Die Kubanologie will es wieder wissen

Als Kubanologie wird jene internationale Szene von Akademikern bezeichnet, deren Bestimmung darin besteht, das sozialistische Kuba schlecht zu reden und seinen baldigen Untergang zu prognostizieren, falls es weiterhin nicht auf deren ständige Verbesserungsvorschläge eingeht und sich somit als "lernunfähig" erweist. Dass die Analysen dieser Leute bisher weitgehend ihr Ziel verfehlten, tut den Karrieren dieser "Weisen" kaum Abbruch: Der kapitalistische Wissenschaftsbetrieb lässt seine Ideologen nicht verhungern, sondern weiß ihre permanente Wühlarbeit sehr zu schätzen. Dass die Corona-Pandemie diesen Aktivitäten Schwung verleiht, ist logisch: Wenn die Menschen auch in Kuba, schon durch die jahrzehntelange US-Blockade stark eingeschränkt, noch zusätzlich mit der Bedrohung durch das Virus zu kämpfen haben, wittert diese Meute von "Regime-Changern" Morgenluft und sucht ihre Chance, weitere Unruhe zu verbreiten und ihre zerstörerische Agenda voranzubringen.

Der Hamburger Politologe Bert Hoffmann gab 1994 einen Sammelband heraus unter dem Titel "Wirtschaftsreformen in Kuba – Konturen einer Debatte". Liest man diese Texte erneut, so sind sie teilweise von hoher Aktualität. Die alten Argumente sind auch die von heute. Carmelo Mesa-Lago, einer der Wirtschafts-Gurus der Konterrevolution, gab in seinem Beitrag die Richtung so vor: "Die Dynamik der Reform drängt jedoch auf weitere Veränderungen. Indem die Regierung – wenn auch in streng regulierter Form – einen Teil der stattfindenden Wirtschaftstätigkeiten legalisiert hat, wird dies als grünes Licht für die Ausweitung solcher Aktivitäten gesehen, Restriktionen werden mißachtet, und neue unerlaubte Bereiche werden betreten. Hieraus wiederum entsteht Druck auf die Regierung, weitere Konzessionen zu machen, die wiederum weiter in Richtung Markt drängen." Nachfolgend sah der Autor, ähnlich wie in Osteuropa, als Konsequenz das Aufkommen einer "marktwirtschaftlichen Ordnung". Was als sachliche Bestandsaufnahme eines Außenstehenden daherkam, war und ist in Wirklichkeit Programm.

Gerade hat Hoffmann erneut Texte in einem dicken Band zusammengestellt. Der Titel: "Social Policies and Institutional Reform in Post-COVID Cuba". Das Buch erscheint diesmal nicht in deutscher Sprache, sondern auf Englisch – und auf Spanisch. Darüber hinaus wird es kostenlos als PDF-Download angeboten. Die kapitalistische Ideologie-Produktion setzt das Wertgesetz außer Kraft und macht Geschenke – da ist Vorsicht geboten. Die Auswahl der Sprachen zeigt, dass es international und auch direkt auf Kuba ausgerichtet ist, zumal auch kubanische Autorinnen und Autoren ihre Beiträge dort unterbringen durften. Schon im Vorwort orakelt der Herausgeber: "Wie der Ausbruch von Straßenprotesten überall auf der Insel am 11. Juli 2021 gezeigt hat, werden die Leute nicht für immer geduldig bleiben. Bürger verlangen nicht nur mehr Essen auf dem Tisch, sondern auch neue Wege, Politik zu machen. Die Herausforderungen wirtschaftlicher Reform und Sozialpolitik, effektiver Regierungsarbeit und glaubwürdiger Bürgerbeteiligung stehen alle gleichzeitig auf Kubas Agenda. Dort sind sie schon seit vielen Jahren, doch die Durchführung bedeutsamer Antworten war langsam, häppchenweise oder fand überhaupt nicht statt. Zuviel Zeit wurde verloren und wir sehen die Konsequenzen". Die Auseinandersetzung mit diesem Material ist für die Solidaritätsbewegung mühsam, aufwändig und unappetitlich, aber notwendig. Die Zukunft des kubanischen Sozialismus wird im Lande selbst entschieden. Doch wir können uns hinter dieser Tatsache nicht verstecken oder bequem zurücklehnen. Wir brauchen selbst Klarheit, um am Ende nicht zum unfreiwilligen Instrument solcher Autoren zu werden.

