Tot und mirakulös lebendig

Santiago Feliú

Santiago Feliú
Foto: Alejandro Alfonso Regueiro / flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0


Als Santiago Feliú 2014 starb, waren wir gerade in Malaga und warteten auf unsere Arbeitserlaubnis für Kuba. Die Freundin, die uns von Havanna aus per E-Mail informierte, kam gerade von seiner Beisetzung. Sie war sehr traurig. Und wir wurden es prompt auch.

Vielleicht fünf- oder sechsmal hatten wir das Privileg, ihn live zu erleben. Bei Konzerten hatte er so seine Marotten. Eine bestand darin, ständig das Gefühl zu haben, seine Gitarre neu stimmen zu müssen. Zu diesem Zweck brach er auch schon mal mitten im Song ab. Normalerweise für einen Auftritt ein absolutes No go! Nicht so bei ihm. Zuweilen hatte er auch den Ehrgeiz, Rekorde aufzustellen. Ich erinnere mich noch an einen Abend im Astral, an dem er Zwischenresultate bekanntgab. "Das war die Nummer 41 und jetzt kommt die 42." Oder war’s gar die 62? Auf jeden Fall war die Nacht schon fortgeschritten, als wir beschlossen, das Handtuch zu werfen.

Das klingt nach einem Kauz. Aber er war keiner. Ich habe vor einigen Jahren einmal an dieser Stelle geschrieben, dass ich ihn (damals lebte er noch) für den zweitbesten Liedermacher Kubas hielte. Ich wollte mich in meinem Urteil auf keine Diskussion einlassen und dazu stehe ich auch heute noch. Santi hatte zu seiner Zeit keinen über sich außer Silvio Rodríguez.



Sein Tod (oder seine "physische Abwesenheit", wie man in Kuba sagt, wo man nichts und niemanden loslassen kann) ist nun etwas über acht Jahre her. Und da er am 29. März 60 Jahre alt geworden wäre, kam man auf die schöne Idee, ihm eine Geburtstagsfeier auszurichten. Ort des Events war die Casa de Amistad auf Paseo, die zum ICAP (Kubanisches Institut für Völkerfreundschaft) gehört, denn sie ist zum einen politisch korrekt und hat zum anderen auch einen weitläufigen Garten. Jetzt musste nur noch das Wetter mitspielen. Und das tat es.

Wer die Dichte und Allgegenwart kubanischer Kultur kennt (und hier gebührt der Musikszene nochmal ein Extrasternchen), mag sich im Ansatz das Ausmaß der Tristesse der letzten beiden Jahre vorstellen können, als der "Salud publica" auf der Insel gnadenlos alles untergeordnet wurde. Und man verschone mich jetzt bitte mit den COVID-geborenen Kultursurrogaten im Fernsehen, etwa in Form von Band-Auftritten, bei denen alle Musiker – im je nach dem gerade angesagten sozialen Abstand von 1,5 bis 2 m –, die keine Blasinstrumente spielten, Mund-Nasen-Masken trugen. Da bekam ich beim bloßen Hingucken Zustände. Nicht, dass wir uns hier falsch verstehen! Ich bin seit langem gegen SARS-CoV-2 vollständig geimpft. Trotzdem habe ich mich ein ums andere Mal gefragt: Wie abtörnend kann Volksgesundheit eigentlich sein?

Hoffnung kam auf, als man es dieses Jahr schaffte, (wenn auch eingedampft) "Jazz Plaza" auf die Reihe zu kriegen. Aber mein Schlüsselerlebnis war der runde Geburtstag des toten Santiago.

Unsere Freundin (die schon anfangs erwähnte) hatte sich zwei Stunden vor Einlass angestellt, um für ihren Mann und uns, die erst später von der Arbeit kamen, zu "markieren" und damit jedem einen Sitzplatz zu sichern. Die Casa des ICAP hat zwar viele Stühle, aber wir waren (oder wurden im Laufe des Abends) etliche Hundert. Die Veranstaltung begann – sehr wenig kubanisch – fast auf die Minute wie angekündigt. Angesichts all der Gitarrenbewehrten, wohin man auch blickte, beschlich mich als Begründung für diese untypische Pünktlichkeit schon bald der Argwohn: Dürfen/Sollen die wirklich alle singen?

Unser Guide durch den Geburtstag war Fidel Díaz. Als Musiker nicht direkt in der ersten Reihe, ist er als Moderator der "Nueva Trova", jener Musikrichtung, der auch Santiago Feliú angehört, eine lebende Legende.

Konzeptionell war vorgesehen, dass jeder Interpret maximal zwei Songs sang. Zunächst hielt man sich daran, später nicht mehr so.

