Dahin gehen, wo es wehtut

Die Arbeit cubanischer Ärzte in Haiti wird seit einem Jahr von der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba durch ein Spendenprojekt unterstützt. Wir berichten hier über deren Einsätze in diesem Jahr nach dem schweren Erdbeben in Haiti und Chile.

Die Iljuschin 62 landet pünktlich, 15 Minuten nach Mitternacht. An Bord sind die TeilnehmerInnen der medizinischen Brigade "Henry Reeve", nach acht Monaten Hilfsmission im Erdbebengebiet von Chile endlich wieder zurück in Havanna.

Als sie mit müden Schritten die kurze Gangway herunterkommen, sind ihre Gesichter im Halbdunkel des Rollfelds nicht gut zu erkennen. Sie alle tragen weiße Kittel über ihren roten T-Shirts mit dem Logo der Brigade. Wenn man imstande wäre, den Ton abzuschalten, könnte niemand sagen, welcher Nationalität diese Menschen sind, aber da man das in einer realen Umgebung nicht kann, wird ihre Herkunft völlig klar, sobald der erste von ihnen den Mund aufmacht: "He, Chica, wie toll ist es doch, wieder in Cuba zu sein! Riech nur diese frische Luft!" "Yuli, gib mir mal den Lippenstift rüber." Avemaria! Ich kann's noch gar nicht fassen!" Lachen, das eine oder andere Tränchen, ein hochgeworfener Hut.

Als die Heimkehrer im hell erleuchteten Salon des Flughafens auf den für den Empfang vorgesehenen Stühlen Platz genommen haben, spricht die Ärztin Yiliam Jiménez diejenigen aus der ersten Reihe an: "Nun macht euch mal ein bisschen nett! Euch sieht man gleich im Fernsehen!"

Dr. Juan Carlos Andux

Dr. Juan Carlos Andux
Foto: Roberto Chile - cubadebate

Der Chef der Brigade, Dr. Juan Carlos Andux, hält eine kleine Ansprache im Namen all seiner Kolleginnen und Kollegen, wobei er anmerkt, dass sie die ersten internationalen Hilfskräfte waren, die kamen um die letzten, die gingen. Danach gratuliert Dr. Roberto Morales, der cubanische Gesundheitsminister, im Namen der Regierung und Fidel Castros, der täglich die Arbeit der Brigade verfolgt hat, den übernächtigten Karastophenhelfern.

Einige von ihnen sind seit 48 Stunden ohne Schlaf; die Verabschiedung durch die über 1.000 Menschen war eine tränenreiche Angelegenheit und kaum mehr als die Aussicht auf die versprochene Tasse Kaffee hält sie noch aufrecht. Ansonsten sind fast alle verrückt vor Sehnsucht, endlich wieder ihre Familienangehörigen in die Arme schließen zu können.

Am längsten hält es der Delegationsleiter auf dem Airport aus. Er stellt sich nach dem offiziellen Teil "cubadebate" zu einem längeren Gespräch (welches im wesentlichen die Grundlage für den vorliegenden Artikel ist).

An diesem 21. November 2010 ist es 259 Tage her, dass die berühmte Brigade "Henry Reeve" in Chile ihre Tätigkeit aufnahm. Einen Tag nach dem schlimmen Beben am 27. Februar diesen Jahres ereilte sie ein Hilfsgesuch der – damaligen – Präsidentin Michele Bachelet. Nur acht Stunden später war die erste Gruppe (26 Leute) mit einem kompletten Feldhospital und 12 Tonnen Material, verteilt auf zwei Flugzeuge, auf dem Weg nach Santiago de Chile.

