Die wirtschaftlichen Veränderungen in Kuba werden derzeit von einer breiten gesellschaftlichen Debatte begleitet. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage, ob es privater Formen der Produktion bedarf, sondern eher, wie diese sich zu den staatlichen Betrieben verhalten sollen.

Wir veröffentlichen an dieser Stelle einen Beitrag, der im Juli 2022 veröffentlicht wurde, aber seither nichts an Aktualität verloren hat. Geschrieben wurde er von Agustín Lage Dávila, dem ehemaligen Leiter des Centro de Inmunología Molecular, eines des bedeutendsten kubanischen Forschungszentren auf dem Gebiet der Biotechnologie. Der Autor gilt als einer der bedeutendsten Wissenschaftler Lateinamerikas und ist zugleich – Kuba macht es möglich – ein Revolutionär und Marxist. Seine Überlegungen zur Rolle der Technologie spiegeln einen spezifisch kubanischen Zugang zur Theorie des Sozialismus wider.

Tobias Kriele

Erst wissen, wohin – dann, wie man geht

Werte und Technologien in Kuba:

Eine Volksweisheit besagt: "Es ist besser, zu wissen, wohin und nicht zu wissen, wie, als zu wissen, wie und nicht zu wissen, wohin".

Der Kern der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Debatte in Kuba ist nicht technischer Natur, es geht um Werte.




Drei Generationen in einem Haus

Drei Generationen in einem Haus. Wie werden sie die Zukunft gestalten?
Foto: MiltonPoint / CC BY-SA 4.0 Deed



Wohin wollen wir?

Es reicht nicht aus, eine Bestandsaufnahme der zu lösenden wirtschaftlichen Probleme zu machen. Diese werden tagtäglich auf der Straße, in den Medien, in den Sozialen Netzwerken und an jedem beliebigen Ort diskutiert: Preise, Löhne, Angebot, der reale Wechselkurs, Wirtschaftsakteure, das Gleichgewicht zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Sektoren, die informelle Wirtschaft, die Durchführbarkeit der Planung, der Spielraum für die Autonomie der Unternehmen, die Reaktionsdynamik der staatlichen Stellen, das Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Wachstum, die notwendigen Veränderungen, die zu untersuchenden Wirtschaftsmodelle und vieles mehr.

Dies sind wichtige Themen, aber so wichtig sie auch sind – und das sind sie – wir dürfen nie vergessen, dass sie alle von einem größeren Thema durchzogen sind, nämlich dem Konsens über das Wertesystem, mit dem wir die heutigen Probleme analysieren und lösen müssen.

Yanis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister, drückte es ironisch aus: "...die Ökonomie ist keine Wissenschaft. Bestenfalls ist sie eine Art Weltanschauung mit Gleichungen". Die Wirtschaftswissenschaften enthalten zwar wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne von Regelmäßigkeiten und Regeln, die aus empirischen Daten aus der realen Welt abgeleitet werden, aber es stimmt auch, dass die Art und Weise, wie diese Regelmäßigkeiten interpretiert werden und wie sie zur Entscheidungsfindung herangezogen werden, in den ethischen Werten verwurzelt ist, welche die menschliche Gesellschaft leiten und in der wirtschaftspolitischen Debatten stattfinden. Sie finden nicht in einem politischen Vakuum statt, wie es etwa der Fall ist, wenn Physiker über das Gesetz der Schwerkraft oder über Elementarteilchen diskutieren.

Deshalb ist es unsere erste und große Aufgabe, den gesellschaftlichen Konsens darüber zu stärken, wohin wir mit den notwendigen Veränderungen in der Wirtschaft gehen wollen:

Lebensmittelindustrie in Holguín

Die Lebensmittelindustrie in Holguín profitiert von neuen Wirtschaftsakteuren wie den Konservendosenherstellern.
Foto: Lianne Fonseca / Trabajadores


- Wir wollen eine Wirtschaft, die, ohne uns von der Welt zu isolieren ("die Welt soll in unsere Republiken eindringen" ... sagte Martí), die nationale Souveränität stärkt, denn ohne sie werden wir nicht in der Lage sein, etwas Wirksames zur Verteidigung unserer Werte zu tun.

- Wir wollen eine Wirtschaft, die die soziale Gerechtigkeit aufrechterhält und entwickelt, denn ohne sie hätte nicht einmal die Existenz der Nation einen Sinn.

- Wir wollen eine solidarische Wirtschaft, ohne Ausgeschlossene und Unterprivilegierte.

