Kuba und der Sozialismus
Von Günther Pohl
Wie können wir den sozialistischen
Weg Kubas so betrachten,
dass wir dialektischen Maßstäben
gerecht werden – ihn also einordnen
in die jeweilige geschichtliche
Situation, deren Verständnis geeignet
ist, gleichzeitig die Aktivitäten
des Landes zu seiner Festigung
und zur Anpassung an die Lage in
der Welt und im Land selbst wie
auch die zerstörerischen Aktivitäten
des Gegners zu erklären?
Wiewohl örtliche Voraussetzungen
ein Sozialismusmodell individuell
prägen können, so bleiben
die Produktionsverhältnisse
der
unverrückbare inhaltliche Kern.
Deshalb gilt es im Fall Kubas einerseits
nichtmaterialistische
Besonderheiten
zu beachten (Rolle von
Fidel Castro, Camilo Cienfuegos,
Raúl Castro oder Che Guevara; regionale
Eigenheiten Lateinamerikas;
die weltweite Solidarität). Andererseits
müssen a) aus dem wissenschaftlichen
Sozialismus kommende,
grundsätzliche materialistische
Bedingungen (gesellschaftliche
Produktionsmittel, Ressourcen
und Finanzwesen weitgehend
in staatlicher Hand; politische als
auch faktische Macht bei der Arbeiterklasse;
Überwindung der
Warenproduktion) und b) eng mit
dem historischen Materialismus
verknüpfte, aber auf Kuba bezogene
Bedingungen (revolutionäre
Umgestaltung in einem Land mit
nicht entwickeltem Kapitalismus,
eine da schon existierende sozialistische
Staatenwelt) berücksichtigt
werden. Kubas Insellage sowie
seine geografische Nähe zur imperialistischen
Hauptmacht sind
hingegen gleichzeitig idealistische
als auch materialistische Besonderheiten.
„Wenn das Proletariat im Kampfe
gegen die Bourgeoisie sich notwendig
zur Klasse vereint, durch eine
Revolution sich zur herrschenden
Klasse macht und als herrschende
Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse
aufhebt, so hebt
es mit diesen Produktionsverhältnissen
die Existenzbedingungen des
Klassengegensatzes, die Klassen
überhaupt, und damit seine eigene
Herrschaft als Klasse auf.“
In einem einzigen Satz beschreiben
Marx und Engels den Weg vom
Kapitalismus über den Sozialismus
zum Kommunismus.
„Der Kommunismus, das Einfache“,
hielt Brecht fest und ahnte
doch: „das so schwer zu machen
ist“.
Was waren die Entwicklungen,
die die Klassiker nicht voraussehen
konnten?
a) Um 1900 der Imperialismus
durch die Entstehung der Monopole
aufgrund von Produktionskonzentration
(und infolgedessen
die Verschmelzung von Bank- und
Industriekapital zu Finanzkapital)
als ein Gegner, der im Gegensatz
zum allgemeinen Kapitalismus
des 19. Jahrhunderts für seine
Entwicklung kaum andere Optionen
als die aggressive Expansion
hat.
b) Mit der Oktoberrevolution
der Umstand, dass sich der Sozialismus
mit Russland nur in einem
Land – noch dazu mit nichtentwickeltem
Kapitalismus – durchsetzte.
c) Ab etwa 1920 in der entstehenden
Sowjetunion die Notwendigkeit
einer ersten Korrektur sozialistischer
Maßnahmen mit dem
Ziel, diese durch notwendige private
Elemente überhaupt verteidigen
zu können (Neue Ökonomische
Politik).
d) Mit Italien 1922 und Deutschland
1933 der Faschismus mit seiner
Vorspiegelung einer Volksgemeinschaft,
um den Klassencharakter
der Gesellschaft zu verschleiern
– also ein Teilverlust der
Arbeiterklasse, der bis heute nachwirkt.
e) Mit den Ergebnissen des Zweiten
Weltkriegs die Gründung der
UN und einer UN-Charta wie auch
die Ausweitung der sozialistischen
Staatengemeinschaft – aber ebenfalls
die Entwicklung der Atombombe
als ständige Bedrohung
des Sozialismus mit der Möglichkeit
der Auslöschung des menschlichen
Lebens insgesamt.
f) In den 60er Jahren die nahezu
weltweite Entkolonialisierung
und revolutionäre Bewegungen in
Lateinamerika, aber auch die Anerkenntnis
des Sozialismus als „relativ
selbständige sozialökonomische
Form“ (Walter Ulbricht 1967)
statt einer kurzen Übergangsphase
hin zum Kommunismus.
g) 1989 bis 1991 der Scheinsieg
des Imperialismus, womit nur
noch wenige Länder mit sozialistischer
Ausrichtung verblieben.
h) Das in der aktuellen Phase
des „Kapitalozän“ immer deutlicher
werdende, übergreifende Problem
des Klimawandels, den wenige
verursachten, mit dem aber
alle umgehen müssen. Der Sozialismus
wird zur Bedingung für das
Überleben der Menschheit; gleichzeitig
ist er durch die Verursacher
des Desasters zumindest in ihrem
Wirkungskreis effektiv diskreditiert.
