Die Kuba-Erleber erleben

Mit dem Versprechen auf "pure, pralle, karibische Lebenslust", dabei "den Rhythmus von Kuba zu spüren" oder etwas gemäßigter "die Höhepunkte Kubas zu erleben" und "Kultur, Land und Leute kennenzulernen", lockt die Tourismusindustrie jährlich weit mehr als 4,5 Mio. Touristen auf die größte karibische Insel. Diese kommen hauptsächlich aus Nordamerika und den Ländern Europas. Und ja, es ist möglich, während eines zweiwöchigen Urlaubs auf Kuba eine Menge zu erleben. Aber Kuba kennenlernen? Sicher nicht! Eine weitaus bessere Möglichkeit, Kuba tatsächlich kennenzulernen, bietet die Teilnahme am "Proyecto Tamara Bunke". Natürlich reicht auch eine halb- bis einjährige Teilnahme an einem solchen Solidaritätsprojekt nicht aus, um ein Land, seine Menschen und ihre Kultur wirklich zu erfassen - aber die TeilnehmerInnen nehmen mit Sicherheit mehr als nur ein paar Sommererlebnisse mit zurück nach Hause. Was allerdings auch zu unseren nachhaltigen Eindrücken gehört, ist die Sicht auf das oftmals schockierende Verhalten der "Kuba-Erleber". Selbstverständlich kann dabei nicht von allen Urlaubsreisenden gesprochen werden, aber wie immer und überall fallen vor allem die schwarzen Schafe in der Masse auf. Für viele Kubareisende scheint die größte Karibikinsel ein reiner Vergnügungspark zu sein, auf Einheimische wird eher keine Rücksicht genommen. Respekt vor Kultur, Geschichte und dem bloßen Menschsein: Fehlanzeige. Beginnend beim unwürdigen Sextourismus, der uns an Stränden, in Bars und Diskotheken, in den sozialen Netzen und auch in normalen Alltagssituationen, wie zum Beispiel beim Einkaufen, immer wieder begegnet, erinnert das Verhalten vieler westeuropäischer, kanadischer und US-amerikanischer Reisenden an eine Art postkolonialen "Herrenhabitus".

Ein in der Hauptsaison sich teilweise sogar mehrmals täglich wiederholendes, in mir Kopfschütteln und Fremdscham erregendes Beispiel für das zuvor beschriebene Verhalten ausländischer Touristen, sind die durch den Stadtteil Vedado heizenden Oldtimer-Cabrio-Karawanen. Diese Cabrios können stundenweise gemietet werden. Wem es Freude macht, in diesen schönen Karossen durch Havanna chauffiert zu werden, soll und kann dies gerne tun. Den privaten Vermietern beschert es Einnahmen. Was die Szenerie erst verwerflich macht, sind jene Autocorsos, deren Insassen es nicht ausreicht, die Hauptstadt Kubas durch das geöffnete Verdeck zu betrachten, sondern die wild und ohne Unterbrechung hupend durch die Straßen Havannas fahren. Dass im Vedado auch Menschen leben und arbeiten, denen die unnötige Lärmbelästigung – auch im lebhaften Kuba – auf die Nerven geht, scheint die Cabrio-Charter nicht zu interessieren. Doch den Gipfel des Spektakels stellen möchtegerngekrönte Kubareisende dar, die zu ihrer Belustigung aus den hupenden Karossen heraus den Menschen im Stile einer Royal Family majestätisch zuwinken. Dass sie keine Royals sind und keineswegs an jubelnden Monarchisten vorbeidefilieren, sondern Kubanern zuwinken, die zum Beispiel gerade auf den Bus warten, welcher etwa ein fünftausendstel des Stundenpreises des Cabrios samt Fahrer kostet, fällt ihnen offensichtlich nicht auf. Für ein entsetztes "Warum?" in den Gesichtern von Beobachtern sorgt auch das Benehmen vieler touristischer Gäste in der riesigen, staatlichen Eisdiele "Coppelia". Eine Eisdiele, in der die Kunden in Schichten "abgefertigt" werden und dafür bis zu zweieinhalb Stunden in Warteschlangen anstehen. Immer wieder habe ich, selbst geduldig anstehend, erlebt, dass ausländische Touristen an den Schlangen vorbeilaufen und sich dreist hinsetzen, um ohne Verzögerung ihr Eis zu bestellen. Für empörte Rufe der wartenden Kubanerinnen und Kubaner ernten diese sogar oftmals hämisches Grinsen. Welcher Gedanke könnte hinter so einem Verhalten stecken? Das Einhalten von Reihenfolgen in Warteschlangen wird eigentlich schon in den ersten Lebensjahren an der Schaukel gelernt, verstanden und verinnerlicht. Von einer akuten, krankheitsrelevanten Unterzuckerung kann in der Regel sicher auch nicht ausgegangen werden. Denken jene ausländischen Eis-Esser, die kubanische Bevölkerung würde aus Spaß oder Langeweile so lange in der karibischen Sonne anstehen? Haben sie in ihren Reiseführern von der stark ausgeprägten kubanischen Gastfreundschaft gelesen und fordern diese nun in der Eisdiele ein? Oder sind es sogar noch absurdere Beweggründe, wie zum Beispiel das Pseudoargument, dass man nur zwei bis drei Wochen auf Kuba verbringen würde und schlichtweg keine Zeit habe, so lange anzustehen?

