Alle gut und auf die gleiche Weise behandeln

Über den Einsatz kubanischer Ärzte in Süditalien
Von Pino Scarpelli (Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Italien-Kuba)

Die Desaster der kalabrischen Gesundheitsversorgung Fehlende Sozial- und Gesundheitsdienste;
Unwirksamkeit und Ineffizienz des Versorgungsnetzes; Misswirtschaft durch das Management; mangelnde Planung des Ausbildungsbedarfs beim Personal; aus dem Gleichgewicht geratene Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Sektor; mangelnde Demokratie innerhalb des Systems; schwerwiegende strukturelle und technologische Mängel; massive Lücken an öffentlicher Forschung im Dienst der Versorgung; perverse Logik bei den Ausgaben für Arzneimittel; fehlende Kontrolle der „liberalistischen“ Arbeit der Vorsteher der ehemaligen lokalen Gesundheitsämter (ASL); oft monokratisch, im Dienste der Vetternwirtschaft geführte Gesundheitsbehörden; gewerkschaftliche Organisationen, die bei einer Vetternwirtschaft zuschauen, die den Herren der Gewerkschaftskaste entgegenkommt; Auslagerung von Dienstleistungen entgegen einer vernünftigen Managementlogik; konstante Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse; und eine Managementpolitik, die kaum mit den lokalen Behörden interagiert.
Dies ist kurz zusammengefasst das Bild der Gesundheitsversorgung in Italien. Und wenn so das allgemeine Bild ist, kann man sich vorstellen, wie die Realität im Süden Italiens und speziell in Kalabrien aussehen muss.
Die Anfälligkeit unseres Gesundheitssystems und seine Unfähigkeit, jedem Bürger das Recht auf Versorgung zu garantieren, die am unteren Ende des Stiefels noch dramatischer zutage tritt, macht den Ruf nach einer Rückkehr zu einem öffentlichen, nationalen Gesundheitsdienst eigentlich unverzichtbar. Stattdessen haben wir zwanzig regionale Gesundheitsdienste, die fest in den Händen eines privaten Sektors sind, der kolossale Profite macht, und von einer politischen Klasse lausig verwaltet werden, die ihre Position und Macht daraus zieht.
Es wäre geboten, das Gesundheitswesen dem Heißhunger seiner derzeitigen Herren zu entreißen und es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben, nämlich der sozialen Gemeinschaft mit ihrem unveräußerlichen verfassungsmäßigen Recht auf Gesundheit!
Die Desaster infolge der Regionalisierung zahlreicher Kompetenzen und Dienste sind für alle sichtbar und der Prozess, der mit der unseligen Reform von Titel V der Verfassung begann, droht nun mit der Verabschiedung der so genannten differenzierten Autonomie und den damit einhergehenden Zerstörungen einen gewaltigen Sprung nach vorne zu machen. Aus Desastern werden sichere Katastrophen... und es wird schwierig sein, diese in den Griff zu bekommen.

Der Präsident von Kalabrien (rechts) mit dem Leiter der kubanischen Sanitätsbrigade.
Foto: Brigada Médica de Cuba en Calabria


