Atrévete! – Trau dich!

Reise zu den Moncada-Feierlichkeiten in Santiago de Cuba

Von Tatjana Sambale

Santiago de Cuba am 26. Juli
Foto: Tatjana Sambale
In der Abflug-Wartehalle des Aeropuerto Internacional José Martí in Havanna läuft auf einem großen Bildschirm ein Tourismus-Werbefilm in Dauerschleife. „ Atrévete!- Trau dich!“. Mit diesen Worten endet eine Abfolge makelloser Bilder voller kubanischer Sandstrände, Hotelanlagen und Menschen. Dabei drängt sich fast automatisch die Frage auf: Trau dich ... was genau? Hierher nach Kuba zu kommen? Hier zu sein? Hier zu bleiben? Hier (weiter) zu kämpfen?
Hinter uns sechs Menschen, die wir in Havanna auf den Rückflug in die harte, regnerische, deutsche Wirklichkeit warten und dabei diesen nachdenklich stimmenden Werbefilm sehen, liegen knapp drei Wochen Solidaritätsbesuch in Kuba. Ziel der Reise: Santiago de Cuba im Osten der Insel. Den „Umweg“ über Havanna machen wir Mitte Juli, da es seit Sommer 2025 keine internationalen Flugverbindungen mehr nach Holguín gibt. Zwar ist die kubanische Regierung bestrebt, diese Lücke mit Hilfe der Fluggesellschaft Cubana zu schließen. Doch auch hier liegen, wie bei sehr vielen anderen Projekten auch, zwischen „Wollen“ und „Ziel“ einige Hürden, die bis jetzt noch nicht überwunden werden konnten. Die Mitglieder unserer Reisegruppe sind ver.di- Mitglieder und auch darüber hinaus politisch interessiert und engagiert. Über gewerkschaftliche und freundschaftliche Verbindungen gibt es schon länger Kontakte nach Santiago und diese wollen wir im Rahmen unseres Besuchs anlässlich der Feierlichkeiten zum „26 de Julio“ ausbauen und vertiefen. Aufgrund der allgemein als schwierig angesehenen Transportsituation haben wir neben unseren 13 Koffern Spendengepäck vor allem eins mitgebracht: viel Zeit. Wir rechnen mit einer knappen Woche Anreise nach Santiago, einer guten Woche Treffen, Gespräche, Feiern und Austausch mit den Genossinnen und Kolleginnen vor Ort und einer knappen Woche Rückreise.
Der Fokus unserer Vorbereitungen vor unserer Abreise lag auf der Organisation von medizinischem Material und medizinischen Produkten. Natürlich fand auch das eine oder andere Kuscheltier und Buntstifte-Set den Weg ins Gepäck, da ein Kinderkrankenhaus und eine Schule auf unserem Programm standen. Aber erreicht hatte uns im Vorfeld vor allem die dringende Bitte nach Medikamenten und Zubehör aller Art, insbesondere Schmerzmittel und Antibiotika. Es war bewegend zu sehen, wie viele Kolleginnen und Kollegen aus dem ver.di-Fachbereich, befreundeten Organisationen und Gewerkschaften über ein halbes Jahr vor unserer Abreise in der Folge derartige Spenden sammelten und uns mitgaben. Auch einige Geldspenden konnten wir in freiverkäufliche Medikamente wie Ibuprofen investieren und mitnehmen.

Hände weg vom BTM!
Der Unterstützungswille und die Solidarität vieler der Freunde und Genossinnen war bemerkenswert, so dass wir schließlich nicht durch die Bereitschaft zu spenden, sondern ausschließlich durch unsere Fähigkeit mit sechs Leuten nur eine gewisse Anzahl Koffer transportieren zu können, limitiert wurden. Mehrfach haben wir uns bei verschiedenen Quellen über die Einfuhrmodalitäten für Medikamente informiert. Aktuell gilt, bei vierteljährlicher Überprüfung und gegebenenfalls Erneuerung dieser Regel: Auch als Privatpersonen gibt es mit Blick auf die Menge keine Einfuhrbeschränkungen von Medikamenten und Zubehör. Das gilt auch für Infusionssets oder Verbandsmaterial. Kontrolliert werden kann durch den kubanischen Zoll bei Einreise dennoch intensiv, und zwar, ob verbotenerweise Betäubungsmittel wie Fentanyl, MO oder Oxycodon eingeführt werden sollen. Dazu werden die mitgebrachten Medikamente auf Präparatsname und Wirkstoff geprüft. Die Einfuhr verbotener BTM wird als Drogenvergehen geahndet und ist deshalb dringend zu unterlassen. Verschreibungspflichtige Schmerzmittel ohne BTM-Rezept wie Tilidin oder Tramadol stellen hingegen kein Problem dar.

