleppten ihn an einen zunächst unbekannten Ort. Später wurde bekannt, dass es sich um einen gut vorbereiteten Staatsstreich gehandelt hatte. Die Erklärung der Generäle war aufgezeichnet worden, bevor es überhaupt zu den Schüssen gekommen war, und auch die im Fernsehen ausgestrahlten Bilder schießender Chavistas waren manipuliert, denn diese verteidigten sich gegen Heckenschützen, die aus umliegenden Hochhäusern auf die Menschen schossen, die sich an der Brücke Puente Llaguno versammelt hatten und vor allem Anhänger der Regierung waren.

Womit weder die Putschisten noch ihre Helfershelfer in Washington gerechnet hatten war, dass nach dem ersten Schrecken und der Inszenierung der Selbstvereidigung des von den Putschisten zum Staatschef proklamierten Pedro Carmona mehrere Millionen Menschen auf die Straße gingen und die Rückkehr des rechtmäßigen Präsidenten forderten. Auch die große Mehrheit der Streitkräfte bekannte sich zur verfassungsmäßigen Ordnung und stellte sich gegen die Putschisten. So brach der Staatsstreich innerhalb von 47 Stunden zusammen und Chávez kehrte zurück ins Präsidentenamt. Der 13. April wird seither jährlich als Volksfest begangen – als der Tag, an dem Venezuela seine Demokratie verteidigte.

Putschisten betreiben Geschichtsklitterung

Henrique Capriles will damit nichts zu tun gehabt haben: »Wir sind keine Putschisten!« Der Kandidat der venezolanischen Opposition bei der Präsidentschaftswahl am 7. Oktober erklärt seit zehn Jahren wieder und wieder, dass er nicht zu den Umstürzlern gehört habe. Doch die im Fernsehen ausgestrahlten Bilder zeigen etwas anderes. Da sieht man Capriles inmitten der Meute, die den gerade von den Putschisten verhafteten damaligen Innenminister Ramón Rodríguez Chacín bespuckte, schlug und demütigte. Einen Tag später stand Capriles an der Spitze einer Horde aufgepeitschter Antikommunisten, die versuchten, die kubanische Botschaft in Caracas zu stürmen. Doch natürlich habe er immer nur versucht, das Schlimmste zu verhindern, versicherte er Tage später, als der Staatsstreich zusammengebrochen war.

In Verbindung mit einem Staatsstreich gebracht zu werden, wäre für die venezolanische Rechte heute auch kontraproduktiv. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt und präsentiert sich mittlerweile als lupenrein demokratisch, während sie nicht müde wird, Chávez und seiner Regierung undemokratisch Verhalten zu unterstellen.

Politischer Klimawandel in Südamerika

Freiwillig ist dieser Sinnenswandel der Opposition keineswegs gewesen. Aber das politische Klima in Südamerika hat sich geändert. 2002 waren die Nachbarländer Venezuelas noch weitgehend von Regierungen kontrolliert worden, die enge Beziehungen zu den USA pflegten. Heute sind eher die von rechten Parteien gestellten Staatsführungen isoliert und auf die Kooperation mit Venezuela und den anderen linken Regierungen angewiesen. Umsturzversuche, wie es sie in den vergangenen Jahren in Bolivien und Ecuador gegeben hat, werden auch von diesen zurückgewiesen – denn sie könnten die nächsten sein.

Mit der Union Südamerikanischer Nationen ( UNASUR ) hat sich die Region zudem inzwischen eine Organisation geschaffen, die ihre Fähigkeit zu schnellem Eingreifen zum Beispiel bei den Unruhen in Ecuador am 30. September 2010, als Polizisten gegen die Regierung von Präsident Rafael Correa rebellierten. Noch während die Auseinandersetzungen in Quito andauerten, kamen die Staatschefs praktisch aller Länder des Subkontinents in Buenos Aires zusammen und kündigten an, keine aus diesem Putschversuch hervorgehende Regierung anzuerkennen.

