Revolutionär sein in Kuba heute

Von Enrique Ubieta

Die diesjährige Feier zum Gedenken an den Sturm auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953 fand in Sancti Spiritus statt.
Foto: Dunia Álvarez Palacios
Was bedeutet es, revolutionär zu sein? Kenner des Marxismus wissen, dass sich die Sozialdemokratische Partei in ihren Anfängen gespalten hat: Die Reformisten, die sich immer weiter von den Vorstellungen von Marx entfernten, behielten den Namen, und die Revolutionäre gründeten die Kommunistische Partei. Die Kontroverse „Reform versus Revolution“ hat eine lange Geschichte. Dazu gibt es die Texte von Lenin, Rosa Luxemburg und anderen.
Aber die Definition oder die revolutionäre Option und ihre praktische Existenz sind nicht auf eine Partei oder eine soziale Klasse beschränkt, sondern auf eine Epoche. Denn die Bourgeoisie war zu ihrer Zeit revolutionär. Und die antikoloniale Bewegung in der Ära des Imperialismus hatte im Allgemeinen einen revolutionären Charakter. José Martí gründete den Partido Revolucionario, um die Unabhängigkeit Kubas zu erreichen, und man sagt, er habe von einer notwendigen Revolution gesprochen, die nach der Machtübernahme beginnen müsse.
Deshalb beziehe ich mich gerne auf die kubanische Tradition dieses Begriffs. (...)
Tatsächlich bedeutet Revolution Schöpfung, einen Sprung über den Abgrund oder über die Mauer der scheinbaren Unmöglichkeit: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche“, sagten die Pariser Studenten von 1968 (...), aber vor allem ist sie eine Parteinahme „für die Ärmsten dieser Erde“. Wenn wir José Martí als Vorbild für einen Revolutionär nehmen, finden wir bei ihm drei Eigenschaften, die sich bei Fidel Castro wiederholen:
1. Die ethische Entscheidung geht der theoretischen voraus: Eine Theorie ist dafür da, um gegen Ausbeutung zu kämpfen, und nicht umgekehrt. Es geht um eine Berufung zur sozialen Gerechtigkeit. „Jeder wahre Mensch muss auf seiner Wange den Schlag spüren, der die Wange eines anderen Menschen trifft“, schrieb Martí. „Der wahre Revolutionär wird von großen Gefühlen der Liebe geleitet“, bemerkte Ernesto Che Guevara. „Es ist genau der Mensch, der Mitmensch, die Erlösung seiner Mitmenschen, die das Ziel der Revolutionäre ausmacht“, sagte Fidel. (...)
Foto: ACN
Es gibt Revolutionäre, die sich in der marxistischen Theorie nicht auskennen. Und es gibt marxistische Akademiker, die jeden Text, jeden Satz von Marx kennen, aber nie auf die Straße gegangen sind, die unfähig sind, mit dem Schmerz oder der Freude anderer mitzufühlen, die nicht kämpfen; diese „marxistischen“ Akademiker sind keine Revolutionäre. Sie sind auch keine Nachfolger von Marx. Eine der wichtigsten Leit- und Triebkräfte der Revolution ist die Solidarität.
2. Die Radikalität im Verständnis und im Handeln; der Revolutionär sucht nach der Wurzel des Problems, auch wenn er sie nicht sofort ausmerzen kann, auch wenn er sich bei der Identifizierung irrt, und schreitet schnell zur Tat. Im Gegensatz zum Reformisten versucht er nicht, den Schmerz zu lindern oder zu verschleiern, sondern die Krankheit zu beseitigen.
