Der Lotse geht von Bord

Auf dem VIII. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) im April hat sich mit Raúl Castro, die letzte zentrale Persönlichkeit der revolutionären Generation, aus ihrer führenden Position zurückgezogen. Nachdem er bereits 2018 das Präsidentenamt übergab, folgte ihm Miguel Díaz-Canel jetzt auch nach als Vorsitzender der PCC. Raúl, der mit seinen 90 Jahren wie gewohnt energisch, kritisch und mit klaren Analysen auftrat, will weiterhin als einfaches Parteimitglied für seine Revolution weiterarbeiten. Ob sein Abschied eine Zäsur der kubanischen Politik markiert oder durch deren Kontinuität relativiert wird, wird die Zukunft zeigen.

Stets waren westliche "Kubanologen" emsig damit beschäftigt, über irgendwelche Brüche und Unterschiede zwischen seinen Vorstellungen und der Politik seines älteren Bruders Fidel zu fabulieren, besonders, als er 2006 diesen als Revolutionsführer ablöste. Die Spekulation und das Wunschdenken ihrer Auftraggeber sind das Geschäft solcher Autoren, die das Wesen der Revolution und die Motive ihrer Protagonisten nicht verstehen und deshalb ständig daneben tappsen. Die beiden Castros waren seit ihrer Kindheit in ihrem rebellischen Geist und ihrer Auflehnung gegen Ungerechtigkeit verbunden und wussten, was sie aneinander hatten. Dennoch waren sie eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Fähigkeiten, die sich ergänzten. Selbst ein sensibler Beobachter wie der Journalist und Fotograf Lee Lockwood, der 1965 Fidel wochenlang begleitete und von der Revolution und ihrem Führer fasziniert war, gibt bei seiner Einschätzung auch zwiespältigen Oberflächlichkeiten Ausdruck: "Raúl ist ganz und gar nicht wie sein Bruder, weder in Aussehen oder Persönlichkeit, und er leidet zu einem guten Teil an gehässigen Vergleichen mit diesem. Das rührt zum Teil daher, weil niemand nirgendwo Fidel Castro gleich kommt und es kommt teilweise von einer gewissen Durchschnittlichkeit in Raúls Erscheinung sowie einer unvorteilhaft knurrigen Klangfarbe seiner Stimme. In Wirklichkeit jedoch ist er, auch wenn seine Härte seinem Aussehen entspricht, ein ernsthafter, ruhiger und ungewöhnlich höflicher junger Mann mit einem umgänglichen Sinn für Humor."

Ob er an seiner Rolle im Schatten seines Bruders gelitten hat, erscheint mehr als zweifelhaft. Er ist nicht der überragende Kommunikator wie dieser, doch verfolgte er mit Konsequenz, Disziplin und einer zutiefst humanistischen Grundhaltung seine Ziele. Schon früher als bei Fidel trat seine kommunistische Einstellung zutage und er knüpfte wichtige Kontakte im sozialistischen Ausland, die er später ausbaute. Seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Revolutionskrieg sind eine nüchterne Bestandsaufnahme der Umstände, doch immer ist darin Raum für die Namen einfacher Bauern, die den Guerilleros Obdach und Gastfreundschaft entgegenbrachten, seine Verbundenheit mit seinen Mitkämpfern sowie sein Mitgefühl für die einfachen Soldaten aus dem Volk, denen er im Kampf gegenüber steht. Nur an wenigen Stellen blickt er einer noch ungewissen Zukunft entgegen. Nach der Einnahme einer Garnison der Armee schreibt er: "Ich gesellte mich zu einem Gefangenen, legte ihm einen Arm um die Schulter und redete so mit ihm über die Ideologie unseres Kampfes, über den Betrug seitens der Regierung, dem sie zum Opfer fielen, und über all das, was mit dem Thema zu tun hat und was die Zeit und die Kürze des Weges uns erlaubte. Er bat mich darum, seinen Namen zu notieren und ihn später nicht zu vergessen, da er arm sei und für seine Mutter aufkommen müsse und nicht wisse, was passieren würde. Wir verabschiedeten uns von den Gefangenen mit einer Umarmung und ließen auch die gefangenen Zivilisten frei. (…) Von weitem sah man über den Kasernen der Unterdrückung die Flammen der Freiheit auflodern. An einem nicht allzu fernen Tag werden wir auf dieser Asche Schulen errichten."

Bald wurde unter seinem Kommando eine zweite Front errichtet, er erhielt den höchsten Rang eines Comandante und nach dem Sieg der Revolution wurde er Verteidigungsminister. Dieser verantwortlichen Aufgabe widmete er sich fast fünf Jahrzehnte, wobei er sich durch Gradlinigkeit, seine Fähigkeit als Organisator, seinen Einsatz und seinen Sinn für Gerechtigkeit den höchsten Respekt in den Streitkräften erwarb. Seit den Anfängen des gemeinsamen Kampfes war er als der potentielle Nachfolger seines Bruders vorgesehen. Fidel: "Raúl ist eine Person mit außergewöhnlichen Qualitäten. Sein Aufstieg und seine Rolle in der Revolution haben nichts mit unserer familiären Verbundenheit zu tun. Er hat seine eigenen Kriterien, Meinungen, Persönlichkeit und Charakter."