"Henry Reeve" ist sozusagen der internationalistische Stoßtrupp der allgemein anerkannten medizinischen Kompetenz Cubas, wann immer es im lateinamerikanischen Raum zu Naturdesastern kommt, was in dieser Region leider nur allzu häufig der Fall ist. Wenn es keine Erdbeben sind, so sind es Wirbelstürme, die ein schnellstmögliches Eingreifen erfordern, zum Beispiel nach dem Hurrikan "Mitch" in Guatemala, als viele "Integrantes" von "Henry Reeve" zum Einsatz kamen. Diese sitzen praktisch immer auf gepackten Rucksäcken, und dass Cuba gegebenenfalls auch bereit ist, ihren Radius auf Entwicklungsländer im allgemeinen auszuweiten, zeigt ihre hingebungsvolle Mission nach jenem verheerenden Beben, das vor einigen Jahren Pakistan heimsuchte. Sie hätten auch – in sehr viel größerem personellem Umfang (1.500 Personen) – den Überschwemmungsopfern von New Orleans nach dem Zyklon "Katrina) geholfen, wenn George W. Bush sie gelassen hätte. Er zog es jedoch vor, seine eigenes Hilfsprojekt oder das, was er dafür hielt, durchzuziehen – mit allen furchtbaren Auswirkungen auf die dortige Bevölkerung, die wir zu genüge kennen.

Der Flug der ersten Gruppe (der in der Nacht zum 1. März stattfand) endete zunächst auf dem Militärflughafen der chilenischen Hauptstadt. Direkt danach stand ihr noch ein Weiterflug von 450 km nach Rancagua bevor, wo sie tätig werden sollte.

Als die CubanerInnen dort eintrafen, waren sie erst einmal verwirrt. Nach den Gebäuden zu urteilen, standen die meisten Mauern noch. Dr. Juan Carlos erklärt dies so: "Da Chile seine Erfahrung hat mit Erdbeben von über 8 Grad auf der Richterskala, hat es Laufe all der Jahre ein antiseismisches Konstruktionssystem entwickelt, sehr solide, und damit den Effekt dieses natürlichen Phänomens verringert." Dennoch war man auf cubanischer Seite perplex, wenn man die unmittelbar sichtbaren Auswirkungen hier mit jenen verglich, die das Erdbeben in Haiti vom 11. Januar gezeigt hatte. Das Ganze entpuppte sich hingegen schnell als optische Täuschung. In Wirklichkeit hatte praktisch die gesamte Infrastruktur des Hospitalbereichs ernsten Schaden genommen. Rancaguas regionales Krankenhaus hatte von den ursprünglich 506 Betten 300 verloren. Totaler Versorgungskollaps!

Dr. Juan Carlos erzählt: "Sie platzierten uns an der Seite eines der beschädigten Gebäude des Gesundheitszentrums. Da wurde uns klar, dass die chilenischen Zivilbeamten keine Ahnung von Feldhospitälern hatten. Wir erklärten ihnen, warum ein Hospital wie das unsrige niemals neben einem so halb zerstörten Bauwerk von acht Stockwerken errichtet werden könnte. Die seismische Aktivität hatte noch nicht aufgehört und mit nur einem starken Nachbeben wäre es vollends zusammengestürzt und hätte uns alle getötet."

Daraufhin – es war immer noch im Morgengrauen des 1. März – dirigierten die chilenischen Behörden den cubanischen Hilfstrupp in den städtischen Sportkomplex "Particio Mekis" um, genauer gesagt ins Fußballstadion. Einige Würdenträger munkelten, dass diese Maßnahme von den Einheimischen vielleicht nicht gut aufgenommen werden würde, da man Rancagua als die "Himmelsstadt" oder den "Chef der Provinz" bezeichne, womit man Bezug nehme auf den örtlichen Fußballclub "O'Higgins", der schließlich in Chile die zweitmeisten Fans habe.

Diese Befürchtung erwies sich indes als gegenstandslos. Die Cubaner und Cubanerinnen wurden an diesem heiklen Ort gut empfangen, wenn man auch seitens der Bevölkerung zunächst nicht viel mit ihnen anzufangen wusste. Als sie ohne weiteren Aufschub anfingen, ein Zelt hinzustellen und möglichst schnell die Behandlung aufnehmen zu können, so wie sie vom Flug her waren, also nicht gerade in medizinernahem Outfit, wurden sie von den ersten Hilfswilligen aus der Bevölkerung gefragt: "Und wann kommen die Ärzte?"