Restaurierte Straßenkreuzer in Havanna

Restaurierte Straßenkreuzer in Havanna
Foto: Pedro Szekely / flickr.com / CC BY-SA 2.0

Behördengänge gehören auf Kuba, wie überall, nicht zu den beliebtesten Beschäftigungen. Zugegeben, es dauert wirklich lange und auch ich ertappe mich dabei, während des Wartens etliche Ideen zur Optimierung zu entwickeln. Auch in diesen Situationen fallen mir ausländische Touristen und meine sogenannten "Landsleute" negativ auf, die scheinbar der Meinung sind, aufgrund ihrer Unlust zu warten, bevorzugt werden zu müssen. Die Reihenfolge der Wartenden wird von den Einheimischen und allen weiteren respektvollen Menschen auf Kuba akribisch eingehalten. Mit der einfachen und freundlich formulierten Frage "¿último?" wird festgestellt, wer zum Zeitpunkt des eigenen Eintreffens die letzte wartende Person ist, und sich entsprechend eingereiht. Nicht nur, dass viele ausländische Wartende das kubanische System des Schlange Stehens nicht respektieren, sie stürmen beim Aufruf "¡próximo!" sogar mit dem Reisepass in der Hand an Schwangeren, Gehbehinderten, Müttern mit kleinen Kindern auf dem Schoß und betagten Senioren vorbei.

Kuba ist auf die Einnahmen des Tourismussektors angewiesen. Kuba braucht ausländische Reisende. Auch reine "Kuba-Erleber". Aber berechtigt das die Gäste, die Kultur Kubas und die Menschen zu missachten, zu ignorieren oder zu verhöhnen?

Wer Kuba nicht über das Proyecto Tamara Bunke, organisierte Bildungsreisen oder Brigaden kennen lernen kann oder möchte, sondern als reiner Tourist kommt, kann und muss sein Verhalten dennoch reflektieren – genauso, wie auch wir es immer wieder, auch gemeinsam, tun. Dass auch wir, als durchaus sensibilisierte, kubasolidarische Studierende, sicher auch hin und wieder ungünstige Verhaltensweisen zeigen, liegt in der Fehlbarkeit des Menschen. Das ist auch den Kubanerinnen und Kubanern bekannt, die uns zwar teilweise auf Fehltritte hinweisen, uns diese aber nie wirklich übel nehmen. Respekt und angemessenes Verhalten gegenüber einer anderen Kultur ist ein stetiger Lern- beziehungsweise Reflexionsprozess. Dass dieser bei den Protagonisten der zuvor genannten Beispiele überhaupt jemals begonnen hat, darf in Zweifel gezogen werden.

CUBA LIBRE Richard Grimm

CUBA LIBRE 4-2019