Den Anfang machte Verónica Medina. Begleitet wurde sie von Alejandro Valdés, dem heute vielleicht besten akustischen Gitarristen auf der Insel, seit Rey Guerra nicht mehr da ist. Es folgte Juan Carlos Pérez, der in früheren Zeiten immer Stammgast bei den wöchentlichen Trova-Nachmittagen im "Egrem" von Centro Habana war. Die zotteligen langen Haare wie ehedem, und wie gewohnt alles an Emotion in seine Darbietung hineinlegend, brachte er uns Ansias del alba – ein erstes Highlight, das in Santiagos Album "Inmediato futuro" neben Micky e Mallory glänzte, dem Lied über die Charaktere aus Oliver Stones Film "Natural born killers". Sehnsucht nach der Morgenröte, wie der Titel übersetzt heißt, wurde von Beginn an unterschiedlich zugeordnet. Während die einen das Stück für ein an Kuba gerichtetes hielten, brachten es andere wiederummit der argentinischen Militärdiktatur in Verbindung. In Wirklichkeit jedoch galt es der Zapatisten-Bewegung in Chiapas, wie an dem magischen Abend aus bewegtem Bildmaterial hervorging, das den Sänger vor Ort, maskiert wie Subcomandante Marcos, zeigt.

Ein weiteres Cantautor-Schlachtross der Szene, Augusto Blanca, spielte Gitarre für die nicht minder bekannte Sängerin Rochy Ameneiro, die darüber hinaus von ihrem Sohn Rodrigo, einem jungen – hochbegabten – Pianisten begleitet wurde, der schon verschiedentlich jenseits der Grenzen Konzerte gegeben hat. Auch (als erst 17jähriger) im unfreundlichsten aller Länder und, wie es scheint, schon vor einiger Zeit, als es noch nicht Bedingung war, Dummheiten über Kuba zu erzählen, um dort der Gnade eines Auftritts teilhaftig zu werden.

Wen gab es noch? Ariel Díaz, Marta Campos, Eric Méndez. Unmöglich, alle aufzuzählen! Einige weitere haben wir nicht mehr in Aktion erlebt. Nach über drei Stunden war unser Bedarf gedeckt. Ob ebenfalls sehr populäre Musiker wie ángel Quintero (der ruhelos mit bereits ausgepackter Gitarre herumlief), Raúl Torres (Schöpfer des berühmt gewordenen, nur kurz nach dem Ableben des "Comandante en Jefe" mit Annie Garcés, Eduardo Sosa und Luna Manzanares aufgenommenen Cabalgando con Fidel), der mit noch umhülltem Saitengerät in geringem Abstand vor uns saß, sowie – ohne Instrument, seines ist die Stimme – Duani Ramos, seit wenigen Jahren der junge Frontmann der legendären Gruppe "Moncada", noch zu Ehren gekommen sind, vermag ich nicht zu sagen.

Manche spielten nur einen Song von Santiago und brachten als zweiten einen selbstverfassten über ihn zu Gehör. Oder ein ihm gewidmetes Prosagedicht. So etwas ist bei einer Hommage immer insofern etwas zwiespältig, als es den Verdacht aufkommen lässt, dass sich da jemand selber inszenieren will. Doch pauschal will ich das nicht behaupten. Damit täte ich vermutlich einigen bitter Unrecht.

Santiago Feliú war den ganzen Abend über so omnipräsent, durch seine Lieder, von anderen gesungen oder von ihm selbst (in Konzert-Mitschnitten auf der Leinwand), durch das ständige Bezugnehmen auf ihn, in Anekdoten oder in Poemen, durch sein vergrößertes Konterfei, als Standbild oder bewegt, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob, wenn der charismatische Santi quasi wie Orpheus aus der Unterwelt leibhaftig auf eine Stippvisite zu uns gekommen wäre, sich vor einen Mikrophon-Ständer gesetzt und uns ein paar seiner Stücke gebracht hätte, um hernach wieder zu verschwinden, es sehr vielen der Kulturdurstigen überhaupt aufgefallen wäre.

Wie relaxed das alles war! Nicht wenige im Publikum hatten schon deshalb ihre Gesichtshüllen abgestreift, um sich das gastronomische Angebot der "Casa de Amistad" zu Gemüte zu führen (im Wesentlichen irgendwas mit Pommes Frites als Beilage, das, wie ich annehme, nicht teuer war). Und wie faszinierend die geradezu notorische Qualität der Darbietungen! Man gewinnt den Eindruck: Diese Leute könnten überhaupt keinen falschen Ton singen oder spielen, nicht mal, wenn sie wollten. Das Schrägste, was wir auf Santiagos Party zu hören bekamen, war ein experimentelles Frauenduo aus Peru (Gitarre, Gesang und Cello), und selbst dieses war in seinem authentischen Bemühen um kulturelle Avantgarde interessant genug, um auch denen, deren Geschmack nicht so recht getroffen wurde, zumindest Respekt abzuverlangen.

Wir alle, die wir auf dieser verleumdeten, blockierten, drangsalierten und wunderbaren Insel leben, brauchen in all dem Müll, den das Ausland über uns ergießt, die Kultur wie die Luft zum Atmen. Hoch subventioniert war sie immer; daran haben auch schwerste Zeiten nie etwas geändert. Aber Kubaner brauchen sie zum Anfassen. Im Moment mehren sich Zeichen dafür, dass dieser Zustand zurückkehrt. Bleibt zu hoffen, dass die Tendenz sich als "sostenible" (nachhaltig) erweist.

CUBA LIBRE Ulli Fausten

CUBA LIBRE 3-2022