Als dieses Missverständnis aufgeklärt war, begann für die Brigade "Henry Reeve" eine harte Zeit mit Dienst rund um die Uhr. 400 Personen saßen mit einem Mal vor dem Eingang des Notkrankenhauses – mit allen erdenklichen Arten von Schmerzen. Die Brigadisten fanden bald heraus, dass viele von ihnen vor allem gekommen waren, weil sie vom cubanischen Gesundheitssystem hatten reden hören, das sie nun mit ihren eigenen Augen sehen wollten. Rancagua hat zirka 200.00 Einwohner und es ist unwahrscheinlich, dass es auch nur einen unter ihnen gab, der nicht von dieser Hilfsaktion erfahren ahtte.

Dr. Juan Carlos meint dazu: "Die Leute wertschätzten die Qualität der Behandlung, die ihnen im Feldhospital zuteil wurde, aber vor allem die Art und Weise, wie wir sie behandelten. Sie sagten uns: "Ihr seid Ärzte Haut an Haut". Wir verstanden zuerst nicht recht, was sie damit meinten. Sie meinten die Zuneigung, mit der wir sie berührten und ihre Probleme anhörten. Für eine Bevölkerung, die unter posttraumatischem Stress leidet, ist es wichtig, dass man ihr Zärtlichkeit, Sicherheit, Verständnis und psychologische Betreuung anbietet."

Dr. Juan Carlos Andux

Dr. Juan Carlos Andux, Leiter der kubanischen Ärztebrigade, mit regionalen Gesundheitsverantwortlichen in Rancagua

Die cubanische Delegation hatte sich schon auf dem Hinflug über Erdbeben in ihrem Zielland schlau gemacht. Dabei stellte sich eine eigentümliche Regelmäßigkeit bei der seismischen Aktivität in Chile heraus, die der Chef der Brigade so erläutert. "Sie (die Chilenen) haben ca. alle 25 Jahre ein Beben. 1939 hatten sie ein schreckliches in Chillán mit mehr als 30.000 Toten. 1960 gab es in Valdivia das wohl schwerste Beben der Welt, mit einer gemessenen Intensität von 9,5 Grad auf der Richterskala, das das Leben von 2.000 Menschen kostete und eine Million obdachlos machte. 1986 kam es zu einem weiteren und nun, 2010 hatten sie wieder eins. Durchschnittlich erleiden sie dort alle 25 Jahre ein Erdbeben. Wir wussten, dass es nach so einer starken Erderschütterung zu Nachbeben kommt, einige von ihnen sind sehr intensiv und können außerordentlich gefährlich sein. So war es auch diesmal. Wir erlebten in Chile vom Tag unserer Ankunft an 576 Nachbeben, das schwerste am 11. März, dem Tag, an dem die Regierung wechselte.

Wir machten die Behörden darauf aufmerksam, dass wir dringend einen Funksender bräuchten, einen mit zwei Geräten: das eine für uns und das andere für Patricio, den Chef des medizinischen Notdienstes vor Ort. Sie schüttelten den Kopf: "Funk? Das ist eine veraltete Technik. Niemand benutzt so etwas." Aber wir bestanden darauf, denn als es kurz nach dem Erdbeben und dem Tsunami gekommen war, waren die Handynetze und die ganzen modernen Kommunikationssysteme kollabiert. Diese Erfahrung wallten wir nicht machen. Schließlich gaben sie nach und überließen uns, was wir wünschten."

Der Beweis dass unser Anliegen nicht nur eine Laune war, ließ nicht lange auf sich warten: Am 11. März, demselben Tag, an dem die Regierung Bachelet die Amtsgeschäfte an ihren Nachfolger Pinera übergab, assistierte Dr. Juan Carlos bei einem schwierigen chirurgischen Eingriff. Auf einmal rief die Anästhesistin: "Der Patient zuckt, er hat Krämpfe!" Aber alle, die um den OP-Tisch versammelt waren, zuckten auch, denn das ganze Zelt war in heftiger Bewegung. Ein Companero sagte: "Das ist kein Schüttelkrampf, es ist ein Erdbeben."

