Vor 30 Jahren:

Sollen wir auf die Revolution verzichten?

Als der Westen darauf wartete, dass auch der kubanische Sozialismus zusammenbrechen würde.

Zum Ende der 1980er Jahre erzielte das revolutionäre Kuba seinen größten internationalen Erfolg: Hunderttausende kubanischer Freiwilliger – Frauen und Männer – hatten in einem über 14 Jahre dauernden Krieg in Angola militärische und zivile Unterstützung geleistet. Mit dem Abkommen von New York vom 22. Dezember 1988 wurden ihre Opfer und Anstrengungen zu einem Sargnagel für das rassistische südafrikanische Apartheid-Regime, sie sicherten die Unabhängigkeit von dessen Nachbarländern und trugen zur Befreiung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit in Südafrika selbst bei.

Doch es war ein Triumph ohne Feiern und Fanfaren. Außerhalb von Afrika wurde er unter dem Mantel des Schweigens vergraben und durch dramatische Veränderungen in Europa überlagert. Selbst die Kubanerinnen und Kubaner hatten kaum die Zeit, sich vollständig die Größe dessen, was sie erreicht hatten, vor Augen zu führen. Gleichzeitig mit der Rückführung der kubanischen Internationalisten offenbarte sich die gesellschaftliche Erosion von Kubas sozialistischen Verbündeten in Mittel- und Osteuropa. Diese führte sehr schnell zu einem Rückfall in eine kapitalistische Wirtschaftsordnung. Das sozialistische Kuba verlor in kurzer Zeit seine wichtigsten Unterstützer und damit etwa 85 Prozent seines Außenhandels. Mit Verweis auf die Werte, die Kuba in Afrika geleitet hatten, brachte Fidel Castro die sich aufdrängenden Notwendigkeiten so auf den Punkt: "Jetzt wird von unserem Land eine außerordentliche internationalistische Mission verlangt: die Revolution in Kuba zu retten, den Sozialismus in Kuba zu retten! Und darin wird der größte internationalistische Dienst liegen, den unser Volk der Menschheit erweisen kann."

Tatsächlich wartete man im Westen nur noch darauf, dass auch der kubanische Sozialismus zusammenbrechen und sich aufgeben werde. Die Führer konterrevolutionärer Exilantengruppen saßen in Miami auf gepackten Koffern. Sie hatten von der US-Regierung für ihre Rückkehr drei Tage ohne lästige Presseberichterstattung gefordert, um unter den aktiven Unterstützern der Revolution blutige Abrechnung zu halten. Diese Exzesse hätte man dann der Welt als Ausdruck des Volkszornes der angeblich unterdrückten Bevölkerungsmehrheit Kubas verkauft. Die Unsicherheit war unter den Menschen in Kuba sicher spürbar, doch ernsthafte Anzeichen für einen konterrevolutionären Umsturz gab es nicht. Unter Anspannung, doch äußerlich gefasst, blickte man auf die Entwicklung in Europa und fragte sich, wie es weitergehen würde. In dieser Situation wuchs Fidel Castro einmal mehr noch weit über sich hinaus, zeigten sich seine herausragenden Fähigkeiten als Visionär und politischer Führer.

Unermüdlich fuhr er durch das Land, suchte die Menschen an ihren Arbeitsplätzen auf und sprach auf Versammlungen. Er ermunterte diejenigen, die Zweifel hatten, legte die Hintergründe der Krise dar, appellierte an die Einigkeit, erinnerte an die Opfer des Kampfes von Generationen und wies auf die Gefahren für das Erreichte hin, falls Kuba sich von den Ereignissen in Osteuropa mitreißen lasse. Mit seiner ganzen Leidenschaft und seiner Glaubwürdigkeit, basierend auf Integrität, Ehrlichkeit und seinem jahrzehntelangen persönlichen Beispiel, stemmte er sich gegen die Bedrohung. Seine Reden, die er in jenen Jahren vor Massenversammlungen hielt, gehören zum Besten und Wertvollsten, was er der Nachwelt hinterlassen hat. "Gerade habe ich einem Komitee-Mitglied eine Medaille überreicht, und ich bemerkte in eben dem Moment, dass es derselbe Genosse war, der das Auto steuerte, in dem ich vor dem 26. Juli von Havanna nach Santiago fuhr (Anm. W. M.: vor dem Sturm auf die Moncada-Kaserne 1953). Wir haben Widrigkeiten erlebt, Gefängnisse kennengelernt, das Exil kennengelernt, Feldzüge erlebt, Rückschläge erfahren: im Laufe der Jahre haben wir praktisch alles kennengelernt, und niemals hat der Pessimismus von uns Besitz ergriffen, niemals zeigte jemand aus diesen Zeiten die geringsten Zeichen von Mutlosigkeit. Es ist sehr gut, daran zu erinnern, denn diese Qualitäten werden jetzt von neuem von jedem von uns gefordert. Wenn man siegen will, wenn der Wille zum Sieg besteht, siegt man. Es gibt keine Hindernisse, keine Schwierigkeiten, die sich dem unbeugsamen Willen der Menschen und der Völker entgegenstellen können."