3. Der Revolutionär ist ein Mensch des Glaubens. Nicht im religiösen Sinne. Nichts drückt dies besser aus als die Widmung, die Martí (wieder einmal Martí) seinem Sohn in seinen Gedichtband Ismaelillo schrieb: Ich habe, sagt er, „Glauben an die Verbesserung des Menschen, des Leben in der Zukunft, an den Nutzen der Tugend und an dich“. Glauben an das Volk, an seine Fähigkeiten. Der Revolutionär versteht die scheinbaren Grenzen des Möglichen und überschreitet sie, weil er an das Volk glaubt. Darin unterscheidet er sich auch vom Reformisten, der aus Klassengründen dem Volk misstraut oder es unterschätzt. Glauben bedeutet nicht, Zweifel auszublenden; wir Revolutionäre leben mit der Angst vor dem Zweifel, die mit dem Wissen einhergeht. Der Zyniker hingegen ist ein Konterrevolutionär, auch wenn er es nicht weiß.
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Bestimmte ethische Eigenschaften oder Tugenden bilden das Fundament oder die Grundlage, auf der ein Revolutionär steht. Aber es handelt sich um eine im Wesentlichen politische, soziale und nicht private Ethik, die sich nicht von den grundlegenden Widersprüchen der Zeit lösen oder entleeren lässt. Man ist nicht in Bezug auf persönliche Interessen revolutionär, sondern gegenüber der Gesellschaft. Es gibt konservative Menschen – aus biografischen Gründen, vielleicht sogar aus genetischen Gründen –, die abrupte Veränderungen und die Ungewissheit des Neuen ablehnen und die Ordnung und die Routine genießen. Sie sind deshalb nicht konterrevolutionär. (...)
Revolutionär zu sein bedeutet, zur Stärkung der revolutionären Regierung beizutragen, eine gemeinsame Front mit dieser Regierung zu bilden, um jede Errungenschaft zu verteidigen und neue Ziele zu setzen, auch wenn der Grad der Beteiligung an der Festlegung dieser Ziele noch unzureichend ist oder nur formal ausgeübt wird. Die sozialistische Demokratie, in ihrem Wesen überlegen, hat noch einen langen Weg vor sich. Revolutionär zu sein bedeutet auch, sich mit engagierter Kritik einzubringen. Kritisieren heißt nicht, eine Tatsache festzustellen, sondern auf sie einzuwirken, sie zu einer Lösung zu führen. Was einer Kritik Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit verleiht, ist nicht die festgestellte Tatsache, sondern ihr Sinn. Wenn Kritik ideologiefrei gemacht wird, wird sie ausgehöhlt und ihre Aussagen werden verfälscht.
Unmerklich findet ein langsamer Prozess der Abkopplung oder des Einkochens des „rebellischen“ Inhalts statt, welchen jede revolutionäre Haltung voraussetzt. Das ist nicht gut. Dann kommen diejenigen, die die Rebellion hochhalten und sie dem revolutionären Wesen entgegenstellen – ein altes Bestreben der imperialistischen Subversion: die antirevolutionäre Rebellion zu fördern, was bedeutet, dass die Rebellen Anti-Rebellen sein sollen, dass sie danach streben, „normal“ zu sein, unzufrieden mit der Rebellion und zufrieden mit der globalen Entfremdung – oder, auf der anderen Seite, diejenigen, die glauben, dass das Rebellische das wahrhaft Revolutionäre ist.
Foto: Dunia Álvarez Palacios
Letztere können die Orientierung verlieren, denn die abstrakte Rebellion, die gewöhnlich vom kapitalistischen Markt manipuliert wird, hat eine lange Geschichte des Zusammenlebens und manchmal sogar der Komplizenschaft mit dem Kapitalismus. Jugendliche Rebellion ist nicht und kann nicht der revolutionäre Geist sein; revolutionär zu sein ist die höchste Form der Rebellion. Ohne die von der Rebellion geförderte Nonkonformität und ohne ihre Bereitschaft, Formen, Normen und Schemata zu durchbrechen, ist es schwierig, revolutionär zu sein.