Es gab große Unruhe und Panik in den Gebäuden nahe dem Krankenhaus und natürlich kam von derselben Sekunde an kein Handy-Kontakt mehr zustande. Dr. Juan Carlos erzählt: "Da klangen aus dem Funkgerät die Worte Feldhospital! Feldhospital! Haben wir Verbindung?" und ich antwortete: "Verbindung steht, wir erwarten die nächsten Patienten.""

Vom folgenden Tag an war die Gesundheitsbehörde und jeder medizinische Notdienst in der Gegend mit Funkgeräten versorgt, um unmittelbar auf Nachbeben reagieren zu können.

Am 12. März bat der neue chilenische Gesundheitsminister Cuba offiziell (und im Wortlaut von der chilenischen Zeitschrift "Punto Final" zitiert), ein weiteres Feldhospital einzurichten. Zwei Tage später war die nächste Gruppe in Chillán, was in der Sprache der Urbevölkerung "Sonnenstuhl" heißt – 319 Kilometer südlich von Rancagua.

Dr. Juan Carlos reiste an der Spitze dieser zweiten Brigade nach Chillán, dessen Unterschied zum ersten Standort er so charakterisiert: mehr Regen, mehr Kälte und näher am Epizentrum.

"Aber die größte Verschiedenheit war die Tatsache, dass man sich in Chillán zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr früh nicht in den Straßen aufhalten durfte, weshalb wir in dieser Zeitspanne auch keine neuen Patienten hatten. Das hatte aber andererseits zur Folge, dass schon bei Tagesanbruch 600 bis 700 Personen um unser Krankenhaus lagerten, was für den 36 Leute starken medizinischen Hilfstrupp dort sehr aufreibend war."

Die Brigadisten fanden heraus, warum Chillán als die Region der Küste einen Namen hat. Es war die Wiege von Dichtern, Schriftstellern, Musikern und Bildhauern, darunter solche, die eine besondere Beziehung zu Cuba haben oder hatten: Der Liedermacher Victor Jara, der 1973 im Stadion von Santiago durch Schergen Pinochets ermordet wurde, stammt von hier. Der große Cubafreund und persönliche Freund Fidels, der Autor Valodia Teitelboim, ebenso. Auch Violeta Parra wurde in dieser Gegend geboren.

Es überraschte die Chilenen nicht, dass die Cubaner Lieder von Violeta Parra und Victor Jara auswendig wussten. Sie ihrerseits konnten zig Lieder von Silvio Rodríguez und Pablo Milanes nachsingen. Man fing an, sich zu treffen um Musik zu hören und zu tanzen. "Eines führte zum anderen.", berichtet der Delegationsleiter weiter. "Sie wollten Salsa tanzen, während wir uns dranmachten, die Cueca zu erlernen. Nun ja, man muss zugeben, dass sie mehr Erfolg hatten als wir. Wir waren in Cueca-Tanzen eine ziemliche Katastrophe."

"Die Gruppe in Rancuagua", erinnert sich Dr. Juan Carlos an sein erstes Wirkungsfeld in Chile, "Hatte einen salsabegabten Koch, der jeden Dienstag und Donnerstag in der Basketballhall Gratiskurse für Einheimische anbot. Manchmal war der Zulauf so stark, dass die Halle kaum noch ausreichte für all die Schüler und Schülerinnen. Das hättet ihr sehen sollen..."

Für die Brigade "Henry Reeve" war die Kälte das größte Problem. Chilláns Klima ist sehr trocken. Die Luft ist eisig und der Regen schneidet wie ein Messer. Die Cubaner schliefen in Zelten, also praktisch im Freien. Als der Winter in der südlichen Erdhälfte anbrach, musste man nach einer geschützten Unterkunft Ausschau halten. Sowohl in Rancagua, als auch in Chillán verlegte man schließlich das Feldhospital in eine Turnhalle. Rancagua ist von den Kordilleren umgeben. Wenn es dort im Winter regnet, überziehen sich die Felswände mit Eis und der Wind bläst unheimlich hart. Das Fußballstadion, in dem die Brigade anfangs logiert hatte, verwandelte sich in einen Tiefkühlschrank.


