Kuba liegt im Herzen des Kontinents


Interview mit Raúl Francisco Becerra Egaña, Botschafter der Republik Kuba in Deutschland

F: Auch in diesem Jahr haben Amnesty International, die US-Administration und andere Berichte vorgelegt, in denen Kuba Verletzungen der Menschenrechte vorgeworfen werden. Wie stehen Sie dazu?


Raúl Francisco Becerra Egaña, Botschafter der Republik Kuba in Deutschland

Foto: Marion Leonhardt


A: In keinem Land der Welt ist die Menschenrechtslage perfekt, wir alle haben Flecken auf der Weste. Dazu gehören auch die am meisten entwickelten Länder. Auch wir unterentwickelten Länder können die Lage im Bereich der Menschenrechte verbessern. In Kuba genießen die Grundrechte, die fundamentalen und wichtigsten Rechte und Bedürfnisse, Priorität. Das Thema der Menschenrechte in Kuba wird jedoch stark politisiert und ideologisiert. Vergessen wir nicht, womit die Blockade begründet wird: Seit 1987 das State Department der USA erklärt hat, dass Kuba keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten darstellt, nehmen sie die Menschenrechte in Kuba als Rechtfertigung für ihre Politik.

Sprechen wir von den wichtigsten Menschenrechten. Jüngst wurde bei einer Jahrestagung des zuständigen Ausschusses der Vereinten Nationen die Frage der Folter und der Lage in den Gefängnissen auf Kuba diskutiert. Wann hast du jemals davon gehört, dass in kubanischen Haftanstalten Aufstände ausgebrochen wären? Das ist noch nie vorgekommen, und das spiegelt den Zustand der Gefängnisse in einer Gesellschaft und ihres sozialen Friedens wider. Der Zustand einer Gesellschaft zeigt sich auch in der Anzahl der Gefängnisinsassen. Lange wurde behauptet, dass es in Kuba mehr als 100 000 Gefangene gäbe. Jetzt wurde bekannt, dass in Kuba rund 57.000 Menschen im Gefängnis sitzen, davon rund die Hälfte in geschlossenem und die andere Hälfte in offenem Vollzug.

Die Lage in den Gefängnissen war von Beginn der Revolution an ein Anliegen Kubas, und in all den Jahren wurde an einer Verbesserung der Situation gearbeitet. Das Prinzip des Gefängnissystems in Kuba ist, den Inhaftierten auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten.

F: Von den 57.000 Inhaftierten in Kuba gehören wie viele zu der Gruppe derjenigen, die im Westen als »politische Gefangene« bezeichnet werden?

Raúl Francisco Becerra Egaña, Botschafter der Republik Kuba in Deutschland

Foto: Marion Leonhardt



A: Sehr, sehr wenige. Die »Gewissensgefangenen« sind im vergangenen Jahr praktisch alle freigelassen worden. Aber wenn wir von »Gewissensgefangenen« sprechen, dann müssen wir darauf hinweisen, dass sie wegen Sabotage, wegen Anschlägen auf die Zivilbevölkerung oder wirtschaftlicher Vergehen verurteilt wurden. Kuba ist seit langer Zeit Ziel der Versuche dieser Kreise, der Bevölkerung zu schaden. Wenn wir von Terroristen als politischen Gefangenen sprechen, dann müssen wir auch von den baskischen politischen Gefangenen in Spanien sprechen.






F: Bei der eben schon angesprochenen Jahrestagung der UN-Kommission gegen Folter hat die kubanische Delegation in ihrem Bericht angegeben, dass es im Berichtszeitraum 263 Anzeigen wegen Übergriffen und Misshandlungen in Gefängnissen und Polizeiwachen gegeben habe, die zur Verurteilung von 46 Vollstreckungsbeamten geführt haben. Wie konnten sich solche Übergriffe ereignen?



A: Ich denke, diese Zahlen machen vor allem sehr deutlich, dass derartige Vorfälle – Schläge, Übergriffe – in Kuba bestraft werden. Die Zahlen, 263 Anzeigen in fünf Jahren, belegen, dass dies ein Anliegen der Behörden ist. Jedem Beamten muss sehr klar sein, dass er hart bestraft wird, wenn er sich zu Schlägen oder Übergriffen gegen einen Gefangenen hinreißen lässt.

