Esther, ¡presente!

Zum Tod von Esther Bejarano

Am 10. Juli 2021 ist Esther Bejarano von uns gegangen.

Esther in Kuba

Esther in Kuba
Foto: Jochen Vogler / r-mediabase.eu



Geboren am 15. Dezember 1924 in Saarlouis, lebte Esther fast ein Jahrhundert unter den Zumutungen unerträglicher Verhältnisse, des Rassenwahns und des Vernichtungswillens, der Dummheit und der Ignoranz. Esther verlor den größten Teil ihrer engsten Familienangehörigen durch die Hände faschistischer Mörder. Sie betonte immer wieder die Mitschuld derjenigen, die keine Nazis waren, sich aber abwandten, keine helfende Hand anboten oder gar den Nazis in die Hände spielten. In ihrer Kindheit erlebte sie die Abwendung der Schulkameraden von den jüdischen Mitschülern, ihre Jugend verbrachte sie in Auschwitz und Ravensbrück. In jungen Jahren heiratete sie in Israel einen Mann, mit dem sie das Land verlassen musste, um nicht in ungerechte Kriege ziehen zu müssen. Beim Versuch, zurück in Deutschland ein gewöhnliches Leben zu beginnen, schlug ihr der alte, bekannte Hass auf alles Jüdische entgegen. Ende der 1970er Jahre beschloss Esther, politisch aktiv zu werden und wurde zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des Antifaschismus in der BRD.


Sie setzte die Musik, ihre Leidenschaft, für die Sache ein. Insbesondere im Verlauf des letzten Jahrzehnts bewegte sie unzählige junge Menschen dazu, sich gegen Nazis, Rassismus und Antisemitismus zu engagieren. Als viele der sonstigen Auschwitz-Überlebenden bereits verstorben waren, wurde Esther in den letzten Jahren verstärkt zu einer Person des öffentlichen Lebens und eine begehrte Gesprächspartnerin in Talkshows und Interviews. Ihr war zu jedem Zeitpunkt bewusst, dass das ihr entgegengebrachte Mitgefühl der bürgerlichen Medien immer auch mit Heuchelei einherging. Sie wählte gezielt aus, an welcher Stelle ihr Boden für die antifaschistische Sache gutzumachen schien und sagte ab, wo sie der Krokodilstränen überdrüssig war.

Esther rief, wo sie erschien, Erstaunen und Respekt hervor. Wer sie traf, war beeindruckt von der lebenslustigen, selbstbestimmten Frau, deren Persönlichkeit jeden Raum auszufüllen vermochte. Ihre kleine Statur, mit der sie gerne kokettierte, verstärkte diesen Eindruck noch. Junge Menschen verehrten sie, die liebevollen Nachrufe im Internet und auf Häuserwänden zeugen davon. Auch ehemals junge suchten Esthers Nähe. In ihr erschienen die Dinge, die man tat oder tun könnte, von größerer Bedeutung, was beruhigend oder beunruhigend wirken konnte. Wer nahe bei Esther stand, konnte gelegentlich auch in das Rampenlicht rücken, welches beinahe ständig auf sie gerichtet war. Die Prominenz mit ihren Begleiterscheinungen machte Esther das Leben weniger heiter, als es ihrer Art entsprochen hätte. So zumindest mein Eindruck.

Esther brachte Menschen, die sich selbst nicht schonen, einen heimlichen Respekt entgegen. Möglicherweise war dies der Grund, warum ich sie kennenlernen und einen Film über sie machen durfte. Unbegreiflicherweise schien sie selbst nicht der Ansicht zu sein, genug zu tun. Sie, die Jahrzehnte ihres Lebens als "Auschwitz-Überlebende" auftreten musste, obwohl sie diesen Teil ihrer Geschichte in gewissen Momenten gerne hinter sich gelassen hätte. Als ich sie drei Wochen vor ihrem Tod das letzte Mal traf, erzählte sie mir, wie sie sich in den 1950er Jahren die auf ihren linken Arm tätowierte Nummer, die sie als Auschwitz-Häftling brandmarkte, von einem Quacksalber wegätzen ließ. Bis zu ihrem Lebensende war die Ätznarbe deutlich zu erkennen. Nissim, ihr Mann, hatte sie dafür ausgeschimpft. Und wie in fast allen Fragen behielt Nissim in Esthers Augen am Ende Recht. "Ich bin in der letzten Zeit so oft von jungen Leuten nach dieser Tätowierung gefragt worden, und ich hatte das Gefühl, sie zu enttäuschen", sagte Esther zu mir. "Vielleicht hätte ich bei manchen skeptischen Jugendlichen mehr erreicht, hätte ich ihnen die Nummer zeigen können."