Als positive Erfahrung in Chile bezeichnet das cubanische Ärzteteam die Menschen dort. Es erhielt nicht nur die Unterstützung von Soligruppen der chilenischen Linken. Auch Bürgermeister der politischen Rechten schickten den Helfern Dankesbriefe und umarmten sie, desgleichen Kirchenvertreter, Militärs, Funktionäre des Kabinetts von Michele Bachelet, als auch ihres Nachfolgers Sebstián Pinera, Leute von unterschiedlichem politischem Credo. Große Resonanz auch in der chilenischen Presse: Dr. Juan Carlos besitzt ein Dossier von mehr als 500 Artikeln, die sich auf die Arbeit der cubanischen Brigade beziehen. Eine der Schlagzeilen lautete: "Engel in weißen Kitteln".

Es gab insgesamt 78 cubanische "Integrantes" der Brigade in den acht Monaten. 79.137 war die Anzahl der Patienten, die behandelt wurden (ein Durchschnitt von 312 pro Tag). Es gab 3.183 durchgeführte Operationen. 2,633 Patienten wurden stationär behandelt.

Das, was die HeimkehrerInnen bei ihrem achtmonatigen Aufenthalt am meisten überraschte, war, wie viel die chilenische Bevölkerung über Cuba weiß.

Einige erinnerten sich noch an die erste cubanische Hilfsaktion nach dem Beben in Valdivia 1960, als Cubas Revolution gerade mal im Windelalter war. Andere hatten Fidel gesehen, als er zehn Jahre später mit Salvador Allende durchs Land reiste. Einer erzählte: "Irgendjemand rief stolz, er habe die Karawane vorbeikommen sehen, und ich rannte und rannte, bis ich sie erreicht hatte. Fidel streckte mir seine Hand entgegen und ich ergriff sie. Ich war damals 12 Jahre alt.

Hoch lebendig ist auch noch die Erinnerung derer, die nach dem Putsch vor dem Folterregime flohen und viele Jahre im cubanischen Exil lebten. Eine weitere enge Verbindung zwischen beiden Ländern ist die, welche durch die Ausbildung chilenischer Medizinstudenten an der cubanischen ELAM (Escuela Latinoamericana de Medicina) entsteht.

Über 100 zurückgekehrte ELAM-Absolventen arbeiteten mit den cubanischen Brigadisten in Chile zusammen. Einer von denen, die ihre Hilfe in Racagua anboten, meinte Folgendes: "Was kann ich über die Solidarität Cubas sagen? Die Cubaner lehren uns zu leben. Was sie in diesem Hospital an den chilenischen Patienten leisten, ist das Bestmögliche. Cuba schickt den Armen das Beste".

Soweit die Mischung aus Bericht und Reportage von der Arbeit der Brigade "Henry Reeve" in Chile, die aus gegebenem Anlass entstand. Was man aber über die Verdienste von Cubas medizinischer "Task Force" hinaus keinesfalls vergessen darf, ist der Umstand, dass die Insel in ungezählten anderen Entwicklungsländern (man könnte sie zählen, sie jedoch im Einzelnen aufzuführen, würde den Rahmen des Artikels sprengen) mit Langzeitprojekten im Bereich Gesundheit befasst ist. Es seien hier nur einige wenige von ihnen exemplarisch genannt: Venezuela mit der Aktion "Barrio adentro", bei der cubanische Ärzte und Ärztinnen mitten in die Armenviertel gehen, um ambulante Sprechstunden abzuhalten (eine Maßnahme, die Hugo Chavez im Einvernehmen mit Fidel Castro initiierte, als sich 90% der venezolanischen Ärzte weigerten, dies zu tun) oder Bolivien mit dem Projekt "Operación Milagro" (das mit Hilfe cubanischer Augenchirurgie viele – vorwiegend ältere – Menschen von der Geißel des Grauen Stars befreit). Diese Darstellung ist übrigens arg verkürzt, weil in Wirklichkeit beide Länder gleich mehrere cubanische Hilfsprojekte beherbergen. Als in Honduras vor einigen Jahren der Vorgänger Manuel Zelayas, vermutlich auf Druck seiner reaktionären Basis, das Engagement cubanischer MedizinerInnen in seinem Armenhaus durch Ausweisung beenden wollte, kam es zu massiven, wütenden Protesten durch die Bevölkerung, dass ihm schlussendlich nichts anderes übrig blieb, als die geplante Maßnahme abzublasen.