  
    
      
         
        Dem Neuen aufgeschlossen sein, ohne die Kontrolle abzugeben.
 Foto: Günter Pohl  
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Alle diese Faktoren wirkten auf
Kuba bis heute ein, das im 19. Jahrhundert
mit Manuel de Céspedes
und José Martí seine nationale Befreiung
anging und mit dem Aufstand
der Revolutionäre um Fidel
Castro 1953 letztlich 1961 den sozialistischen
Charakter der Revolution
ausrufen konnte. Fast von Beginn
an wurde die Revolution von
einer langanhaltenden, kriminellen
Blockade seitens der USA begleitet.
Doch die Kubanische Revolution
widersteht ihr bis heute
erfolgreich und durchlief dabei
drei Phasen der internationalen
Beziehungen: Bis 1990/91 Einbeziehung in die sozialistische Welt;
dann war das Land für gut zehn
Jahre weitgehend auf sich allein
gestellt (mit der Folge, dass die Bedeutung
von Sanktionen und der
Blockade noch zunahm); ab etwa
2000 ergab sich eine Ausweitung
der Beziehungen zunächst zu Venezuela
und den aufkommenden
Linksregierungen der Region mit
einem parallelen, weltweiten Aufbegehren
gegen den Unilateralismus
mit folgender Aufwertung des
Multilateralismus.
Kuba war (vor Laos) das vorletzte
Land, das sich zum Sozialismus
hinwendete und bleibt vorerst das
einzige in der amerikanischen Geschichte.
Ähnlich dem rückständigen
Russland in Europa war auch
Kuba in Amerika für den Aufbau
des Sozialismus ein strategisch
eher unattraktiveres Land, und im
Vergleich mit Russland kam außerdem
Ressourcenmangel hinzu.
Aber die Revolution setzte sich
durch, und wie bei den anderen
(auch den abgewickelten) sozialistischen
Staaten sind in Kuba drei
von vier grundlegenden Kriterien
für den Sozialismus erfüllt: Ausübung
der politischen Macht durch
die KP und der mit ihr verbundenen
Massenorganisationen als Ausdrucksform der organisierten
Arbeiterklasse; dadurch die Macht
über Legislative und Exekutive;
Aufbau der Gesellschaftsform auf
dem gesellschaftlichen Eigentum
an allen wichtigen Produktionsmitteln,
den Naturressourcen und den
Finanzinstituten. Von einer Überwindung
der Warenproduktion,
in der Arbeitsprodukte zu Waren,
Geld und Kapital werden, die sich
vom Produzenten verselbständigen
und den Produzenten vom Produkt
entfremden, kann dagegen in
allen (auch den ehemaligen) sozialistischen
Staaten nur partiell die
Rede sein.
2024 gab es über 11 000 kleine und mittlere Unternehmen, zweitausend
mehr als im Jahr zuvor. Die Zahl der Genossenschaften sank
leicht auf 5 100; es gab einhundertzehn Joint-Ventures. Die Zahl der
die Wirtschaft nach wie vor dominierenden Staatsbetriebe lag auch
2024 bei gut 5 000. Bei den Beschäftigungsverhältnissen sah es 2023
umgekehrt aus: Fast zwei Drittel waren bei staatlichen Betrieben beschäftigt,
ein Drittel bei den KMU, privaten Bauern oder Genossenschaften.
Obwohl es bis 1990 viele Staaten
gab, die sich als „realsozialistisch“
bezeichneten, sieht sich Kuba (wie
auch Laos, China oder Vietnam)
heute als „auf dem Weg zum Sozialismus“
befindlich. Für Lenin ist
der Begriff Sozialismus in der Tat
nicht nur eine wissenschaftliche
Definition, sondern auch politischer
Kampfbegriff: „Die Bezeichnung
„Sozialistische Sowjetrepublik“
bedeutet die Entschlossenheit
der Sowjetmacht, den Übergang
zum Sozialismus zu verwirklichen,
keineswegs aber die Anerkennung
der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse
als sozialistisch.“ Das erklärt,
warum Solidaritätsbewegung und
kubanische Regierung die vom
„sozialistischen Kuba“ sprechen,
während bei der KP Kubas heute
gleichzeitig vom „Weg zum Sozialismus“
die Rede ist.