- Wir wollen eine Wirtschaft, die die Spiritualität der kubanischen Kultur und die Universalität der Bildung schätzt, denn ohne sie würden wir in das "schwarze Loch" des Konsumismus und der Banalität fallen.

- Wir wollen eine High-Tech-Wirtschaft, weil dies die Art und Weise ist, in der Wissen mit Produktion und Dienstleistungen verbunden wird und einen Mehrwert für unsere Exporte schafft, und weil wir uns auf eine demografische Struktur zubewegen, die Produktivität mit älteren Arbeitnehmern und auch mit mehr Bildung erfordert

- Wir wollen eine Wirtschaft, deren wesentliche Hebel in den Händen des Staates als Repräsentant der Macht des Volkes liegen, denn ohne eine bewusst und strategisch zum Wohle aller geführte Wirtschaft wäre jede Demokratie inhaltsleer.


Vergeuden wir keine Mühe und keine Worte mit der Suche nach Synonymen: All dies heißt Sozialismus. Und die Menschen wissen es.

Ich erinnere mich an einen Vorfall in einer Debatte über die tägliche Wirtschaft in einem Park in Santiago de Cuba, wo die Kritik an (realen) Fehlern, Unzulänglichkeiten und Langsamkeiten von einem der Teilnehmer auf die Kritik an der Revolution selbst gelenkt wurde, was die anderen dazu veranlasste, aufzuspringen und in einem sehr Santiago-typischen Tonfall etwas zu sagen wie: "Wovon zur Hölle redest du... du kannst die Revolution nicht in Frage stellen". Die Menschen wissen, wo die Grenze zwischen fairer und notwendiger Kritik und der Aushöhlung von Werten verläuft.

Wie geht man vor?

Ausgehend von dem Konsens darüber, wohin wir mit der Wirtschaft gehen wollen, müssen wir auch darüber sprechen, wie wir dorthin gelangen, und dann kommen wir zu den technischen Fragen, zu den konkreten Aspekten der Veränderungen, die vorgenommen werden müssen, denn wenn wir die notwendigen Veränderungen nicht mit der notwendigen Dynamik vornehmen, können wir auf einem anderen Weg genau die Werte gefährden, die wir verteidigen.

Seit dem Beginn der revolutionären wirtschaftlichen Umwälzungen in den 1960er Jahren sind weitere 60 Jahre vergangen, und in der Zwischenzeit hat sich die Welt verändert.

Die Produktionsverhältnisse sind abhängig vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Karl Marx hat dieses Gesetz vor mehr als 100 Jahren entdeckt.

In den 1960er Jahren befanden wir uns noch in der so genannten "Zweiten Industriellen Revolution" (Massenproduktion, Fließband, Standardisierung der Produkte, fossile Energien, Elektrifizierung). Der erste Personalcomputer war noch nicht gebaut worden, ganz zu schweigen von den Netzwerken und dem Internet, deren Ausbreitung zur dritten industriellen Revolution führte. Und nun treten wir in die Ära der vierten industriellen Revolution ein: künstliche Intelligenz, massive Datenverarbeitung, Robotik, Biotechnologien, Nanotechnologien, additive Fertigung, neue Materialien, intelligente Energie, Sensoren in Maschinen, "intelligente Fabriken" usw.

Wenn wir im vorigen Absatz in der ersten Person Plural sagen "wir treten ein", bedeutet das, dass es für die Umgestaltung unserer Produktionsverhältnisse nicht ausreicht, den Entwicklungsstand der Produktivkräfte innerhalb unseres Landes zu berücksichtigen: Unser Wirtschaftssystem muss vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte in der Welt beeinflusst werden. Und zwar nicht aus banalem Streben nach Modernität oder wissenschaftlicher Eitelkeit, sondern, weil sich parallel zum technologischen Wandel der letzten 60 Jahre ein hoher Grad an Globalisierung der Wirtschaft entwickelt hat, der es einem Land unmöglich macht, sich ohne ein hohes Maß an Verbindung seiner Wirtschaft mit der Weltwirtschaft zu entwickeln.

