Gefahren und Prinzipien

In seinem historischen Abschiedsbrief an Fidel schrieb Ernesto Che Guevara im Jahr 1965: "... ich bin ebenso stolz darauf, dass ich dir ohne Zögern gefolgt bin, in Übereinkunft mit deiner Art, Gefahren und Prinzipien zu denken, zu sehen und einzuschätzen".

Ich habe oft über die Tiefe dieses Satzes nachgedacht, der veranschaulicht, dass das Wesen des Denkens eines Revolutionärs in jedem Moment genau darin besteht, die Gefahren und die Prinzipien zu erkennen und einzuschätzen; die wechselnden Gefahren, die das menschliche revolutionäre Werk bedrohen, und die dauerhaften Prinzipien, die unabhängig von jeder Gefahr aufrechterhalten werden müssen.

Die heutigen Grundsätze sind die der kubanischen Revolutionäre seit jeher, untrennbar mit der Verteidigung der nationalen Souveränität und dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit verbunden. Sie finden sich meisterhaft in dem von Fidel am 1. Mai 2000 verkündeten Konzept von Revolution zusammengefasst. Sie sind "Gesetz geworden" in der Verfassung unserer Republik, die wir 2019 mit großer Mehrheit angenommen haben.

Sieg über die Invasoren in der Schweinebucht
Im Bewusstsein aller Kubaner: Der Sieg über die Invasoren in der Schweinebucht war die erste Niederlage des Yankee-Imperialismus in Lateinamerika.
Foto: Gorupdebesanez / wikimedia / CC BY-SA 3.0


Und was sind die heutigen Gefahren?

Die erste und wichtigste kommt von außen, und zwar die Feindseligkeit der größten imperialistischen Macht, die es je gegeben hat, die sich in der Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba und in dem Informations- und Bilderkrieg ausdrückt, den sie mit ihren mächtigen Medien gegen uns führen.

Andere ergeben sich daraus. Es besteht die Gefahr, dass die Blockade dazu führt, dass die kubanische Wirtschaft von der Weltwirtschaft abgekoppelt wird, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die Entwicklung eines Landes am stärksten von diesen Beziehungen abhängt. Der Anteil des im Außenhandel realisierten globalen Bruttoinlandsproduktes hat sich in den letzten vier Jahrzehnten verdreifacht. Die Wirtschaftswelt ist zunehmend vernetzt, nicht nur durch den Fluss von Waren, Dienstleistungen und Investitionen, sondern auch durch den Fluss von Wissen und Technologie.

Eine anhaltende wirtschaftliche Einkreisung birgt die Gefahr, dass mehr als ein halbes Jahrhundert unzureichender Investitionen den Verfall unserer produktiven Infrastruktur an die Schwelle der Unumkehrbarkeit bringen wird. Ähnliches geschah bereits in anderen Ländern und in anderen historischen Momenten.

Die Globalisierung und der rasche technologische Wandel sind entscheidende Faktoren der heutigen Weltwirtschaft, die sich gegenseitig verstärken. Der beschleunigte technologische Wandel des 21. Jahrhunderts verlangt von den Unternehmen eine ständige Erkundung der Möglichkeiten zur Anpassung an ihr Umfeld. Dies wiederum erzwingt eine agile und dezentralisierte Unternehmensführung, auch für ihre internationalen Beziehungen, und führt zu einer Dynamik der Gründung und des Aussterbens von Unternehmen. Derlei ist kaum vereinbar mit den Schemata der vertikalen Verwaltung der Wirtschaft und der sorgfältigen langfristigen materiellen Planung, die früher (mit den Technologien der Mitte des 20. Jahrhunderts) gut funktionierten, aber nicht mehr der heutigen wirtschaftlichen und technologischen Welt entsprechen.