F: Im Ausland wird sich vor allem um den in Kuba inhaftierten US-Amerikaner Alan Gross gesorgt. Eine deutsche Presseagentur schrieb neulich, Kuba wolle Gross gegen die in den USA inhaftierten fünf Kubaner austauschen…

A: Von einer solchen humanitären Lösung wird viel gesprochen. Auf der einen Seite haben wir Alan Gross, einen nordamerikanischen Beamten, der in Kuba wegen der Ausrüstung und Unterstützung der Subversion verurteilt wurde. Diese Vorwürfe wurden mehr als ausreichend bewiesen und mussten auch von seinen nordamerikanischen Verteidigern anerkannt werden. Auf der anderen Seite stehen unsere fünf Helden, die zu völlig unverhältnismäßigen Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie unser Land vor terroristischen Aktionen beschützt haben. Diese fünf kubanischen Kämpfer haben Hunderte Menschenleben gerettet, die die geplanten terroristischen Aktionen hätten fordern können. Und dafür wurden sie zu diesen nicht zu rechtfertigenden Strafen verurteilt, nachdem die kubanische Regierung das FBI über die geplanten Anschläge informiert hatte. Dazu hatte sich eine Delegation des FBI eine Woche lang in Kuba aufgehalten, hatte die Informationen entgegengenommen und sich für den wertvollen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung bedankt – aber als sie nach Hause kam, wurden nicht die Terroristen gesucht, die diese Pläne verfolgten, sondern diejenigen, die die Informationen geliefert haben.

F: Viele hatten gehofft, dass es unter Barack Obama zu einer Lösung für die Fünf kommen würde. Seine erste Amtszeit geht bald zu Ende. Was erhoffen Sie sich von einem möglichen zweiten Mandat ?

A: Die Obama-Administration hat, verglichen mit der vorherigen Administration Bush, die Rhetorik gegen Kuba gemäßigt. Sie ist eine zivilisierte, weniger aggressive, weniger kriegerische Administration. Aber die Blockade gegen Kuba ist in Teilen sogar verschärft worden, speziell was die Verfolgung von Unternehmen mit nordamerikanischen Kapitalanteilen in Drittländern angeht, die Geschäfte mit Kuba machen. Das betrifft sogar Unternehmen, die Kuba jetzt keine Ersatzteile mehr liefern dürfen, weil sie inzwischen von US-amerikanischen Investoren aufgekauft wurden. In Deutschland hatten wir den Fall des Bezahldienstes Paypal. Oder das Mobilfunkunternehmen Ericsson, das bestraft wurde. Der ganze Apparat, der früher dazu da war, die Länder des sozialistischen Blocks, des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zu verfolgen, richtet sich nun gegen Kuba. Es ist doch absurd, dass Geschäfte mit Kuba härter verfolgt werden als Beziehungen zum Drogenhandel.

F: Beim jüngsten Amerika-Gipfel im kolumbianischen Cartagena stand das Land im Mittelpunkt der Diskussionen, das gar nicht da war: Kuba. Die ALBA-Staaten und viele weitere Regierungen haben angekündigt, dass es kein weiteres derartiges Gipfeltreffen ohne Kuba mehr geben werde. Aber hat Kuba überhaupt ein Interesse, an solchen Konferenzen teilzunehmen?

A: Die Diskussionen in Cartagena haben vor allem gezeigt, dass es in Lateinamerika eine veränderte Wahrnehmung gibt. Nicht nur die ALBA-Staaten, sondern auch alle anderen Länder haben in gewisser Weise anerkannt, dass es ein historischer Fehler war, dem kubanischen Prozess seit Anfang der 60er Jahre den Rücken gekehrt zu haben. Die Forderung, dass Kuba am Amerika-Gipfel teilnehmen müsse, war einstimmig. Kuba liegt im Herzen des Kontinents, warum sollte Kuba dann nicht teilnehmen dürfen? Unser Land hat sich bereiterklärt, an den Treffen teilzunehmen, wenn es eingeladen wird. Das Problem war, dass, wenn Kolumbiens Präsident Santos Kuba eingeladen hätte, die USA nicht gekommen wären. Er ist sogar eigens nach Kuba gereist, um dieses Dilemma zu erläutern. Natürlich will niemand, dass die USA nicht an den Amerika-Gipfeln teilnehmen, und auch Kuba fände das ungerecht, genauso ungerechnet wie die Nichtteilnahme Kubas.

Der Ausschluss Kubas ist ein Rückgriff auf die Zeiten des Kalten Krieges. Sie sagen, Kuba dürfe nicht teilnehmen, weil es nicht demokratisch sei. Aber was ist denn demokratisch ? Nötig wäre wohl eher eine allgemeine Definition des Demokratiebegriffs. Auch wenn wir unsere Demokratie verbessern müssen, gehen wir davon aus, dass wir ebenso demokratisch oder demokratischer sind als viele der Länder, die sich lauthals als Demokratie bezeichnen.

F: Das Treffen in Cartagena war zudem der erste Amerika-Gipfel nach der Gründung der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC). Kann man inzwischen sagen: Lateinamerika braucht die USA nicht mehr, aber die USA Lateinamerika ?

A: Ja. Die Länder Lateinamerikas reden inzwischen per Du miteinander, und die allermeisten behandeln sich gegenseitig mit Respekt. Die nordamerikanische Oligarchie hat feststellen müssen, dass sie ihren Hinterhof verloren hat.

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CUBA LIBRE 3-2012