Die Leidensfähigkeit kubanischer Künstler

Vicente Trigo in der Casa de las Americas

Von Uli Fausten

Wenn irgendetwas in Kuba subventioniert wird bis zum Gehtnichtmehr, dann ist es die Kultur. Bei vielen – nicht bei allen – Konzerthallen gilt: „freier Eintritt“, so auch in der legendären Casa de las Américas. Allein, falls man im Hochsommer, zum Beispiel Freitag, den 18. Juli, dort einem Auftritt beiwohnen will, sollte man sich das nochmal gut überlegen. In Zeiten der Energieknappheit wird die recht große „Sala Che Guevara“ durch zwei (in Ziffern: 2) Wandventilatoren belüftet. Ich bin ohne nennenswerte Schäden über jenen Abend gekommen, weil ich zirka 1 ½ Meter unter einem von ihnen saß. Der Protagonist dieser Veranstaltung, Vicente Alejandro Trigo, Bandleader der Gruppe „DCoraSon“, hatte das Glück leider nicht. In den sich häufenden Pausen zwischen den Stücken zerfloss er schier vor unseren Augen. Wir litten mit ihm, umso mehr, als das Konzert eigentlich klasse war ...
Der familiäre Einfluss auf das, was er heute macht, kam von seiner Mutter wie auch von seiner Großmutter. Die beiden waren übereingekommen, den Minderjährigen im Alter von 14 erstmalig mit Liedern von Silvio Rodríguez und Pablo Milanés bekannt zu machen und somit seine Erziehung zum Lieben guter Musik zu betreiben – ein Begriff, den näher zu definieren ich mich schlichtweg weigere. Im Alter von 17 Jahren begann er, seine eigenen Stücke zu schreiben. Ein Jahr später zeigte er sie zum ersten Mal vor – dem Tres-Spieler, Komponisten und Arrangeur Ibrán Rivero Pío, der von dem Neuling auf der Szene so angetan war, dass er eine Weile mit ihm zusammenarbeitete. Die beiden bildeten ein Duo, das sich auf Gitarre und Tres begleitete. Die Musik – sehr kubanisch, die Songtexte reich an Metaphern. Nach einer Zeit der Trennung fanden sie sich dann aber wieder – und zwar in der in Kuba nun wirklich bekannten Formation „Aceituna sin Hueso“ (auf Deutsch: Olive ohne Kern). Die unverwechselbare Band der kreativen Frontfrau Miriela Moreno war, wie Vicente kürzlich als Gast in der von Rey Montalvo und Martha Campos moderierten Sendung „Entre Manos“ sagte, seine erste Erfahrung mit jener „anderen Dynamik, die das Singen und Spielen vor Publikum“ darstellt. Das Projekt „DcoraSon“ setzt sich dann auch überwiegend aus Ex- Mitgliedern von „Aceituna sin Hueso“ zusammen. Alle fünf teilen neben der Liebe zur Nueva Trova eine Affinität zur traditionellen Musik und zum Son. Ich habe nie so ganz verstanden, was das Genre „Son“ eigentlich ausmacht. Wenn „Pupy y Los que son Son“ den Son spielen (oder besser gesagt spielten, denn Pupy weilt ja nun leider nicht mehr unter uns), wo sind dann die Gemeinsamkeiten mit Vicente Trigo?
Ein weiterer – ebenso unbefriedigender – Versuch der Standortbestimmung besteht in der Aussage, „DCoraSon“ bewege sich zwischen zwei solchen Extremen, wie es Silvio Rodríguez und Miguel Matamóros darstellen. Immerhin wird eingestanden, wie weit diese beiden auseinander sind. Silvio und das Trio Matamóros – das ist zur Verortung eines Cantautors ungefähr ebenso hilfreich, als würde jemand sagen, dieser oder jener Interpret befinde sich musikalisch irgendwo zwischen Howard Carpendale und ACDC.
Vielleicht ist die Suche nach der passenden Schublade eine besonders ausgeprägte kubanische Manie. Als gehöre es zum Glücklichsein, zu wissen, wovon man spricht. Dem habe ich mich nie anschließen können. Auch nicht als Kulturjournalist. Meine schönsten Konzerte waren häufig solche, die Irritation bei mir auslösten, weil ich sie spontan keiner Kategorie zuordnen konnte oder weil sie sich Kategorien gegenüber sperrten, die zu erleben ich erwartet hatte. Das Konzert in der „Casa“ begann genau so. Komplex, unerwartet, nicht zum Mitsingen. Und ich lehnte mich in meinem gut bewehten Stuhl zurück und durfte einmal mehr denken: „Das wird spannend“.