Wir müssen eine dezentralisierte Verwaltung einführen, ohne jedoch das sozialistische Eigentum aller und die gerechte Verteilung des Wirtschaftsprodukts entsprechend der Arbeit aller zu entfremden (Und wir müssen auch eine junge Generation sozialistischer Unternehmer ausbilden, die dazu in der Lage sind). Die Gefahr besteht darin, dass wir es nicht schaffen, mit diesem Widerspruch angemessen umzugehen und sein schöpferisches Wesen zum Vorschein zu bringen.

Revolution lügt nicht, niemals
Revolution lügt nicht, niemals.
Foto: Gorupdebesanez / wikimedia / CC BY-SA 3.0


Auf der Ebene der Ideen besteht die Gefahr, dass es den üblichen Gegnern unseres Gesellschaftsentwurfs gelingt, die neuen Generationen davon zu überzeugen, dass die materiellen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, nicht das Ergebnis äußerer Aggression sind, sondern nur unserer Unfähigkeit, sie zu bewältigen. Und dass sie ohne einen "Mister" (oder einen "Möchtegern-Mister"), der unsere Unternehmen leitet, nicht gelöst werden können. Und uns die Idee zu verkaufen, dass materielle Entwicklung die Akzeptanz eines viel größeren Ausmaßes an sozialer Ungleichheit voraussetzt. Um diese Ideen zu säen und die Widerstandsfähigkeit unserer Kultur zu untergraben, arbeiten sie mit Mitteln und einer Hingabe, die besserer Ziele würdig wären. Und oft helfen wir ihnen durch unsere eigenen Fehler.

Die Gefahr besteht darin, dass es ihnen gelingt, das Vertrauen und den Willen zur Teilnahme am kollektiven Projekt Kubas zu untergraben und viele dazu zu bringen, sich ausschließlich in ihre individuellen Wohlstandsprojekte zu flüchten und so ihre Sicht der Welt und die moralische Tragweite ihrer Lebensprojekte zu verringern. Diese Gefahr ist die Ursache für die gefährlichen Abwanderungstendenzen vieler qualifizierter junger Menschen.

Zu all dem kommt noch eine weitere Gefahr hinzu, nämlich die, dass wir zwar wissen und umsetzen, was getan werden muss, es aber nicht schnell genug tun. Dies ist eine sehr reale Gefahr. Die menschliche Gesellschaft ist ein Komplex von gleichzeitigen Prozessen, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen und sich gegenseitig bedingen. Die Langsamkeit, mit der einige von uns das umsetzen, von dem wir wissen, dass es getan werden muss, und das Zögern, die "Komfortzone" des "Business as usual" zu verlassen, erinnert an eine Predigt von Martin Luther King aus dem Jahr 1967, in der er sagte:"Der menschliche Fortschritt ist weder automatisch noch unvermeidlich. Die Zukunft ist bereits da, und wir müssen uns der Dringlichkeit des Jetzt stellen".

Dies sind die Gefahren, und niemand soll denken, dass wir uns ihrer nicht bewusst sind, aber keine Gefahr wird uns unseren Optimismus und unser Vertrauen in die souveräne und sozialistische Zukunft Kubas nehmen. Die Verteidigung der Lebensfähigkeit dieser Zukunft erfordert, dass wir zunächst die Gefahren erkennen, sie laut und deutlich ansprechen, ihre Wurzeln analysieren und ihnen ins Gesicht sehen. Sie werden weniger gefährlich sein, wenn wir sie gut kennen.

Diese mutige Auseinandersetzung mit den Gefahren der Zeit, die ihrerseits fest auf den Grundsätzen der nationalen Souveränität und der sozialen Gerechtigkeit beruht, die uns seit jeher auszeichnen, ist das, was die Bevölkerung von den jungen Kubanern von heute erwartet.

Die neuen Generationen werden darin ihre "Sierra Maestra" finden. Gewehr und Rucksack über die Schulter … und los geht es in die Berge!

CUBA LIBRE Agustín Lage Dáila
Dieser Beitrag erschien am 1. 2. 2022 auf cubadebate.cu.
Übersetzt von Tobias Kriele

CUBA LIBRE 2-2022