Auch wirtschaftlich rücken die Staatschefs der Region über ihre politischen Differenzen hinweg zusammen. Vor allem wollen sie damit ein Übergreifen der Wirtschaftskrise in den USA und der EU auf ihre Länder verhindern. So verlangte etwa Kolumbiens Staatschef Juan Manuel Santos im vergangenen Jahr mit Blick auf die lateinamerikanischen Währungsreserven in Höhe von 700 Milliarden US-Dollar Initiativen der UNASUR: »Wir dürfen nicht weiter als Zuschauer verharren, während uns die Situation immer mehr angeht.«

Zu solchen Initiativen gehören etwa die Bank des Südens oder die Einrichtung eines Regionalen Währungsreservenfonds, wie Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño im Fernsehsender TeleSur sagte. Sein Chef, Ecuadors Präsident Rafael Correa, forderte sogar eine gemeinsame regionale Währung. Die lateinamerikanischen Ökonomien dürften nicht länger in derartiger Weise vom US-Dollar abhängig sein, forderte er. Ecuador würde von einem Zusammenbruch der US-Währung besonders in Mitleidenschaft gezogen werden, da das Land im Jahr 2000 die eigene Währung abgeschafft und den US-Dollar als Zahlungsmittel übernommen hatte.

Einen ersten Schritt zu einer Alternative gibt es schon: Die Staaten der 2004 auf Initiative von Hugo Chávez und Fidel Castro gegründeten Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) haben den SUCRE als zunächst virtuelles Buchgeld eingeführt. ALBA ist in den acht Jahren seines Bestehens zu einem Instrument geworden, das es den fortschrittlichen Regierungen der Region erlaubt, politisch koordiniert auf Herausforderungen zu reagieren. So war es vor allem dem Druck der ALBA-Staaten zu verdanken, dass die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) 2009 den 1962 erfolgten Ausschluss Kubas aus dem von Washington kontrollierten Zusammenschluss bedingungslos aufhob. Auch die schnellen – wenn auch letztlich erfolglosen – Reaktionen Lateinamerikas auf den Putsch 2009 in Honduras waren vor allem auf den sofortigen Protest der ALBA zurückzuführen.

CELAC

Im vergangenen Jahr kam mit der in Caracas gegründeten Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) eine weitere Kraft hinzu, die ein echtes Gegengewicht zur Hegemonie der USA in ihrem »Hinterhof« werden könnte. In der CELAC sind erstmals alle unabhängigen Staaten des Kontinents in einer Organisation zusammengeschlossen, ohne darin die USA und Kanada einzubeziehen. Boliviens Präsident Evo Morales jubelte bei der CELAC-Gründung im Dezember in Caracas, das neoliberale Modell habe den Kapitalismus in seine »Endkrise« geführt, während sich die historisch unterdrückten Völker nun für ihre Befreiung durch die Integration vereinten.

Ursprünglich hatte die CELAC bereits am 5. Juli gegründet werden sollen, als Venezuela den 200. Jahrestag seiner Unabhängigkeit von Spanien gefeiert hatte. Das wurde jedoch durch die kurz zuvor bekanntgewordene Krebserkrankung von Präsident Hugo Chávez verhindert. Erst nach dessen Operation und Chemotherapie konnte das Gipfeltreffen, zu dem die Staats- und Regierungschefs praktisch aller Länder der Region nach Caracas gekommen waren, durchgeführt werden.

Ausblick

Die Erkrankung des venezolanischen Präsidenten wirft jedoch spätestens seit dem Ende Februar erneut notwendig gewordenen Eingriff die Frage nach der Zukunft der venezolanischen Revolution auf. Noch immer ist es nicht gelungen, den bolivarischen Prozess auf eine personell breitere Basis zu stellen. Es ist im revolutionären Lager derzeit kaum jemand zu sehen, der Chávez ersetzen könnte. In einem Wahljahr kann das dramatische Folgen haben, denn für manch unentschiedenen Wähler mag die Krankheit des Amtsinhabers den Ausschlag geben, die Stimme für den Kandidaten der Opposition zu geben.

Bislang deuten alle Umfragen jedoch eher auf einen erneuten Wahlsieg des Präsidenten hin. Die Zustimmungswerte für Chávez und seine Amtsführung liegen stabil um die 60 Prozent oder noch höher. Die Opposition muss sich nach ihren internen Vorwahlen, bei denen sich die verschiedenen Repräsentanten dieser Strömung harte Auseinandersetzungen geliefert hatten, erst einmal um Henrique Capriles gruppieren, um das angestrebte Bild der Geschlossenheit bieten zu können. Und die Krise in den USA und Europa dürfte es den Verfechtern von Privatisierungen und anderen neoliberalen Rezepte kaum erleichtern, ihre Rezepte zu verfechten.

Logo CUBA LIBRE André Scheer

CUBA LIBRE 2-2012