Diskussion

Regelmäßig veröffentlichen wir in Cuba Libre Beiträge zur Diskussion um die sozio-ökonomischen Reformen auf Kuba. Die Lektüre dieser Texte kann für das deutschsprachige Publikum manchmal überraschend, manchmal sogar irritierend sein. In jedem Fall können wir feststellen, dass wir von dem, was derzeit in Kuba geschieht, verhältnismäßig wenig mitbekommen.

In dieser Ausgabe bringen wir einen Artikel von Javier Gómez Sánchez. Der Autor ist ein kubanischer Film- und Fernsehregisseur und Dekan der Medienfakultät der Kunsthochschule Instituto Superior de Arte in Havanna. Sein Artikel wurde am 10. November 2023 auf dem Blog telegraph veröffentlicht (https://telegra.ph/Un-art%C3%ADculo-premonitorio-11–11).

Wir konnten als Redaktion der Cuba Libre nicht sämtliche im Artikel gemachten Aussagen nachprüfen. Dennoch möchten wir abbilden, dass die Maßnahmen zur Zulassung privatwirtschaftlicher Elemente der letzten Jahre auf der Insel von intensiven und heftigen Debatten begleitet werden. Auch das gehört zu einer Bewertung der Veränderungen innerhalb der Kubanischen Revolution dazu.


Was können wir tun – zerstören oder kämpfen?

Ein Artikel mit Weitblick

Vor dreieinhalb Jahren, im Mai 2020, wurde in der Zeitung Granma ein Artikel von Carlos Luque Zayas Bazán mit dem Titel "La ‚bondad‘ neoliberal de los entusiastas consejeros" (Die neoliberale "Güte" der begeisterten Berater) veröffentlicht. Wir befanden uns mitten in der COVID-Pandemie, wir wussten noch nicht, wann wir aus dieser herauskommen würden, und wir konnten uns auch nicht vorstellen, wie weit uns die Wirtschaftskrise nach der Pandemie mitspielen würde. Die "Mipymes" (KMUs, d. Red.) waren noch nicht zugelassen, und erst recht hatten sie die alten staatlichen Geschäfte, die sich in der öffentlichen Meinung durch Misshandlung und Korruption auszeichneten, noch nicht beinahe vollständig ersetzt; das kleine Wort "Mipymes" – als Teil einer sprachlichen Ressourcenoperation, die gerade erst begann und später auf "Unternehmer", "Entwicklung", "Innovation" ausgedehnt werden sollte – tauchte auf wie ein Zauberstab, wie die (erzwungene?) Lösung für alle unsere Probleme.

Joe Biden war noch nicht Präsident der Vereinigten Staaten, und in der Ukraine war der Krieg noch nicht ausgebrochen. Die Unruhen vom 11. Juli 2021 hatten sich in Kuba noch nicht ereignet, noch nicht einmal die Ereignisse vom 27. November 2020. Es waren noch nicht Hunderttausende von Kubanern an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze angekommen. Es war noch nicht zu einer Privatisierung der neuen Art gekommen, bei der nicht die Infrastruktur privatisiert wird, sondern das Management, das Geschäft und die Gewinne. Es war noch niemand auf die Idee gekommen, den Unsinn des "sozialistischen Privatunternehmens" zu verbreiten und auch niemand, dem Beifall zu spenden. Kommerzielle Werbung wurde in denselben staatlichen Medien noch nicht als unverzichtbar für ein modernes Land angesehen, in denen vor Jahren die Reden Fidels live übertragen worden waren. Wir hatten noch nicht entdeckt, dass die Dialektik, wie sie von den marxistischen Theoretikern vorgeschlagen wurde, auch zur Auslöschung des Marxismus eingesetzt werden kann. Es gab keine Foren von Geschäftsleuten mit der Unterstützung freundlicher ausländischer oder inoffizieller kubanischer Stellen, noch gab es Versammlungen fröhlicher junger Kapitalisten noch welche von fröhlichen kapitalistischen Jugendlichen. Damals freuten wir uns, fünf Impfkandidaten zu haben, ohne zu ahnen, wie sehr sich der kubanische Sozialismus in den folgenden Jahren zurückentwickeln würde und inwieweit die Pandemie als "Schockdoktrin" für die vom Autor erwähnte "schöpferische Zerstörung" der Staatswirtschaft fungieren würde.