Patria o Muerte
Foto: Cubainformacion

"Aber selbst diejenigen, die uns in bestimmten Momenten als Satelliten bezeichneten, auch jene, die glaubten, dass wir Befehlen aus dem Ausland gehorchen würden, und die uns so viele Male mit jener Wortschöpfung zu erniedrigen versuchten, die uns jedoch nie beleidigt hat, denn solidarisch zu sein, ist ein Prinzip, Brüder von Revolutionären zu sein, ist ein Prinzip, es war ein Prinzip, es ist eines und wird es immer sein; all jene, die sich einbildeten, dass wir ein Satellit seien, werden, so hoffe ich, nicht mehr den kleinsten Schatten eines Zweifels daran haben, dass wir niemals irgendjemandes Satellit waren, es nicht sind und auch niemals sein werden. Wir müssen sagen, dass wir diese Revolution auf eigene Rechnung gemacht haben, niemand hat sie für uns gemacht, niemand hat sie an unserer Stelle verteidigt, niemand hat sie für uns gerettet; wir selbst haben sie gemacht, wir selbst haben sie verteidigt, wir selbst haben sie gerettet, und wir machen sie weiterhin, wir verteidigen sie weiterhin und werden sie weiterhin so oft retten, wie es nötig ist."

Immer wieder kam es bei seinen Reden zu Phasen des Dialogs mit den Menschen: "Was werden wir tun, uns für besiegt erklären? (Rufe: "Nein!") Uns ergeben? (Rufe: "Nein!") Niemals! Was sollen wir tun? Sollen wir auf die Revolution verzichten? (Rufe: "Nein!") Auf unsere Unabhängigkeit verzichten? (Rufe: "Nein!") Niemals! Was wir tun müssen, ist Widerstand leisten, kämpfen und natürlich siegen. Sind wir schlechter als unsere Vorfahren während des Zehnjährigen Krieges? (Rufe: "Nein!") Keineswegs! Sollen wir schlechter dran sein, als wir es im Falle einer völligen militärischen Blockade des Landes wären? (Rufe: "Nein!") In Wirklichkeit haben wir in all unseren Verteidigungsplänen der letzten Jahre alle Möglichkeiten durchdacht, die wir im Falle einer völligen See- und Luftblockade gegen unser Land ergreifen müssten." Immer lieferte Fidel auch den Ausblick auf eventuelle Entwicklungen und zeigte die geplanten Gegenmaßnahmen auf, gleichzeitig schwörte er die Menschen auf mögliche schlechte Zeiten ein: "Für einige Zeit können ähnliche Umstände wie bei einer völligen militärischen Blockade eintreten (...) Wir haben gesagt, wir haben versichert und wir glauben, dass wir vorbereitet sind, um auch einer völligen Blockade des Landes zu widerstehen und das Leben und die Verteidigung des Landes auch unter diesen Bedingungen sicherzustellen. (…) Wir müssen bereit sein, mit weniger auszukommen, mit viel weniger, ja mit fast gar nichts. Das wäre schon eine extreme Lage, aber wir müssen die Variante in Betracht ziehen, die die kritischste sein könnte, und dann müssten eine Reihe von weiteren Maßnahmen getroffen werden, je nach den Umständen."

Der kleinen Minderheit in Kuba selbst, die zu einer Gesellschaft der "Ausbeuter und Vampire" zurückkehren wolle, wies er die Richtung: "In solch schwierigen Zeiten, wird es wie immer zweifellos Ratten geben, die das Schiff verlassen wollen, es wird Feiglinge geben." (Rufe: "Sollen sie doch gehen!") Er unterstrich, dass man denen, die "in diesem Augenblick das Vaterland wechseln wollen", keine Hindernisse für eine Ausreise in den Weg legen werde. Außerdem gebe es Leute, "die ihre Moral verlieren und versuchen, ihre Demoralisierung auch noch zu verbreiten; solchen Leuten müssen wir Einhalt gebieten. In so schwierigen Zeiten wird das konterrevolutionäre Gewürm wieder neuen Mut schöpfen, dagegen müssen wir kämpfen und sagen: Wurm, verkrieche dich in dein Loch! Wurm, bleib in deinem Dreck; Wurm, bleib in deinem Mist; Wurm, bleib in deinem Moder, und halt den Mund!"

