»Ich habe mich nie als etwas Besonderes gefühlt«

Seit sie sechs Jahre alt ist, sitzt ihr Vater in den USA im Gefängnis. Ein Gespräch mit Laura Labañino.

F: Wie lebt man in Kuba als Tochter eines Nationalhelden?

A: Diese Frage ist immer schwierig zu beantworten. Die ganze Geschichte begann, als ich sechs Jahre alt war, ich bin also praktisch mein ganzes Leben lang die »Tochter eines Helden« gewesen. Was ich hervorheben muss, ist die Herzlichkeit und das Mitgefühl unseres Volkes. Ich habe mich nie als etwas besonderes oder von den anderen ausgeschlossen gefühlt. Nein, im Gegenteil, ich erlebe große Herzlichkeit und Bewunderung. Ich studiere internationale Beziehungen, und von meinen Kommilitonen im Hörsaal oder auch in der FEU, im Studentenverband, erlebe ich viel Herzlichkeit. Das war auch schon in der Schule so. Ich werde natürlich immer wieder gefragt, wie es meinem Vater geht. Vor einiger Zeit rief er mich gerade an, als ich mit meinen Kommilitoninnen zusammen gelernt habe, und sie haben sich über den Anruf gefreut, als wäre es ihr eigener Vater gewesen. Sie fühlen sich ihm sehr nahe. Zum Glück haben wir in Kuba keine Paparazzi. Keine von diesen Reportern, die in den Bäumen über einem hängen, um das peinlichste, übelste, kleine Detail über einen herauszufinden. Die Kubaner respektieren den Schmerz, den alle Angehörigen der fünf empfinden.

Laura Labañino in Berlin

Laura Labañino
Foto: W. Leonhardt



F: Du studierst internationale Beziehungen. Was ist das genau?

A: Das Studium umfasst die politischen und ökonomischen internationalen Beziehungen. Ich befasse mich zum Beispiel mit dem Marxismus, dem Keynesianismus, aber auch den neoliberalen Lehrsätzen. Das hilft mir auch dabei, meine Erlebnisse zu verstehen und einzuordnen, wenn wir Angehörigen ins Ausland reisen, um den Fall der Fünf bekanntzumachen. Gerardo und Fernando haben an der selben Fakultät studiert wie ich nun, darauf sind wir alle dort stolz. Gerardo hat sogar die »Chispa« mitgegründet, eine Institutszeitschrift, in der sich die Studenten zu Wort melden und ihre Meinung sagen können. Sie behandelt viele Aspekte des täglichen Lebens der Studenten und spart auch nicht mit Kritik.






F: Wie läuft ein Studium in Kuba ab? Wenn man hiesigen Medien glauben würde, sitzt ihr den ganzen Tag im Hörsaal, lest die neuesten Reden von Fidel und Raúl Castro und lernt die dann auswendig…

A: Nein, ganz bestimmt nicht. Vor allem meine Professorin für politische Ökonomie ist in dieser Hinsicht sehr kritisch. Ich arbeite gerade zum Thema Imperialismus, und dazu gibt es eine unüberschaubare Bibliographie. Ein Student, der es wagt, bei dieser Professorin eine Arbeit abzugeben, die sich nur auf marxistische Literatur stützt oder nur neoliberale Thesen enthält oder sonst nur eine einzelne Richtung behandelt, kommt damit nicht durch. Wir müssen in der Lage sein, mit den marxistischen Instrumenten den Charakter des Kapitalismus zu beschreiben und mit den neoliberalen Begrifflichkeiten über die Wohltaten des heutigen Kapitalismus und Imperialismus zu sprechen, um dann daraus folgend unsere Analyse zu entwickeln und vorzustellen.

F: Welchen Zugang zu Quellen habt ihr?

A: Wir haben in der Fakultät Internetzugang, alle Hochschulen haben ihre Computerpools, die immer voller Studenten sind. Wir sind 120 Studenten und haben 30 bis 40 Computer zur Verfügung. Alle Welt ist ständig dabei, Informationen zu suchen, sei es die letzte Rede von Angela Merkel oder auch die Reflexionen von Fidel. Wir untersuchen zum Beispiel: Was hat Obama zu einem bestimmten Thema gesagt, was ist die Position der Afrikanischen Union zu diesem Thema. Die Ergebnisse der Studenten sind dann oft sehr unterschiedlich und oft auch sehr kritisch. Aber das hilft uns, uns für alle Varianten zu öffnen und alle Meinungen einzubeziehen. Und es hilft natürlich auch dabei, den Sozialismus und die Revolution zu perfektionieren.

F: Wie gelingt es dir und deiner Familie, Kontakt zu deinem Vater zu halten?