Hinter dem Geschwätz verbergen sich immer gewichtige Eigeninteressen
Dabei geht es nicht nur um die Forderung nach der Bereitstellung ausreichender Mittel, sondern auch um die Kontrolle ihrer Verwendung. Es ist hinlänglich bewiesen, dass die Effektivität einer Sache von der Effizienz der Arbeit derjenigen abhängt, die über diese Mittel verfügen. Es ist in der Tat notwendig, aber nicht ausreichend, mehr Mittel zu fordern, aber gleichzeitig muss eine Organisation geschaffen werden, die in der Lage ist, angemessene und bestmögliche Antworten zu geben. Mittels der Erhebung des Gesamtpflegebedarfs, des sozialen, soziomedizinischen und medizinischen Bedarfs, der Planung der durchzuführenden Interventionen und der Terminierung vorrangiger Aktionen sollen gezielte, schnelle und im besten Fall entschlossene Antworten gegeben werden. Der Schutz der Gesundheit unserer Gemeinden ist weniger eine Frage bombastischer Erklärungen der amtierenden Regionalverwaltungen, der Oppositionen in den Regionalräten und der drei großen Gewerkschaften, die mehr darauf bedacht sind, mit dem einen oder anderen zu kungeln, als das Recht der Bürger auf Gesundheit zu verteidigen. Der Schutz der Gesundheit ist vielmehr eine Frage der Beteiligung und aktiven Mitwirkung des kompetenten Gesundheitspersonals (Ärzte, Sanitäter und Krankenpflegepersonal) und der ganzen Gemeinschaft bei der Nutzung und Verwaltung der Ressourcen. Aber in einem Bereich, der so reichhaltig und attraktiv für skrupellose Leute ist, ist Transparenz bekanntlich der größte Feind!
Die Verbesserung der bestehenden Instrumentarien und die Erhöhung der Zahl der in diesem Sektor tätigen Fachkräfte sind die wirklichen Prioritäten unserer lokalen Realitäten. Beides ist -jenseits des Geschwätzes, das wir uns täglich anhören müssen und dem die Medien nur allzu oft als Resonanzboden dienen, anstatt ernsthafte und gründliche Untersuchungen durchzuführen – unbeliebt bei denen, die das Gesundheitswesen zu einem Feld politisch-klientelistischer Macht und wirtschaftlichem Profit machen.
Es ist kein Zufall, dass der Irrweg des Numerus Clausus für den Zugang zu den medizinischen FaCUBA kultäten das große Tabu ist, gegen das niemand bereit ist, eine echte Kampagne zu führen – mit sehr teuren Vorbereitungskursen als Beilage, die in Italien mit dem Segen aller durchgeführt werden. Oder der Einsatz von „Ärzten per Knopfdruck“, also Ärzten, die von außerhalb der öffentlichen Strukturen herangezogen werden, um zu unerhörten Kosten strukturelle Personalengpässe zu überbrücken.
Der jüngst veröffentlichte SVIMEZ-Bericht über die Gesundheitsversorgung in Süditalien bekräftigt die äußerst kritische Situation. Und in Kalabrien ist es, wenn überhaupt möglich, noch schlimmer: Alle Zahlen hier sind negativ, die Probleme massiv: vom Netz der Notfallversorgung bis zu dem der Krankenhäuser, von der lokalen medizinischen Versorgung bis zu den peinlichen Wartelistenzeiten zeigt sich eine endlose Reihe an Schwierigkeiten, die nicht einmal der Gesundheitsbeauftragte für Kalabrien, der Präsident der Region, verheimlicht. Sie verursachen die extrem hohe Gesundheitsmobilität der Kalabresen in andere Regionen, die rund 300 Millionen Euro pro Jahr kostet.
Kubanischer Arzt operiert in Reggio Emilia.
Foto: Brigada Médica de Cuba en Calabria