Im Jahr 2015 wurde ich aus dem Umfeld von Esther, mit der ich damals nicht persönlich bekannt war, gefragt, ob ich in Kuba Gespräche führen könnte, um eine Tour von Esther und der Microphone Mafia dort zu ermöglichen. Ich sagte zu. Dem Funktionär aus dem kubanischen Kulturministerium standen die Tränen in den Augen, als er von Esthers Lebensgeschichte hörte. Irgendwann bekam Esther meinen Dokumentarfilm "Die Kraft der Schwachen" zu sehen und ließ mir ausrichten, ich möge ihre Tournee auch filmisch begleiten. Ich ahnte, dass das Projekt eine Nummer zu groß sein könnte, zögerte und sagte dann doch zu. Esther schlug man nicht so einfach etwas ab. Die Tournee durch Kuba und die Dreharbeiten waren chaotisch, es war nass und kalt, wie man es lange in Kuba nicht erlebt hatte. Esther erkrankte ernsthaft und war vorübergehend flugunfähig. Danach wollte sie lange weder von Kuba noch vom Dokumentarfilm etwas wissen. Es war unklar, ob und in welcher Form es "Wo der Himmel aufgeht" jemals geben würde. Als ich ihr ein Jahr später die Rohfassung des Films in einem Hotelzimmer in Hanau vorspielte, kurz vor einem ihrer zahlreichen Auftritte, war sie dann doch sofort Feuer und Flamme. Auf der Premiere im Juni 2018 in Hamburg wusch sie mir vor vollen Rängen noch einmal den Kopf für all die Anstrengungen, die ich ihr abverlangt hatte. Von da an war ihr Umgang mir gegenüber von Großmut geprägt. Als ich sie das letzte Mal sah, machte sie mir jedoch Vorwürfe. "Du bist schon seit Tagen in Hamburg und meldest Dich nicht bei mir?" Bei dieser Begegnung war Esther so nachdenklich und offenherzig wie ich sie selten zuvor erlebt hatte.

Wir sprachen über ihre Kindheit in Saarbrücken, über ihre geplante Ausreise nach Palästina und ihre spätere Zeit in Israel. Und sie erwähnte David Prinstein, den Vizepräsidenten der Hebräischen Gemeinde von Havanna. Nie zuvor und nie danach habe sie einen so sympathischen und aufgeschlossenen jüdischen Geistlichen getroffen, so Esther. Prinstein hatte in einer Grußbotschaft zur Premiere von "Wo der Himmel aufgeht" die Bedeutung des Besuchs von Esther für die jüdische Gemeinde in Kuba betont. Esther sei für die kubanischen Jüdinnen und Juden nicht nur eine Zeitzeugin gewesen, die vom Überleben der Shoa berichtete. Sie war auch eine authentische Quelle für Antisemitismus, der in Kuba praktisch unbekannt ist. "Ich bin froh zu hören, dass es in Kuba eine jüdische Gemeinde, aber keinen Antisemitismus gibt", sagt Esther an einer Stelle des Films. Denn ein Land, in dem Antisemitismus herrscht, habe keine Berechtigung, sich für sozialistisch zu halten, hatte sie schon bei ihrer Abreise nach Kuba erklärt. Nun, Kuba bestand diese Probe.

Drei Wochen nach unserem letzten Gespräch starb Esther. Der Schauspieler und Freund Esthers, Rolf Becker, hielt eine wundervolle Abschiedsrede. Zahlreiche Initiativen und Jugendgruppen verabschiedeten sich mit bewegenden Worten von dieser großen Antifaschistin. Das Proyecto Tamara Bunke schrieb auf seiner Webseite www.berichteaushavanna.de: "Die Momente, die wir mit ihr haben verbringen können, empfinden wir als ein Privileg. Unvergessen ihr Konzert in Havanna im Januar 2017, wobei im Anschluss ein gemeinsames Bild mit den anwesenden Bunkistas entstand. Wer Esther dort erlebt hat, hat sofort verinnerlicht, weshalb die Solidarität mit Kuba und der Antifaschismus untrennbar miteinander verbunden sind. Esther ist 96 Jahre alt geworden – allein das ist wie ein Sieg über die Faschisten, die sie als junges Mädchen vernichten wollten. Jetzt ist Esther nicht mehr unter uns, aber ihr Vermächtnis lebt in uns weiter: Esther, ¡presente! – Antifascistas, ¡para siempre!"

CUBA LIBRE

Tobias Kriele

CUBA LIBRE 4-2021