Der Artikel ließ die Gefahren all dessen erahnen, was wir seitdem erlebt haben. Als er veröffentlicht wurde, war die Reaktion heftig. Alle Übergänge zum Kapitalismus brauchen eine intellektuelle Front, um die notwendige subjektive Unterstützung für die ideologische Abkehr vom Sozialismus und die kulturelle Akzeptanz des Kapitalismus zu schaffen, die als solche das Ziel von Kriegen und Kulturkolonialismen ist. Die US-Regierung hat zusammen mit dem Versuch, eine regierungsfeindliche kubanische Zivilgesellschaft aufzubauen (was ihr nicht vollständig gelang), in Kuba eine organische Intelligenz für den Übergang zum Kapitalismus aufgebaut. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hat sie mit Hilfe einer auf Gramsci basierenden Strategie Gruppen von Individuen und Bereiche der Intelligenz, der Wissenschaft und des wirtschaftlichen Denkens in unserem Land unterwandert und für sich gewonnen. Der hybride Krieg gegen Kuba besteht darin, die wirtschaftliche Erdrosselung aufrechtzuerhalten und zu verschärfen (mit Perioden scheinbarer Entspannung wie bei Obama als Teil dieser Strategie) und darauf zu warten – wie Milton Friedman erklärte –, dass die Bedingungen dazu führen, dass die zuvor nicht akzeptierten Ideen als unvermeidlich angesehen werden. Das natürlich in unserer tropischen Version, begleitet von dem "Stellt euch vor" und dem "Was können wir sonst tun?

Plakat "Unsere Pflicht ist es, zu kämpfen"

"Unsere Pflicht ist es, zu kämpfen"
Eladio Rivadulla veröffentlicht am frühen Morgen des 1. Januar 1959 das erste Plakat der Kubanischen Revolution mit dem Bild des Guerrillero Fidel Castro.


Das Jahr 2020 war noch ein Zwischenstadium zwischen dem Moment, in dem Instrumente der Einflussnahme auf die kubanische Intelligenz, wie das "Ideenlabor" Cuba Posible (2014–2019), ein Verlagsprojekt, das während der Ära Obamas mit der Finanzierung der Open Society funktionierte, ihre Aufgabe erfüllt hatten und nicht mehr notwendig waren, weil danach dieselben Räume der kubanischen institutionellen Presse und ihre Autoren die Übergangssprache, die ihnen eingeimpft worden war, als etwas Natürliches annahmen und ansahen. Zu dem damaligen Moment wurden auf den Artikel, die ihn veröffentlichenden Medien und seinen Autor alle Kräfte geworfen, die im kubanischen Orbit als kapitalistischer intellektueller Verteidigungsmechanismus vorgesehen waren, um jeden Versuch eines sozialistischen intellektuellen Widerstands anzugreifen und zu neutralisieren: Beleidigungen, Artikel, Veröffentlichungen in Sozialen Netzwerken. Alle Medien der Konterrevolution, von denen der Sozialdemokratie bis zu denen der offensten und aggressivsten, von den gröbsten bis zu den theoretischsten, einschließlich der "Kubanologen", schlossen sich zusammen, um den zu vernichten, der dies gewagt hatte. Dies mit der Absicht, einen lähmenden Terror zu verbreiten.

Der Autor veröffentlichte anschließend keine weiteren Beiträge mehr, Granma griff das Thema nie wieder auf, und niemand sonst besaß die Kühnheit, den Versuch zu unternehmen, einen kritischen Gedanken darüber zu formulieren.


Heute können wir den Text nicht unter den strafenden Angriffen der damaligen Zeit, sondern im Lichte dessen lesen, was in den letzten Jahren geschehen ist. Und vor allem in dem Bewusstsein, dass es in Kuba dringend eine antikapitalistische Intelligenz braucht. Wie Fidel, der nie aufhörte zu denken, sagte, als sein Alter und seine Gesundheit es ihm erlaubten zu schreiben: "Unsere Pflicht ist es, zu kämpfen". Mit diesem Aufruf haben wir von der realen Möglichkeit eines Übergangs zum Kapitalismus und dem allmählichen Verlust des realen Ausdrucks des Sozialismus zu sprechen, in einem kubanischen, nationalen und alltäglichen Szenario, für dessen Bevölkerung der Kapitalismus etwas immer Konkreteres und der Sozialismus etwas immer Abstrakteres ist. Der Kapitalismus ist nie ohne Intellektuelle ausgekommen und kein Sozialismus hat je ohne sie überlebt.

CUBA LIBRE
Einleitung und Übersetzung: Tobias Kriele
Javier Gómez Sánches

CUBA LIBRE 1-2024