Die üblichen Verdächtigen sind gegen den Einsatz kubanischer Ärzte
Und damit kommen wir zum Thema des Einsatzes kubanischer Ärzte in Kalabrien. Im Sommer 2022 wurde öffentlich die Idee aufgebracht, Ärzte aus Kuba anzufordern, und zwar mittels eines Abkommens, das ihre Anwesenheit bis 2025 vorsieht. Waren es anfänglich einige Dutzend, so arbeiten heute mehr als 300 kubanische Ärzte in Kalabrien. Man geht davon aus, dass es 500 werden sollen. Bereits die aktuelle Zahl ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass in unserer Region etwa 2.000 Krankenhausärzte tätig sind.
Die Nachfrage nach Ärzten in diesem Umfang wurde aufgrund der oben beschriebenen katastrophalen Situation unabdingbar: struktureller Mangel an Ärzten, Krankenpflegenden, medizinischem Personal, sogar an Krankenwagen und jeglicher Art von Material und Ausrüstung, an Sprechstunden und verschiedenen Diensten bis zum Zerfall von Einrichtungen und Krankenhäusern. Von den zahlreichen, in den letzten Jahren im Rahmen öffentlicher Bewerbungsverfahren ausgeschriebenen Stellen konnten nicht einmal 50 % besetzt werden, und zahlreiche Dienste hätten geschlossen werden müssen.
Und nun kommen wir zu den Widersprüchlichkeiten, die die Debatte in Kalabrien seit dem Sommer vor zwei Jahren immer noch prägen: Dieses Vorgehen wurde von einem Regionalvorsitzenden der Forza Italia, der zuvor auch wichtige parlamentarische Funktionen für diese politische Kraft innehatte, nachdrücklich gewünscht, aber sofort von der Mitte-Links-Opposition in Kalabrien und von der CGIL (Anm. d. Red.: einem nationalen Gewerkschaftsbund) abgelehnt, dessen Regionalsekretär Klarstellungen „über die Verwendung dieser Zahlen und die Einhaltung des nationalen Vertrags“ forderte (in Anspielung auf die Zahlungsmodalitäten und Arbeitsbedingungen, aber offensichtlich ohne Kenntnis der in Kuba bestehenden Arbeitsrechte und -kultur). Es ging so weit, dass ein Regionalrat des Partito Democratico (PD) von der sich äußerst besorgt zeigenden US-Botschaft in Rom vorgeladen wurde, um über die Vorgänge in Kalabrien zu sprechen. Seine Entscheidung, diese Dienststelle aufzusuchen, hat viel Erstaunen ausgelöst. Als ob ein Bürger oder ein Vertreter einer gewählten Institution in Italien die Pflicht hätte, einem ausländischen Staat über unsere inneren Angelegenheiten zu berichten!
Auch heute noch wird in regelmäßigen Abständen vergeblich versucht, das Geschehen zu behindern. Personen, die die mächtigen Kräfte des Sektors vertreten, die offensichtlich Vorteile und unakzeptable Privilegien aus einem Zustand ziehen, der alle Bürger benachteiligt, vor allem diejenigen, die weder unter dem Schutz einf lussreicher Persönlichkeiten stehen noch gut gefüllte Brieftaschen haben, die sie bei Bedarf öffnen können. Oft sind es Vertreter aus dem Einflussbereich des Partito Democratico (PD), die eine ebenso idiotische wie eigennützige Opposition führen, speziell der Präsident (seit gut 27 Jahren, sozusagen auf Lebenszeit!) der Ärztekammer von Cosenza mit seinen giftigen und wütenden Angriffen gegen die kubanischen Ärzte, von deren Anwesenheit er seit dem ersten Tag besessen zu sein scheint. Der letzte Angriff erfolgte vor einigen Wochen, als er mit scharfen, an Rassismus grenzenden Worten ihre Qualifikationen und Praktiken in Frage stellte, wobei er auf schändliche Art verschwieg, dass es sich um weltweit anerkannte Spezialisten handelte.
Solche Positionen, die heute immer mehr an Bedeutung verlieren, dürfen uns nicht überraschen. Im Gegenteil, es ist erstaunlich, wie die Kraft des Faktischen jede Kritik und Kontroverse überwältigt hat, trotz der Stärke der Potentaten, die sie zum Ausdruck gebracht haben. Es handelt sich um eine veritable Allianz zum Schutz der Sonderinteressen einer sehr kleinen Kaste, die es gewohnt ist, ihr eigenes Ding zu machen und das unantastbare Recht auf Gesundheit der Bürger zu missachten. Ein Kreis von Politikern, die das kalabrische Gesundheitssystem als Terrain für ihre vetternwirtschaftlichen Raubzüge genutzt haben, von angeblichen „Managern“, die enorme Kapital- und Humanressourcen nach ihrem Gutdünken verwaltet haben, von einigen Baronen, die die Öffentliche Daseinsvorsorge als Privatsache, als zu regierendes Lehen, verwaltet haben. Die Herren des privaten Gesundheitswesens, die an der Schließung und dem Zusammenbruch der öffentlichen Einrichtungen und Dienste interessiert sind; die Genossenschaften der „Ärzte per Knopfdruck“, die mit ihren Stundensätzen von 150 € erhebliche öffentliche Mittel abschöpfen: Sie alle haben im Laufe der Jahre nie die Stimme erhoben, um die herrschenden Zustände anzuprangern, sondern haben immer von den Notsituationen profitiert. Sie hatten auch nichts zu sagen, als sich Kalabrien im Corona-Winter 2020 in einer kritischen Situation befand, nicht wegen der Anzahl der Fälle, sondern wegen des Mangels an Plätzen in der Intensivpflege.
Danksagung der Stadtverwaltung von Rovito in der Region Kalabrien
Foto: Brigada Médica de Cuba en Calabria