Mit der Gründung der PCC 1965
entwickelte sich auf Kuba der Begriff
des Marxismus-Leninismus
(einer Ideologie), was mit der letzten
Verfassungsänderung 2019 zu
„marxistisch und leninistisch“ (einer
Politikentwicklung) abgeändert
wurde; entsprechend wurde
die 1976er Formulierung des
„Staats der Arbeiter“ zu „Staat der
Bürgerinnen und Bürger“ abgeändert.
Die Bedeutung von José Martí
und von Fidel Castro – und damit
die Einheit der Gesellschaft für den
Erhalt staatlichen Souveränität –
wurden unterstrichen. Der Sozialismus
wurde festgeschrieben,
gleichzeitig erhielten aber auch privatwirtschaftliche
Elemente Verfassungsrang:
„In der kubanischen
Republik herrscht ein sozialistisches
Wirtschaftssystem basierend auf
dem Volkseigentum der grundlegenden
Produktionsmittel als vorherrschende
Eigentumsform sowie der
geplanten Leitung der Wirtschaft,
die den Markt im gesellschaftlichen
Interesses berücksichtigt, ihn reguliert
und kontrolliert.“
Lenin wusste ein Jahrhundert
zuvor: „Ein langwieriger und komplizierter
Übergang von der kapitalistischen
Gesellschaft (und zwar
desto langwieriger, je weniger entwickelt
sie ist), ein Übergang auf
dem Weg der sozialistischen Rechnungsführung
und Kontrolle ist
notwendig, um auch nur zu einer
der Vorstufen der kommunistischen
Gesellschaft zu gelangen.“
Die notwendigen Anpassungen
an äußere Faktoren begannen
bald nach dem Sieg der Revolution.
Unvermeidlicherweise engte
die strikte Einbindung in den Rat
für gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW) ab 1972 die Lenkungsmöglichkeiten
etwas ein, wobei zu berücksichtigen
ist, dass die damit
einhergehende Prosperität Korrekturen
nicht eben sinnvoll erscheinen
ließen. 1986 gab es dann
mit der „Rectificación“ eine erste
Fehleranalyse; ihr folgten mit
und nach den Krisenjahren ab
1991 verschiedene Wendungen, die
aber nötigenfalls jeweils korrigiert
wurden. Einer Ausweitung des
seit 1960 bestehenden Genossenschaftssystems
– einer Form des
Privatbesitzes, die allerdings einfacher
in die sozialistischen Strukturen
von Steuerung und Kontrolle
eingebunden werden kann als in
Einzelbesitz befindliche Privatbetriebe
– folgte bis heute ein zuweilen
zu-, dann wieder abnehmendes
„Arbeiten auf eigene Rechnung“
(Klein- bis Kleinstbetriebe mit
und ohne Beschäftigte) und eine
Zunahme der Zahl regelrechter
Privatbetriebe, die heute zum Teil
Waren importieren können.
Präsident Miguel Díaz-Canel
sagte Anfang Mai 2025: „Wir müssen
dafür sorgen, dass der nichtstaatliche
Sektor stärker an der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung
des Landes teilnimmt und
in die Entwicklungsstrategien in der
Provinz und in den Gemeinden sowie
in den nationalen Plan für wirtschaftliche
und soziale Entwicklung
einbezogen wird.“ Die Zahlen
der Parlamentssitzung vom
Juli bestätigen den Kurs. Es ist
kurzfristig also eher nicht mit einer
Zurückdrängung des Privatsektors
zu rechnen, denn Kuba reagiert
korrekt auf die Tatsache, zu
einer heterogenen Welt zu gehören:
Die Annahme, es könne sich
unter Verzicht auf eine schöpferische
Anwendung von langjähriger
(am besten friedlicher) Koexistenz
mit kapitalistischen Staaten,
die für eigene Wertschöpfung einen
Warenaustausch unvermeidlich
macht, über Wasser halten, ist
falsch. Selbst zu RGW-Zeiten (der
nach Fidel aufgrund der solidarischen
Unterstützung „eigentlichen
Sonderperiode“ eines Drittwelt-
Landes, das sich entschließt, eigenständig
über seine Ökonomie zu
entscheiden) gab es im Agrarsektor
private Elemente, die ab Mitte
der 80er Jahre und dann nach
dem Ende der Sowjetunion 1991
vorsichtig erweitert wurden. Das
Land hat dabei – in einem mittlerweile
längeren Zeitraum ohne
UdSSR und RGW als mit deren Hilfe
– nachgewiesen, dass es die Dialektik
von bestimmender Rolle der
Kommunistischen Partei und politischem
Willen für eine sozialistische
Gleichheit des Volkes konkret
auszugestalten weiß. Dieses
dialektische Herangehen an das
unvermeidliche Wechselspiel notwendiger
Änderungen und Korrekturen
irrtümlich gegangener Wege
ist eine der großen Stärken im kubanischen
Gesellschaftssystem.