Die kubanischen Universitäten können nicht „von oder für Revolutionäre“ sein, sie sind Bildungsstätten; sie müssen jedoch Revolutionäre hervorbringen. Aus ihren Hörsälen gingen Mella und Fidel hervor. Der Kapitalismus (die Kultur des Habens) versucht, die Rebellion zu zähmen, indem er ihre primären Formen fördert: Missachtung, Respektlosigkeit; er versucht, den Rebellen zu isolieren, ihn auf sich selbst zu konzentrieren, seinen individualistischen Ausdruck maximal auszubeuten und ihn in einen Zyniker zu verwandeln. Der Sozialismus (die Kultur des Seins) versucht, diese Rebellion in transformatives Handeln zu lenken, ihr Großbuchstaben zu geben, sie an den gerechtesten Anliegen ihrer Zeit teilhaben zu lassen.
Ich lebe im Stadtteil Colón in Centro Habana, und viele Menschen in meinem Umfeld haben mit konkreteren und unmittelbareren Feinden zu kämpfen als dem US-Imperialismus, zumindest scheint es so, wenn Korruption, Bürokratie, Doppelmoral, Gleichgültigkeit und eine „Rette sich, wer kann“-Mentalität vorherrschen. Ich glaube wie sie, dass dies der Hauptfeind ist.
Aber wir dürfen seinen Namen nicht verwechseln: Es handelt sich um den Kapitalismus, um seine Fähigkeit, sich innerhalb des Sozialismus zu regenerieren, der nichts anderes ist als ein Weg (kein Ziel) zu einem anderen Ort, zu einer anderen Hoffnung oder Gewissheit auf ein besseres Leben. Wenn wir diesen Namen von diesen Erscheinungsformen trennen oder ihn fälschlicherweise mit dem sozialistischen Weg, den wir eingeschlagen haben, in Verbindung bringen, verlieren wir die Orientierung. Wir können heute, in dieser globalisierten Welt, keine Revolutionäre sein, wenn wir nicht antikapitalistisch sind, wenn wir nicht antiimperialistisch sind. Wenn wir die Errungenschaften, die Gefahren, die Demütigungen anderer Völker nicht als unsere eigenen empfinden. Wenn wir nicht die Einheit der kubanischen Revolutionäre und der lateinamerikanischen Völker gegen den Imperialismus verteidigen.
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Man muss jeden Morgen, jeden Tag als Revolutionär geboren werden. Rollen sind weder vorbestimmt noch unveränderlich: Der Held von 1868 konnte zwanzig Jahre später zum Verräter werden; der Unentschlossene von damals hat vielleicht 1895 mit Würde zu den Waffen gegriffen; der tapfere Krieger aus dem Dschungel konnte sich von der korrupten neokolonialen Politik verführen lassen; der energische Gegner Machados konnte von seinen Jugendidealen enttäuscht sein oder zu einem professionellen Gewalttäter werden; der Revolutionär aus den Bergen oder der Ebene konnte sich einrichten oder sich in den Netzen der Bürokratie verstricken; der Skeptiker jener Tage konnte sich in einen glühenden Milizionär, in einen unsichtbaren Helden des Alltags verwandeln; der Jugendführer, der sich auf den Balkon des korrekten Betragens und des Beifalls gestellt hatte, konnte zum Nachplauderer leerer Parolen werden, und der rebellische Kopf konnte als solcher wachsen, bis er zum Revolutionär wurde.
Zwischen ihnen verstecken sich die Opportunisten, die „Pragmatiker“, die Zyniker, die schon immer da waren. Alle sind sie von der Geschichte geprägt, und von ihren vielfältigen Taten bleibt nur der Moment der begründenden Ethik, der das Vaterland stützt: „die Sonne der moralischen Welt“, die die Menschen erleuchtet und definiert, wie Cintio José de la Luz y Caballero zitiert. Ein Vaterland, das die Menschheit umfasst, das nicht im „Gras, das unsere Füße betreten“ oder in sich ständig weiterentwickelnden Bräuchen liegt, sondern in einem kollektiven Projekt der Gerechtigkeit. Ein Vaterland, das danach strebt, mit der Menschheit zu verschmelzen, und das in der Zwischenzeit seinen Raum verteidigt, um aufzubauen, zu schaffen und die volle Würde seiner Männer und Frauen zu schützen.

Übersetzung: Tobias Kriele