Der Arztberuf ist – nicht nur in unseren Breiten, sondern auch (und vor allem) in Staaten der sogenannten Dritten Welt – ein Broterwerb für Privilegierte. Warum habe ich einen reichen Papa, so werden sich die meisten fragen, wenn ich mit meinem Diplom dahin gehen soll, wo es wehtut? All der Dreck! All das Elend! Igitt!

Das halten nun Cubas Hilfskräfte in solchen Ländern völlig anders! Da, wo sie hingehen, tut es immer weh und "Dreck" und "Elend" sind zweiter und dritter Vorname.

Bürgerliche Medien hierzulande rümpfen die Nase angesichts von so viel Mildtätigkeit. Das cubanische "Regime", so sagen sie, tue all das schließlich nur, um sich in ein positives Licht zu setzen. Bei wem? Bei der "Jungen Welt".

Für ARD und ZDF ist Katastrophe nur dann schöne, wenn ein Deutscher Schäferhund in den Trümmern wühlt. Das tut er aber doch eher selten und dann auch nur kurzzeitig. Dies allein schon unterscheidet ihn grundlegend von Cubas Internationalisten, die sich monate- und jahrelang bis zur physischen und psychischen Erschöpfung mit Verzweiflung und Schmutz umgeben und ansteckende Krankheiten riskieren.

Zum Beispiel in Haiti, dem hoffnungslosesten Ort der Welt, der gerade wieder mal in aller Munde ist. Bitterste Armut, Erdbeben, Cholera. Wer bietet mehr? Die Brigade "Henry Reeve" ist hier gewissermaßen nur die Dreingabe angesichts der aktuellen Katastrophen. Gegen die permanente Katastrophe, die das Land selber darstellt, kämpfen die cubanischen Gesundheitsaktivisten schon seit einer kleinen Ewigkeit – genau genommen seit 12 Jahren – ununterbrochen.

Die Brigade "Henry Reeve" in Haiti zählt zur Zeit 839 Leute, davon 689 CubanerInnen. Die übrige Crew setzt sich zusammen aus ELAM-Absolventen 18 lateinamerikanischer Staaten, natürlich u.a. auch solchen aus Haiti selbst. (Von den ungefähr 600 letzteren, die in Cuba mit Erfolg studierten, haben sich danach mehr als 500 in Haiti als Ärzte niedergelassen, was ein ziemlich guter Schnitt ist, wenn man bedenkt, dass die Versuchung groß sein mag, zu sagen: "In New York wird es mir mit meiner kostenlosen akademischen Ausbildung gewiss besser gehen als in Port au Prince.")

Der folgende (minimal gekürzte) Brief vom 8.11.2010 stammt von Dr. Emiliano Mariscal, einem argentinischen ELAM-Graduierten, der Teilnehmer an der cubanischen Brigade in Haiti ist.

Was passiert in Haiti?

An meine Freunde und Familienangehörigen

Diese Zeilen dienen dem Zweck, Informationen über die sanitäre Lage in Haiti zu verbreiten, motiviert durch die Besorgnis vieler Freund, die wissen möchten, wie sich die Situation nun darstellt.

Das erste, was ich sagen kann, ist, dass wir uns mit einer Krankheit konfrontiert sehen – der Cholera – die in diesem Land seit mehr als 100 Jahren nicht mehr aufgetreten ist. Zweitens, dass es sich um eine der gefürchtetsten Epidemien in diesem Teil der Welt handelt, angesichts der hier herrschenden Bedingungen, die ihre Langwierigkeit und Ausbreitung begünstigen.

In Kürze meine ersten Erfahrungen mit dieser Krankheit: Zeit Tage bevor der Ausbruch der Cholera in Haiti bestätigt wurde, trafen wir uns – zusammen mit einem Epidemologen, einem Mikrobiologen und einem Entomologen – in einer "Mirebalais" genannten Kommune des Zentraldepartements, wo die cubanische Gesundheitsbrigade, welche dort ein Krankenhaus unterhält, vom Beginn einer ganz ungewöhnlich ernsthaften Durchfallepidemie berichtete, die den Tod dreier Menschen verursacht hatte.