Manche meinen auch, Elemente von Rumba und Changüi bei „DCoraSon“ zu erkennen. Und tatsächlich gab es ein Changüi-Stück im Konzert – wie generell lateinamerikanische Genres, was sicher zutrifft. Auch Country sollen sie spielen (Blödsinn!). Pop? Anklänge von Pop sind bei „Buena Fe“ jedenfalls viel stärker ausgeprägt. Balladeskes? Das findet sich schon in ihrem Repertoire. Eine Referenz, die auffallend fehlte, war die, dass nicht Weniges auch an anspruchsvollen angelsächsischen Folk erinnerte. Das liegt auch daran, wie Instrumente zum Einsatz gebracht werden. Neben Vicente Trigo selber (Gitarre und Stimme) gibt es mit Leodan Brito einen zweiten singenden Gitarristen und der spielt E-Gitarre. Darunter darf man sich jetzt keine harten Riffs und schwindelerregenden Läufe vorstellen. Leodan spielt seine elektrische Gitarre fast so, als wäre es eine akustische – ohne jede Effekthascherei. Der Vollständigkeit halber seien die drei übrigen erwähnt: David Carmona (Keyboard), Cristobal Espinoza (Bass) und Yoanni Dorta (Percussion).
Diese famose Gruppe, die wahrlich eine größere Zuhörerschaft verdient gehabt hätte, spielte zunächst an eher kleinen Orten, wie dem Centro Cultural Fresa y Chocolate gegenüber dem Kino Chaplin, in der Casona de Línea, der Location mit den meisten Mücken in ganz Havanna, und in „Los jardines del Teatro Mella“. Eine Adresse, die, seit das Theater selbst geschlossen wurde (endgültig oder wegen Renovierungsarbeiten, für die das Geld fehlt, wer weiß es?), etwas auf den Hund gekommen ist. Inzwischen nimmt ihre Fernsehpräsenz zu, z. B. in 23 y M, Lucas, Hola Habana.
Vicente selbst äußerte sich in einem Interview zur Entwicklung von „DCoraSon“ mit den folgenden Worten:“Ich träumte immer davon, eine Band zu haben, mit der ich das würde machen können, was ich heute mache. Aber ich hätte nie gedacht, dass das so schnell gehen würde. Das erste, worum es ging, war, ein Repertoire zu schaffen, dessen Themen – Texte und Musik – von uns selber sind. Wir machen auch unsere eigenen Aufnahmen dank eines semiprofessionellen Audio-Computers und unserer Kondensator-Mikrophone.“
Der Auftritt am 18. Juli in der Casa de las Américas lief unter dem Titel „Un café en la Casa“ in Anspielung auf ihr Album „El café de los felices“ – 2024 Sieger des Cubadisco- Awards in der Kategorie „Zeitgenössisches Lied“.
Um nochmal auf das leidige Thema vom Anfang zurückzukommen: Es wäre vielleicht angezeigt gewesen, auf die wesentlich kleinere Sala Manuel Galech im Erdgeschoss auszuweichen, die man mit geringerem Aufwand hätte klimatisieren können. Und die hundert Leute Zuhörer, die wir waren, hätten da wohl reingepasst. Aber womöglich wollte man nicht nur ein bisschen sparen, sondern ganz viel. Natürlich macht die Sala Che Guevara letztlich auch mehr her, aber das an dem bewussten Abend war, genau betrachtet, unzumutbar. Zumindest für die Künstler.
Das Konzert war umständehalber eines der kürzesten, die ich je erlebt habe. Gerade mal eine Stunde. Und obwohl es eine durchaus intensive Stunde war, mit positivem Dialog zwischen Band und Publikum, gab es keine Zugabe. Bemerkenswert (und über die Maßen ungewöhnlich) war, dass es auch niemanden gab, der eine forderte. Hier verstand man sich ohne Worte.