Eng verbunden mit den Aufgaben, denen sich Raúl widmete, war 1975 das Eingreifen Kubas in Angola gegen das aggressive südafrikanische Apartheid-Regime. Es wuchs sich zu einem fast 15 Jahre dauernden militärischen Konflikt aus, der Südafrika an den Rand einer Niederlage brachte, die schwarzen Bevölkerungsmehrheiten im Süden des Kontinents in ihrem Widerstand stärkte und letztlich zur Unabhängigkeit Namibias führte. Er zerrüttete darüber hinaus das Apartheid-Regime und leitete damit seinen Abgang ein. Dieser unglaubliche Einsatz des kleinen Kubas wurde zum unzweifelhaft höchsten Ausdruck des Internationalismus in der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Raúl Castro und Miguel Mario Díaz-Canel
Raúl Castro und Miguel Mario Díaz-Canel
Foto: Estudios Revolución


1982 reiste Raúl Castro nach Moskau. Kuba erhoffte eine Bündniserklärung der Sowjetunion gegen die zunehmend aggressivere Bedrohung aus den USA. Dies wurde jedoch von dem damaligen Generalsekretär Andropov rundweg abgelehnt. Die UdSSR sah sich nicht imstande, im Falle eines Angriffs auf Kuba in der Karibik mit Erfolg einen konventionellen Krieg zu führen. Man war bereit, die Kubaner weiterhin mit Waffen zu beliefern, doch es wurde ihnen ernüchternd klargemacht, dass sie im Falle eines Konfliktes auf sich selbst gestellt waren. Dies führte in Kuba zur Entwicklung einer neuen Militärdoktrin, die als "Krieg des gesamten Volkes" bezeichnet wird. Die regulären Streitkräfte wurden drastisch reduziert, es blieben vor allem Spezialisten für die Bedienung der Militärtechnik und Eliteverbände. Dafür wurden die Volksmilizen beständig bis auf Millionenstärke ausgebaut. Die Bevölkerung hat im Verteidigungsfall vor Ort Zugriff auf ihre Waffen und kämpft in dem ihr vertrauten Umfeld. Teile der militärischen Infrastruktur wurden unter die Erde verlegt. Das Ziel ist es, Kuba in einem Invasionsfall zu einem "Wespennest" zu machen und damit den potentiellen Aggressor abzuschrecken.

Während seiner Präsidentschaft führte Raúl die Politik seines Bruders unspektakulär weiter und bereitete den Übergang auf die nächste Generation vor. Zum 50. Jahrestag der Revolution wies er auf die Schwierigkeiten hin, die man überwunden hatte und unterstrich gleichzeitig, dass die nächsten 50 Jahre keinesfalls leichter sein würden. Zeitweise kam es zu einer Annäherung an die USA. Dies war vorrangig dem Umstand geschuldet, dass die Außenpolitik von US-Präsident Obama in Lateinamerika vor einem Scherbenhaufen stand und dieser Kuba benutzte, sich nochmal einen spektakulären Auftritt zu verschaffen. Immerhin kam es zu einem Gefangenenaustausch, der den noch in US-Haft sitzenden "Cuban5" die Freiheit brachte.

Vor seinem Rücktritt auf dem Parteitag stellte Raúl den einleitenden Rechenschaftsbericht der Partei vor. Dabei erteilte er gewissen Tendenzen in der kubanischen Gesellschaft eine klare Absage: "Es scheint, dass Egoismus, Gier und der Wunsch nach höheren Einkommen einige Menschen dazu ermutigen, den Beginn eines Privatisierungsprozesses zu wünschen, der die Grundlagen und das Wesen der sozialistischen Gesellschaft, die in mehr als sechs Jahrzehnten aufgebaut wurde, hinwegfegen würde. Auf diesem Weg würden auch das nationale Bildungs- und das öffentliche Gesundheitssystem, die beide kostenlos und allgemein zugänglich für alle Kubaner sind, in kurzer Zeit demontiert werden. (...) Es gibt Grenzen, die wir nicht überschreiten können, weil die Folgen unumkehrbar wären und zu strategischen Fehlern und der eigentlichen Zerstörung des Sozialismus und damit der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit führen würden."

Ein großer Revolutionär geht und mahnt. Seine Biographen Leonov und Hermsdorf haben seinen Familiensinn hervorgehoben. Wir wünschen ihm, dass ihm noch viele glückliche Jahre im Kreise seiner Enkel und Urenkel verbleiben und hoffen, dass er sich dennoch weiterhin in der Politik zu Wort melden wird.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 3-2021