Warten auf die Feierlichkeiten zum 26. Juli
Foto: Tatjana Sambale
Mit Viazul on Tour
Ebenfalls problemlos verlief unsere Weiterreise mit dem ViazulÜberlandbus. Die Buchung unserer Tickets erfolgte vor Ort am Viazul-Schalter der Busstation mittels Internet und Mastercard (mit online-Verifizierung). Ohne es selbst ausprobiert zu haben: Unsere Einschätzung war, dass der Buchungsvorgang auf viazulwetransp. com auch ohne persönliches Erscheinen am Schalter möglich sein müsste, da durch die Kollegin am Schalter auch nichts weiter geschieht, als die Internetseite aufzurufen, die Passnummern einzugeben und den Bezahlvorgang per Kreditkarte einzuleiten. Im Anschluss erhält man eine Buchungsbestätigung per Mail, die am Tag der Abreise beim Einchecken in ein Papierticket umgewandelt wird. Hat man die technischen Möglichkeiten, so sollte das den Vorab-Gang zur Busstation für die Ticket-Buchung überflüssig machen. Wer sichergehen will, kann aber natürlich weiterhin am Viazul-Schalter der Busstation buchen. Die für uns wichtigste Info war: Auch wenn die Situation des Individualverkehrs mit Autos aufgrund von Treibstoffengpässen in Kuba weiterhin angespannt ist, so fahren trotzdem alle Überlandbusse zur Verbindung der größeren Städte wie Matanzas, Santa Clara oder Camaguey zuverlässig und regelmäßig zwei bis dreimal am Tag. Am Busbahnhof herrschte reger Betrieb – sowohl bei den Viazules als auch bei den Ómnibus Nacionales für Kubanerinnen und Kubaner.

Santiago de Cuba
Nach 22 Stunden Busfahrt kamen wir pünktlich und erwartungsvoll mitten im Karnevalstrubel in Santiago an. Unser erster Abend war geprägt von lauter Reggaeton-Musik, Conga-Tänzen, jeder Menge ausgelassen feiernder Menschen und dem Duft unüberschaubar vieler Essensstände. Menschen jeden Alters und jedes Phänotyps bewegten sich ausgelassen, tanzend und schlemmend durch die Straßen, genossen das Treiben und wir mittendrin. Was wir dort sahen stand in geradezu groteskem Kontrast zu den Reisewarnungen des deutschen Auswärtigen Amtes und einiger Internet-Beitrage, die eine unleugbar vorhandene, angespannte Versorgungslage zu Katastrophenszenarien hochstilisieren. Auch so geht Klassenkampf.
Einige Tage später lernten wir im „Museo de Historia 26 de Julio“ in der Moncada-Kaserne viel über die Begleitumstände dieses berühmten Aufstandes und den Sturm auf die Moncada-Kaserne. So auch, dass die Kämpfenden um Fidel im Juli 1953 bewusst die Tage des Karnevals für ihren Angriff gewählt hatten, um ihre Anreise aus allen Teilen des Landes zu tarnen und von der Abgelenktheit mancher Wachposten im Zuge der Feierlichkeiten zu profitieren. Wie sehr deshalb der Karneval die Zeit Ende Juli und damit auch die Feierlichkeiten zum 26. Juli bis heute in Santiago prägt, konnten wir nun hautnah erleben.

Treffen mit der CTC
Gleich zu Beginn unseres offiziellen Programms stand am nächsten Tag ein Treffen mit kubanischen Genossinnen und Genossen im Gewerkschaftshaus der CTC, des kubanischen Gewerkschaftsdachverbands, an. Unsere sechsköpfige Besuchsgruppe wurde von knapp zwanzig Kubanerinnen und Kubanern der CTC, der Gesundheitsgewerkschaft SNTS und der Gesundheitsdirektion der Provinz herzlich empfangen. Da es uns ein großes Anliegen war, dass unser mitgebrachtes Material zielgerichtet dort ankommt, wo es aktuell am nötigsten gebraucht wird, vereinbarten wir mit den Kollegen der Gesundheitsbehörde einen Termin zur Sichtung der Materialien. Wir waren in Santiago im wunderbaren Gästehaus der CTC mitten in der Altstadt untergebracht. Deshalb erfolgte die Prüfung der Medikamente zwei Tage später ebenfalls dort.