A: Es gibt verschiedene Wege. Zum einen gibt es die Möglichkeit, E-Mails zu schicken. Der einzige der Fünf, dem sie die Benutzung eines Computers wegen der angeblich damit verbundenen Gefahren verweigern, ist Fernando. Mein Vater hat Zugang zu einem Computer, und wir dürfen zwei bis drei E-Mails am Tag austauschen. Das ist derzeit der einfachste Weg. Per Telefon ist es etwas schwieriger, weil er das Geld für die paar Minuten Gespräch haben muss. Dazu arbeitet er im Gefängnis, um die Gebühren für das Telefon und für die E-Mails bezahlen zu können. Wenn er es bezahlen kann, darf er im Monat 300 Minuten telefonieren, aber am Tag nur 15 Minuten. Der beste Weg ist natürlich, ihn direkt zu besuchen, und unter Obama ist das etwas einfacher geworden. Wir dürfen ihn nun zweimal im Jahr besuchen. Unter Bush war nur ein Besuch im Jahr zugelassen, zudem mussten wir zwei Jahre auf ein Visum für die USA warten. Diese Besuche finden immer unter sehr komplizierten Bedingungen statt. Die Tatsache, nach dem komplizierten Prozedere ein Visum für die USA zu haben, bedeutet nämlich noch nicht, ihn auch tatsächlich besuchen zu können. So kann es passieren, dass du an der Grenzkontrolle aufgehalten wirst, bis du deinen Anschlussflug verpasst hast – und wenn dann der Besuchstermin am nächsten Tag ist, kannst du ihn nicht wahrnehmen. Oder es gibt Probleme im Gefängnis, vielleicht eine Unruhe unter den Gefangenen. Und auch wenn das nichts mit meinem Vater zu tun hat, lassen sie uns ihn dann nicht besuchen. Oder es herrschen ungünstige Wetterbedingungen und sie ordnen deshalb an, dass kein Gefangener seine Zelle verlassen darf und auch keine Angehörigen das Gefängnis betreten dürfen.

Das sind die wichtigsten drei Wege für uns, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Ich habe die Briefe nicht erwähnt. Er ist jetzt zum Beispiel in ein neues Gefängnis verlegt worden, und dort wird die Korrespondenz sehr lange in der Kontrolle aufgehalten. Wenn es sich um Solidaritätsschreiben handelt, erreichen sie ihn sehr oft gar nicht. Die Briefe werden an die Menschen, die ihre Solidarität ausdrücken, zurückgeschickt, weil sie nach Ansicht der Behörden zu viele politische Statements enthalten. Die Behörden wollen auch nicht, dass andere Gefangene sehen, wie viel Post Ramón Luis Medina – wie sie ihn im Gefängnis nennen – bekommt, während andere Inhaftierte nichts bekommen. Nur sehr wenige Schreiben kommen an, und die, die ankommen, sind zerstört. Wenn du Ramón einen Brief mit Fotos schickst, geben sie ihm nur den Brief und behalten die Fotos ein, oder sie geben ihm nur ein Bild und die anderen nicht.

Marion Leonhardt mit Laura Labañino

Marion Leonhardt mit Laura Labañino


F: Aber E-Mails sind zugelassen?

A: Den E-Mails dürfen keine Anhänge, keine Bilder beigefügt werden. Sie dürfen nur Text mit einer Höchstlänge von 350 Zeichen haben – man kann also praktisch nur ein Telegramm schreiben. Die Behörden lesen den Text und leiten ihn weiter in das Postfach des Gefangenen. Was wir jetzt aber haben ist das Problem der Sprache. Ramón sitzt in einem Gefängnis mit sehr wenigen Latinos, und die dort arbeitenden Wächter verstehen kein Spanisch. Weil sie die Mails deshalb nicht prüfen können, schicken sie die von meiner Mutter und uns entweder zurück, oder sie leiten sie erst zwei oder drei Tage später weiter. Jetzt haben sie ihm sogar angedroht, alle Mails zurückzuweisen, wenn sie nicht in englischer Sprache geschrieben sind. Aber warum soll ich als kubanische Tochter eines kubanischen Vaters in einer spanischsprachigen Familie mit ihm auf Englisch schreiben? Zum Glück kennt mein Vater sehr genau seine Rechte und Pflichten, beim ihm stoßen sie immer wieder gegen eine Mauer.


F: Wie sind die Perspektiven für eine Freilassung deines Vaters?

A: Planmäßig soll er 2024 rauskommen. Ich wäre dann 32 Jahre alt, er 61 Jahre. Wenn es so weitergeht, müsste er dann im Rollstuhl das Gefängnis verlassen. Worunter wir in diesen 15 Jahren am meisten gelitten haben, ist zu sehen, wie der Körper eines Menschen verfällt. Obwohl er geistig derselbe junge Mann geblieben ist, ein liebenswerter Mensch mit unendlich großer Güte, ist er inzwischen in einem Alter, wo Krankheiten auftreten. Er hat sehr ernste Probleme im Knie und kann kaum noch gehen. Am Anfang waren es nur große Schmerzen im Knie beim Stehen und Gehen. Doch im Gefängnis werden diese Schmerzen nur mit Aspirin behandelt. Er kann nur noch mit großen Schwierigkeiten gehen. Die Ärzte sagen, dass er operiert werden müsste, aber eine chirurgische Operation im Gefängnis ist nicht gerade ideal. Hinzu kommen altersbedingt Bluthochdruck und Diabetes. Das ist keine einfache Situation.

Logo CUBA LIBRE Das Gespräch führte André Scheer

CUBA LIBRE 3-2013