Ein deutscher "Nachwuchs-Kubanologe" ist offenbar der Wirtschaftsmagister und Blogger Marcel Kunzmann, der schon seit einiger Zeit bei Teilen der deutschen Soli-Bewegung dankbar ankommt, da er deutsche Übersetzungen und Zusammenfassungen aktueller Texte aus Kuba liefert – wobei es für die des Spanischen Kundigen immer geboten ist, sich die Originaltexte nochmal anzusehen. In Hoffmanns neuer Veröffentlichung ist er mit einem Beitrag dabei: "Neither Plan nor Market – Problems and Coherence of the Gradualist Reform Approach". Dabei gibt er einen Abriss der Wirtschaftsgeschichte des revolutionären Kubas aus seiner Sicht, mit Kategorisierungen, Tabellen und zahlreichen Verweisen auf mehrheitlich dubiose Autoren. Der eher belanglose Artikel endet mit den üblichen Forderungen nach konsequenteren Reformen, die nach Meinung des Autors irgendwo steckengeblieben sind. Abgesehen von der interessegesteuerten Interpretation der kubanischen Geschichte irritieren kleine Oberflächlichkeiten. So wird der Belgier Ernest Mandel, der jahrelang unter Genscher in der BRD Einreiseverbot hatte, als Deutscher eingebürgert. Die Autorin Helen Yaffe wird in Yafee umbenannt. Hat er sie ernsthaft gelesen? Offensichtlich sucht Kunzmann, der nicht unbedingt mit aktiver Unterstützung in der Kuba-Solidarität aufgefallen ist, seinen Platz in der Riege der Kubanologen oder hat ihn schon gefunden. Jedenfalls wäre ihm von neoliberalen Wirtschafts-Professoren für seine Fleißarbeit ein warmes Schulterklopfen sicher.

Eines seiner Themen ist immer wieder die kapitalistische Weltmacht China, dessen "Markt-Sozialismus" er versucht, auch Kuba oder der Solidaritätsbewegung als Lösung aller Probleme anzudienen. In einem Anfang Oktober in der Tageszeitung junge Welt veröffentlichten Aufsatz "Herz und Magen" heißt es: "Kuba, das inmitten der Krise aufgebrochen ist, sein Sozialismusmodell neu zu erfinden, scheint heute nicht nur den Magen, sondern auch sein Herz wieder in China zu finden". Im Feuilleton-Stil wird China als Gesellschaft dargestellt, die sich stets wohlwollend und verständnisvoll gegenüber Kuba verhalten hat, selbst als bei Fidel Castro "ab 1963 der Magen zunehmend die Oberhand gewann", so Kunzmann. Damit will er sagen, dass Fidel Castro sich aufgrund des größeren wirtschaftlichen Unterstützungspotentials der UdSSR zur damaligen Zeit im sowjetisch-chinesischen Streit auf die Seite Chrustschows schlug. Fidel ging noch weiter, er beschimpfte Mao später noch als "senilen Idioten" und Deng Xiaoping als "eine Art Hitler-Karikatur".

Diese Fidel-Karikatur, die der Autor hier dreist, aber so ganz nebenbei, zu zeichnen sucht, ist in höchstem Maße abwegig, selbst wenn Castro diese Aussagen gemacht haben sollte. Fidel Castro wurde niemals von seinem Magen gesteuert, sondern verfügte über einen klaren Verstand und unveräußerliche Prinzipien. Nie hätte er Menschen oder Völker um eines materiellen Vorteils wegen verraten oder verkauft. Anders als Chinas Politiker, welche in den 70er Jahren die Nähe der USA suchten. Dabei wurde die KP Thailands, nach der vietnamesischen die stärkste auf dem südostasiatischen Festland, als Zugeständnis an Washington fallengelassen. Sie hatte bis dahin mit chinesischer Unterstützung und Beratung einen Guerillakrieg in dem westlich orientierten Königreich geführt, löste sich dann auf und konnte sich bis heute nicht einmal im Ansatz reorganisieren.

Dass die Hinwendung Chinas an den Feind Kubas bei einem Revolutionär wie Fidel nicht auf Begeisterung stieß, ist leicht nachvollziebar. "Kuba-Experte" Kunzmann versucht gleich noch, einen Gegensatz zwischen Fidel und Che Guevara herbeizuphantasieren. Im Gegensatz zu Castro habe Che angeblich China nahegestanden. Er hat sicher interessiert hingeschaut, doch hätte er die kapitalistische Entwicklung Chinas bis heute noch mitverfolgen können, wäre seine Haltung dazu eindeutig (siehe den Text Die revolutionäre Ökonomie Che Guevaras in diesem Heft). "Man spricht viel von Privateigentum und von Marktwirtschaft. Wenn man Privateigentum und Marktwirtschaft zusammennimmt, dann hat man den Kapitalismus oder wird ihn haben oder befindet sich dabei, ihn einzuführen", so Fidel Castro auf dem 16. Kongress der CTC am 28.1.1990. Ein "nachholender" Kapitalismus kann für Kuba kein Weg sein. Die Kubanologen wollen erst die Kapitulation und dann die erneute und totale Kolonisierung des Landes.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 1-2022