26. Juli in Santiage de Cuba bedeutet auch: Karneval
Foto: Tatjana Sambale
Tödliche Blockade
Es war schön zu sehen, dass für viele unserer Materialien sofort Pläne zum zielgerichteten Einsatz gemacht und umgesetzt wurden. Besonders scharf prüften die kubanischen Genossen die Haltbarkeit der Medikamente. Wie sinnvoll das ist, sollte sich wenige Wochen nach unserer Abreise auf tragische Weise zeigen: Ein kleines Mädchen aus Santiago starb in Folge der Einnahme einer abgelaufenen Paracetamol-Tablette kanadischen Fabrikats. Es ist unglaublich schmerzhaft zu sehen, welch grausame Auswirkungen die US-Blockade und der dadurch generierte Mangel an Medikamenten hat. Besonders emotional wurden unsere Gespräche oft, wenn wir mit Kolleginnen aus dem Gesundheitswesen sprachen. Besonders für die Pflegefachkräfte unserer Gruppe, die ja durchaus mit Mangelerscheinungen anderer Art – hervorgerufen durch Personalnot in Deutschland – vertraut sind, war es sehr beklemmend, die kubanischen Kolleginnen und Kollegen so hin-und hergerissen zwischen ihrer fachlichen Professionalität und dem Kampf gegen bewusst herbeigeführten (Medikamenten)-Mangel durch die US-Blockade zu sehen. Sie bei ihrem täglichen, engagierten Kampf um den Aufbau und Erhalt des vorbildlichen, kubanischen Gesundheitssystems zu erleben und gleichzeitig zu sehen, wie hinterhältig sie in diesem Engagement durch die Blockade ausgebremst werden, ließ niemanden von uns kalt. Gleichzeitig stieg bei uns allen der Respekt gegenüber den ärztlichen und pflegerischen Kolleginnen und Kollegen, die sich dieser Herausforderung tagtäglich stellen. Wir waren froh, in diesem Kampf um die Gesundheitsversorgung der Kubanerinnen und Kubaner eine kleine Unterstützung für diejenigen sein zu können, die ihn jeden Tag aufs Neue führen müssen. In diesem Sinne gestalteten wir auch die folgenden Treffen mit Gesundheitseinrichtungen, dem Kinderkrankenhaus La Colonia, der Klinik in Segundo Frente, einer Seniorentagesstätte und anderen Orten, die wir besuchen durften. Überall begegneten uns engagierte, leidenschaftliche, kämpferische Persönlichkeiten, die nicht gewillt sind, aufzugeben – auch wenn die Bedingungen aktuell alles andere als einfach sind.
Zum Sinnbild wurde diesbezüglich auch der Besuch des Antonio- Maceo-Denkmals in Santiago: Von dort geht der Blick direkt auf die große Messehalle Santiagos, wo viele Fach- und Wirtschaftstreffen für internationale Verträge und Kooperationen stattfinden. Die Fassade der Halle ist mit einem Portrait Camilo Cienfuegos geschmückt sowie mit dem Schriftzug: „Aquí no se rinde nadie – hier ergibt sich niemand!“. Wir stimmten mit der uns begleitenden CTCKollegin überein, dass dieser Slogan sehr ironisch bezeichnend ist für einen Ort, an dem Handelsund Wirtschaftsverhandlungen mit internationalen und privaten Investoren stattfinden.