Entgegen dem Prinzip der kubanischen Außenpolitik, sich nicht zu den Angelegenheiten neutraler oder befreundeter Länder zu äußern, nahm er jetzt zu ehemaligen Bruderländern Stellung, die bei Abstimmungen in der UNO die Seiten gewechselt und Kuba gemeinsam mit den USA angegriffen hatten: "Wir haben niemals auch nur ein einziges unserer Prinzipien aufs Spiel gesetzt, damit uns das Imperium einen Gefallen tut. Und in diesem Geist, in diesem Bewußtsein ist unser Volk erzogen worden, in dem Geist, dass die Sache anderer Völker nicht verkauft werden darf, dass die Prinzipien nicht mit Füßen getreten werden dürfen, dass die Prinzipien nicht in den Schmutz gezogen werden dürfen (...) Danke, Machthaber von Polen und der Tschechoslowakei, von Ungarn und Bulgarien für das, was Ihr uns gelehrt habt; für das, was dazu beigetragen hat, unser revolutionäres Bewusstsein zu schärfen; dafür, dass Ihr dazu beigetragen habt, dass wir uns noch revolutionärer fühlen (...) Wir können nichts als noch größeren Widerwillen und eine noch stärkere Abscheu wegen des Verrats empfinden: Danke! All das ist uns eine Lehre, vertieft unsere Überzeugungen, macht uns standhafter."

Und Fidel stand keineswegs alleine da. Wie der langjährige Kulturminister Abel Prieto kürzlich in einer Würdigung unterstrich, waren es Leute wie der hochangesehene Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Cintio Vitier, dessen Stimme sich damals erhob "über den siegestrunkenen Chor neoliberaler Fanatiker, der Auftragsschreiber, der Reuewilligen und Verräter; und über das Schweigen derer, die ihre Orientierung und ihren Glauben verloren hatten." 1992 griff Vitier in Madrid bei einem Treffen mit der Solidaritätsbewegung die schamlose Doppelmoral der westlichen Mainstream-Presse an, welche der Entwicklung in Kuba, wie den Bootsflüchtigen in die USA, "unverhältnismäßige und obsessive" Aufmerksamkeit schenke, Ereignissen, die "wirklich minimal sind, wenn man sie mit dem Schrecken, dem Verbrechen und dem Grauen in der Welt, in der wir leben, vergleicht." Er verwies auf die 20.000 unter der Batista-Diktatur Ermordeten und stelle sie der "Offensive der Postmoderne" mit ihren "nihilistischen und auflösenden Thesen" gegenüber, der Fabel vom "Ende der Geschichte" und der Demoralisierung, die der vermeintlich unumkehrbare Triumph des Gottes "Markt" über die Utopien hervorrief. Und er unterstrich, dass die Revolution "in jedem demoralisierten, politisch skeptischen, marginalisierten oder asozialen jungen Menschen einen unbestreitbaren und schmerzlichen Misserfolg sehen muss. (...) Die Revolution wurde auch für sie gemacht. Sie kann nicht zulassen, dass sie ihre Nebenprodukte bleiben. Tun wir unser Möglichstes, damit das Wort von Martií sie erreicht...".

Der weitere Verlauf der Dinge ist bekannt: Der kubanische Sozialismus erwies sich als gefestigt und die Menschen verstanden die Argumente Fidels und seiner Mitkämpfer. Die Jahre dieser so genannten "Spezialperiode in Friedenszeiten" waren hart, doch das Land konnte sich aus ihr herausarbeiten und weiterentwickeln. Das hat die souveräne Bewältigung der Corona-Krise aus eigener Kraft gerade deutlich gemacht.

Was Fidel Castro antrieb, waren sein Vertrauen in die Menschheit und in die Zukunft. "Egal was passiert, andere Zeiten werden kommen. Gerade befinden wir uns in einer gewaltigen reaktionären Welle; später wird eine große revolutionäre Welle, eine große progressive Welle wiederkommen. Das ist sicher. Jetzt haben wir den reaktionären Höchstwasserstand. So wie jetzt reaktionäre Ideen dominieren und sehr stark sind, wird die Zeit kommen, wenn fortschrittliche, demokratische und gerechte Ideen die Oberhand gewinnen – ob wir selbst noch dabei sind oder nicht." Der von Fidel ausgerufene "Kampf der Ideen" bleibt eine kontinuierliche Herausforderung: die Menschen stets erneut mitzuziehen und zu motivieren und der Beeinflussung durch den Feind entgegenzutreten; die eigenen Reihen zu schließen und die Revolution zu bewahren. Hier hat er in schwierigsten Momenten ein bleibendes Beispiel gegeben.

CUBA LIBRE Wolfgang Mix

CUBA LIBRE 3-2022