Unterwegs erinnerten wir uns bei mehreren Gelegenheiten an Doktor John Snow, den Pionier der modernen Epidemologie, deshalb begaben wir uns an die Orte, wo es zu den Todesfällen gekommen war, und überall dort gab es ein gemeinsames Merkmal: die Nähe zu einem Fluss.

Die Leute haben keine Wasservorräte. Darum benutzen sie den Fluss, sei es zum Trinken, zum Wäsche waschen, zur Körperhygiene etc. Ein weiteres gemeinsames Merkmal: Das Nichtvorhandensein von Toiletten, weswegen es üblich ist, sein "Geschäft" im Freien zu verrichten.

Die Haufenbildung entging ebenso wenig unserer Aufmerksamkeit wie der extrem prekäre Zustand der Wohnungen, die überall verteilten kleinen Abfalldeponien, die Unterernährung, das niedrige kulturelle Niveau, die Hilflosigkeit und Resignation. Die Patienten, die sich im Krankenhaus einfanden, hatten weißliche, wasserdünne Diarrhö, begleitet von übermäßigem Erbrechen, in den meisten Fällen waren sie ernstlich dehydriert und drei von ihnen starben.

Das haitianische Gesundheitsministerium nahm Urinproben, Stuhlproben und Proben von Erbrochenem. Unsere Schussfolgerung war: Die Quelle der Infektion ist das kontaminierte Wasser. Den klinischen Charakteristiken zufolge handelt es sich um ein außerordentlich aggressives Bakterium, das sich durch das Wasser überträgt und nach einer Inkubationszeit von etwa 24 Stunden in der Lage ist, binnen weniger Stunden Komplikationen mit sich zu bringen, die, wenn man sie nicht frühzeitig behandelt, zum Tode führen können.

Nach hundert Jahren ohne Cholera konnten wir nicht garantieren, dass wir diese Krankheit vor und hatten, solange es keine Bestätigung des Laboratoriums gab. Die Information erging an die haitianischen Behörden und nur einen Tag darauf kam es zum Ausbruch der Seuche in Saint Marc. Wenig später hatten wir die Gewissheit, dass es sich tatsächlich um das Vibrión Cholerae handelte.

Kubanisches Cholera-Behandlungszentrum in Haiti

kubanische Ärzte und Absolventen der ELAM
Cholera-Behandlungszentrum in Haiti

Es sind inzwischen 16 Tage seit dem Anfang der Epidemie vergangen; bis heute haben die Autoritäten Haitis 330 Tote und 4600 in stationäre Behandlung Überstellte gezählt.
Es gibt diverse internationale Organisationen, die sich hier versammelt haben, um Haitis Gesundheitsministerium zu unterstützen, aber die Singstimme in diesem Chor, obwohl man ihren Gesang nicht über die Massenmedien mitbekommt, hat Cuba – in enger Koordination mit der haitianischen Sanitärbehörde. Die Wahrheit ist, dass es der Aktion der cubanischen medizinischen Brigade zu verdanken ist, dass die Ankunft der Epidemie in Port au Prince (die am meisten gefürchtet wird, da dort anderthalb Millionen Menschen unter extrem schlechten Bedingungen leben) bislang zumindest verzögert werden konnte.

Die Kommune Arcahaie grenzt unmittelbar an die von Artibonite (und besonders an Saint Marc). Die Brigade unterhält dort zwei Gesundheitseinrichtungen, die mittlerweile zu Zentren der Choleravorsorge geworden sind. In beiden wurden bis zum 30.Oktober 1182 Patienten behandelt, deren Existenz das Überspringen der Krankheit auf Subkommunen von Arcahaie bestätigt, in denen man die gleichen Bedingungen feststellte, die ich in Bezug auf den ersten Infektionsherd Mirebalais erwähnte.