Ob Lügen haben kurze Beine und die Fakten gewinnen
Natürlich hielt die Bösartigkeit den Tatsachen nicht stand. Der Beitrag der kubanischen Ärzte zum Gesundheitssystem Kalabriens ist zweifellos bemerkenswert: Ihre Professionalität, ihre Fähigkeiten, ihre Bereitschaft und ihr Einfühlungsvermögen bringen allen wesentlichen Strukturen und Diensten äußerst positive und nutzbringende Resultate, so dass in gewissen Fällen Schließung vermieden werden konnte. Ihre Anwesenheit wird von der lokalen Bevölkerung, den Konsumentenschutzverbänden, den lokalen Behörden, auf deren Gebiet sie arbeiten und den italienischen Kollegen, die angesichts der beschriebenen Bedingungen ihre Arbeit ernsthaft machen und mit denen ein ständiger Austausch von Wissen und Praktiken sowie eine berufliche Interaktion stattfindet, weithin und einhellig geschätzt.
Vor einigen Wochen wurde in „The Lancet“, der vielleicht wichtigsten medizinischen Fachzeitschrift der Welt, ein Bericht über den Beitrag kubanischer Ärzte zur Bewältigung der dramatischen Krise des kalabrischen Gesundheitssystems veröffentlicht, der von einer Gruppe unter der Leitung von Prof. Bruno Nardo, Professor für allgemeine Chirurgie an der Universität Kalabrien und Direktor der UOC für allgemeine Chirurgie am Krankenhaus von Cosenza, erstellt wurde.
Rubens Curia, ein kalabrischer Arzt und Sprecher der „Competent Community“, eines informellen Netzwerks von Verbänden und Bürgerkomitees, das sich u. a. für die Gesundheitsversorgung einsetzt, sagt dort: „Bei all den Kontroversen, die es gab, wäre der Teufel losgewesen, wenn auch nur eine Kleinigkeit schief gegangen wäre.“
Anfänglich als „frischer Wind“ bezeichnet, werden die kubanischen Ärzte heute allgemein als „unverzichtbar“ angesehen und sind in der Tat überall gefragt. Unterstützung, Begeisterung und Dankbarkeit begleiten sie – wenn auch in dem Bewusstsein, dass sie nicht die Lösung für strukturelle Probleme sein können, für fehlendes Management und mangelnde politische Planung, für den fehlenden Willen zu echtem Wandel und zum Bruch mit einer traurigen Vergangenheit, der Ressourcen und Transparenz erfordert.
Die Anerkennung und der Zuspruch für das, was in Kalabrien geschieht, führt dazu, dass andere Regionen Schritte unternehmen, um diese Fachkräfte auch zu nutzen.

Wie war das alles möglich? Es mag daran liegen, dass diese Ärzte aus Kuba kommen, wo seit mehr als 60 Jahren soziale Rechte im Mittelpunkt stehen und öffentliche Dienstleistungen dafür einstehen, diese zu gewährleisten. Oder vielleicht liegt es daran, dass, wie jemand sagte, „sie alle gut und auf die gleiche Weise behandeln“. In Kalabrien sind wir derlei nicht gewohnt. Und auch nicht im Rest Italiens.

Übersetzung:
Natalie Benelli/Tobias Kriele