Unternehmen werden im 21. Jahrhundert in einem schnelleren Tempo gegründet, entwickelt und sterben eher als im 20. Jahrhundert. Die Unternehmen des 21. Jahrhunderts verändern ihre Produkte und Dienstleistungen ständig entsprechend den technologischen Entwicklungen und der sich ändernden Nachfrage. In diesen Unternehmen ist die Kreativität der Arbeitnehmer (und nicht nur die Arbeits- und technologische Disziplin) der Hauptfaktor für die Produktivität. Produktionsprozesse und die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen finden nicht nur innerhalb der Unternehmensmauern statt, sondern werden häufig durch Produktionsketten und Partnerschaften mit anderen Akteuren innerhalb und außerhalb des Landes ergänzt; Partnerschaften, an denen zunehmend auch Akteure aus dem öffentlichen Haushalt beteiligt sind, wie z. B. Universitäten und wissenschaftliche Einrichtungen. Die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts verbindet die Wissenschaft direkt mit der Produktion und verwischt die operativen Grenzen zwischen dem Unternehmenssektor und dem behaushalteten Sektor.

Eine solche High-Tech-Wirtschaft, die auf Wissenschaft und Innovation basiert, ist schlecht geeignet für die Muster des Topdown-Managements, der Standardisierung von Verfahren und der kurzfristigen materiellen Planung, wie sie die Zweite industrielle Revolution Mitte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.

Diese Verfahren waren nie "ein Fehler": Sie haben auf dem damaligen Niveau der Entwicklung der Produktivkräfte gut funktioniert. Der Fehler wäre, sie auf die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts anwenden zu wollen.

Die wissenschaftlich-technische Entwicklung führt nicht automatisch zu wirtschaftlicher Entwicklung, wenn sie nicht von Innovationen im Management begleitet wird. Diese Kreativität in den Formen des Managements muss uns helfen, vier derzeit sichtbare Hindernisse auf unserem Weg zu beseitigen:

1. Die unzureichende Dynamik des Prozesses der Gründung neuer technologiebasierter Unternehmen.

2. Die Begrenztheit der finanziellen Schutzmechanismen während der Reifungsphase neuer Unternehmen.

3. Die Verwaltung kleiner und mittlerer staatlicher Unternehmen und ihre Tätigkeit unter "gleichen Bedingungen" wie die nichtstaatlichen Akteure.

4. Die Fähigkeit der Unternehmen, sich international zu integrieren, wobei die internationale Integration weit mehr ist als nur der Außenhandel.

Und all dies muss auf der Grundlage des sozialistischen Eigentums des gesamten Volkes geschehen, das laut unserer Verfassung (Artikel 24) "Güter mit strategischem Charakter für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung des Landes" umfasst.

Eigentum und Verwaltung

Private Produzenten

Private Produzenten erweitern schon lange das Angebot auf den Märkten.
Foto: radiohc.cu


Formen des Eigentums und Formen des Managements sind zwei sehr unterschiedliche Dinge.

Wir müssen innovativ sein, und zwar sehr innovativ, was die Formen des Managements unserer Unternehmen angeht, damit sie als Protagonisten der Entwicklung im wirtschaftlichen und technologischen Szenario des 21. Jahrhunderts immer effizienter werden. Das ist es, was es bedeutet, zu wissen, "wie man geht". Aber gleichzeitig müssen wir das sozialistische Staatseigentum aller Menschen entschlossen verteidigen, um die blühende, nachhaltige, sozial gerechte und solidarische Wirtschaft zu erreichen, die wir wollen. Das ist es, was es bedeutet, zu wissen, "wohin man gehen muss".


Es liegt auf der Hand, dass sich nicht alle Sektoren in gleichem Tempo in Richtung einer direkt auf Wissenschaft und Innovation basierenden Wirtschaft bewegen und auch nicht alle den gleichen Ausgangspunkt haben. Dieser Heterogenität muss Rechnung getragen werden.

Aber gerade wegen dieser unvermeidlichen Heterogenität sind die Sektoren und Unternehmen, die den Technologien der Vierten industriellen Revolution (über die wir verfügen) am nächsten stehen, selbst wenn diese noch nicht die wichtigsten in unserer Wirtschaft sind, dazu bestimmt, nicht nur Quellen der Innovation in ihren spezifischen Technologien (Software, Elektronik, Kommunikation, Automatisierung, Robotik, Biotechnologie und andere) zu werden, sondern auch Testfelder für neue Formen des Managements, die dann auf andere Sektoren übergreifen können.

Es gibt keine Rezepte oder "Handbücher" (und es sollte sie auch nicht geben), aber es besteht ein breiter Konsens über die Werte der Gesellschaft, die wir aufbauen wollen, und es besteht ein starker Wille, dies zu tun. Wir werden die Wege finden.

CUBA LIBRE Agustín Lage Dávila

CUBA LIBRE 4-2023