Man braucht keine Ahnung von Heilkunde zu haben, um sich klarzumachen, dass, wenn die erwähnten 1182 Patienten nicht darauf hätten zählen können, dass man sich in diesen Zentren ihrer annehmen würde, sie sich auf die Suche nach Hilfe in Port au Prince gemacht hätten und das ist genau die Art und Weise, wie sich die Epidemie ausbreitet, wenn sich erkrankte Personen sammeln, um eine Gesundheitsinstitution aufsuchen und andererseits die, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist (die sich aber bereits in der Inkubationszeit befinden), sich aus Furcht vor Ansteckung von diesem Ort entfernen.

So wäre diese Menge von Leuten jetzt nach Port au Prince gereist, ohne dass eine Chance bestünde, den Fluss an Kranken dort aufzunehmen.

Was am meisten Not tut, ist eine Erziehung in sanitären Belangen sowie der Bevölkerung sichere Quellen an Wasservorräten zur Verfügung zu stellen. Beides ist schwer in die Tat umzusetzen, denn es ist schwierig, die Menschen dazu zu bewegen, Gewohnheiten zu ändern, die seit langem tief verwurzelt sind. Und was die Vorräte an sauberem Wasser angeht, so gibt es sie zwar (in Form von Spenden), es ist aber ein komplexes Vorhaben, Organisationsformen für die Verteilung zu entwickeln.

Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist die, dass sich die cubanische medizinische Brigade darauf einstellt, weiter in Zusammenarbeit mit den haitianischen Stellen ihren Beitrag zum Kampf gegen die schreckliche Epidemie zu leisten. Die Präsenz in der Kommune, die hygienische Erziehung der Bevölkerung, vermittelt durch kommunale Führungspersonen, sowie die Pflege von an Cholera erkrankten Patienten in den Behandlungszentren stellt die Prinzipien der internationalistischen Solidarität auf eine hohe Stufe.

Heute befinden sich 51 junge Ärzte und Ärztinnen, die in der Lateinamerikanischen Schule für Medizin ausgebildet wurden, an vorderster Front dieses harten Kampfes, Seite an Seite mit ihren cubanischen Brüdern und Lehrern. Die übrigen arbeiten auf den ihnen zugewiesenen Posten im ganzen Land; viele von ihnen sind bereit, zur ersten Linie hinzuzustoßen, wenn es erforderlich ist.

Die Perspektive ist die, dass die Krankheit sich für mehrere Jahre im Land halten und weitere Ausbrüche mit sich bringen wird, wenn man fortfährt, die Wasserquellen zu vergiften.

Gerade nähert sich der Hurrikan, der Prognosen zufolge heute haitianischen Boden erreichen wird. Ohne Zweifel wird sich die Lage dadurch weiter verschlimmern, da sie Konditionen schaffen wird für eine Ausbreitung der Krankheit auf Gebiete, in die sie zur Zeit noch nicht vorgedrungen ist. Überdies sind einige Zonen stark von Überschwemmungen bedroht.

Cuba ist hier seit 12 Jahren. Seit dem Erdbeben war man mit dem Wiederaufbau und der Verbesserung des Gesundheitssystems beschäftigt. Cuba wird auch während der gesamten Choleraepidemie hier bleiben und nach dem Weiterziehen des Hurrikans. Irgendwelche x-beliebigen Menschen nach den cubanischen Ärzten zu fragen, reicht aus, um jedes Gesicht zum Leuchten zu bringen.

Ich bin stolz darauf, Teil dieser weiteren Seite zu sein, die der cubanische Internationalismus aufgeschlagen hat, stolz, Mitglied der cubanischen Brigade Cubas zu sein, stolz, ein Sohn der amerikanischen Erde zu sein, verpflichtet meinem Land, das Lateinamerika heißt, ebenso wie meinen Gefährten, die ihrerseits Söhne und Töchter dieses Bodens sind.

Quellen: "Dahin gehen wo es wehtut" cubadebate. "Was passiert in Haiti?" kaosenlared. Aus dem Spanischen von Ulli Fausten.

Nachtrag

Seit den ersten Dezembertagen 2010 befinden sich von cubanischer Seite 300 Leute mehr in Haiti. Der Vorabtransport des Materials erfolgte etwa zum Nikolaus herum; die Ärzteschaft und das Pflegepersonal reiste einen Tag später an.

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CUBA LIBRE 1-2011