Feierlichkeiten der Revolution
Die Höhepunkte unseres Aufenthaltes waren zweifellos die Aktivitäten rund um die revolutionären Jahrestage 26. und 30. Juli. Die Feierlichkeiten zum Sturm auf die Moncada-Kaserne fanden im Morgengrauen, dem Zeitpunkt des tatsächlichen Angriffs, auf dem Gelände der Kaserne statt. Uns wurde erklärt, dass Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Veranstaltung den historischen Angriff auf die Kaserne nachspielen würden und wir waren sehr auf die konkrete Umsetzung gespannt. Während wir mit ca. 500 anderen Gästen auf weißen Plastikstühlen saßen, stürmten um kurz nach 5:00 Uhr dutzende Kinder laut johlend und rufend den Kaserneneingang. Statt mit Gewehren waren sie jedoch mit „Bildung und Wissen“, symbolisiert durch überdimensionierte, meterlange Stifte aus Pappe, „bewaffnet“.
Beinahe noch symbolträchtiger und bewegender war der 30. Juli in Santiago. Die Gedenkfeierlichkeiten anlässlich der Ermordung des Revolutionärs Frank País, einem der wichtigsten Kämpfer im klandestinen Widerstand, 1957 durch Polizisten in der Innenstadt von Santiago begannen ebenfalls am frühen Morgen mit einem Gedenken an ihn und einen weiteren ermordeten Genossen. Nach einem kurzen Auftakt an der Straßenecke, die am 30. Juli 1957 Schauplatz ihrer Erschießung war, folgte ein kurzer Marsch zu einem nahegelegenen Park, in dem die Studierenden ihre geheimen Treffen kurz vor ihrer Enttarnung abgehalten hatten. Nicht nur die DKP-Mitglieder unserer Reisegruppe empfanden es als einen ungemein bewegenden Moment, dass in diesem Rahmen knapp zwanzig verdiente Mitglieder verschiedener Organisationen ihre Parteibücher für die PCC (Partido Comunista de Cuba) erhielten.
Bereits 1957 entwickelte sich die Beisetzung von Frank País zu einer machtvollen Demonstration gegen die Batista-Diktatur. In dieser Tradition marschierten auch in diesem Jahr, beinahe sieben Jahrzehnte später, am 30. Juli weit über 10.000 Menschen in einem lautstarken Demonstrationszug vom Parque Central in der Innenstadt bis zum Friedhof Santa Ifigenia, auf dem neben weiteren Kämpfern der Unabhängigkeitskriege und der Revolution wie José Marti und Antonio Maceo auch Fidel Castro beigesetzt ist.

Die Antwort auf eine dringende Bitte: 13 Koffer voller Medikamente und medizinischem Gerät
Foto: Tatjana Sambale
Was bleibt?
Wir hatten das unwahrscheinliche Glück während unseres Aufenthalts eine Unmenge beeindruckender Menschen – Genossinnen, Kolleginnen, Freunde – treffen und mit ihnen diskutieren zu können. Natürlich hatten und haben wir tausend Fragen- über die Inflation, die Prioristätensetzung in den Tourismus, die Energieinfrastruktur, die zurückgetretene Arbeitsministerin, die MIPYMES und vieles mehr und wir fahren eindeutig mit noch mehr Fragen als Antworten oder gar Lösungen wieder zurück. Damit geht es uns nicht anders als sehr vielen Kubanerinnen und Kubanern. Eingeschlossen jene, die in der unfassbar schwierigen Position, im Angesicht nur schlechter Alternativen Entscheidungen treffen müssen. Aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen war während unseres Aufenthalts das Gefühl von „Aquí no se rinde nadie – hier ergibt sich niemand“ allgegenwärtig.
Es ist immer wieder erstaunlich, mit welch unglaublicher Kraft und Intensität hierzulande sich als marxistisch verstehende Menschen über den „richtigen“ Weg zum Sozialismus und der Revolution streiten, während der tatsächliche Gegner die Zügel nicht nur fest in der Hand hat, sondern sie krisengetrieben immer fester anzieht. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis lehrt ein Aufenthalt in Kuba, heute so wie immer schon, vor allem eins: Demut und Respekt gegenüber den Menschen, die Sozialismus und Revolution tagtäglich aufbauen und verteidigen, allen Widrigkeiten zum Trotz.
Atrévete – trau dich. Was heißt das für uns? Womöglich: trau dich, in dieser Welt des Krieges und der Ausbeutung an eine Alternative zu glauben. Trau dich, mit Cuba solidarisch zu sein und solidarisch zu bleiben, allen Möchtegern-Bloggern und westlichen Auswärtigen Amt-Agitatoren zum Trotz. Trau dich, unter dieser Solidarität auch Diskussion und kritische Fragen zu verstehen. Trau dich, für die Revolution zu sein.